Verschriftlichung und ihre strukturalen Konsequenzen


Term Paper, 2005

13 Pages, Grade: 1,0


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Inhaltsverzeichnis

1. Vorbemerkung: Autonomie- und Dependenztheorie im Widerstreit

2. Die Flüchtigkeit sprachlichen Handelns und ihre Überwindung durch Vertextung

3. Verschriftlichung und ihre strukturalen Konsequenzen
3.1 Die Dissoziierung von Produzenten und Rezipienten als konstituierendes Merkmal schriftlicher Kommunikation
3.2 Verschriftlichung und ihre strukturalen Konsequenzen
3.2.1 Expeditive Prozeduren
3.2.2 Deiktische Prozeduren
3.2.3 Nennende Prozeduren
3.2.4 Operative Prozeduren
3.2.5 Malende Prozeduren

4. Fazit und Ausblick: Die Expansion technisch gestützter Schriftlichkeit als Relevanzverlust strukturaler Unterschiede

5. Literaturverzeichnis

1. Vorbemerkung: Autonomie- und Dependenztheorie im Widerstreit

„Mündliche Kommunikation ist sowohl ontogenetisch wie phylogenetisch als auch in der alltäglichen Erfahrungswelt der meisten Menschen die grundlegende Form des Sprachgebrauchs.“ (Schoenthal 2000: 460)

Diese Einschätzung von Gisela Schoenthal im Metzler Lexikon Sprache (2000) scheint auf den ersten Blick stichhaltig und einleuchtend: Gesprochene Sprache gilt als eine anthropologische Univeralie und mag als gattungskostituierendes Merkmal des Menschen gewertet werden. Die gesprochene Sprache sei in allen Gesellschaften und zu allen Zeiten das zentrale Mittel menschlicher Interaktion. Sie scheine nicht nur älter als die Schrift zu sein, auch in der individuellen menschlichen Entwicklung gehe der Spracherwerb dem Schriftspracherwerb im Normalfall voraus[1]. Der Lexikoneintrag erweist sich allerdings problematisch, wenn man seine Kehrseite und die daraus resultierenden Implikationen betrachtet. Wenn gesprochene Sprache einen primären und unmittelbaren Stellenwert besitzt, wie ist dann geschriebene Sprache einzuschätzen? Besitzt sie eine – in Relation zur gesprochenen Sprache – sekundäre Bedeutung? Ist sie gar abhängig von gesprochener Sprache und somit von geringerem sprachwissenschaftlichem Interesse?

Beschäftigt man sich mit Strukturen schriftlicher Kommunikation sind diese Fragen von fundamentaler Bedeutung, da sie den Forschungsgegenstand a priori perspektivieren und einen problemorientierten Blick erschweren. Daher erscheint es ratsam, zunächst einen Blick auf den Forschungsstreit zwischen Autonomie- und Dependenztheoretikern zu werfen. Erst im Anschluss daran ist es möglich, eine differenzierte Analyse der spezifischen Strukturen von Schriftlichkeit zu skizzieren.

Elisabeth Feldbusch stellt in ihrer Monographie „Geschriebene Sprache“ (1985) das Verhältnis von gesprochener und geschriebener Sprache aus einer forschungsgeschichtlichen Perspektive dar. So habe die Sprachwissenschaft bereits seit der Antike die Dominanz der gesprochenen Sprache gegenüber der geschriebenen Sprache betont. Die Schrift bilde die akustischen Signale mündlicher Kommunikation lediglich ab („Abbilddogma“), sie habe keinen direkten Bezug zum Gemeinten und fungiere als Übertragungssystem zur Überwindung raum-zeitlicher Distanzen. Feldbusch setzt dem entgegen, man müsse „das Geschriebene wie auch das Gesprochene als jeweils eine in System und Funktion eigenständige Existenzform der Sprache“ (1985: 65) begreifen. Christa Dürscheid kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: Die neuere linguistische Forschung versuche, „beide Existenzformen von Sprache methodisch differenziert zu behandeln“ (2004: S. 43-44). Gerade die beiden jungen sprachwissenschaftlichen Disziplinen Gesprächsanalyse und Textlinguistik könnten durch unterschiedliches methodisches Werkzeug beide Sprachebenen in ihrer jeweiligen Eigenart betrachten, ohne eine theoretische Dominanz oder Isolation vorwegzunehmen.

In der folgenden Darstellung der Strukturen und Funktionen schriftlicher Kommunikation möchte ich eine vermittelnde Position zwischen Dependenz- und Autonomiehypothese einnehmen. Bei der Überführung gesprochener Sprache in geschrieben Sprache gibt es weitreichende Konsequenzen für unterschiedliche strukturale Teilbereiche der Sprechhandlung. Um diese Konsequenzen angemessen darstellen und diskutieren zu könne, ist man darauf angewiesen, konstituierende Merkmale beider Sprachformen gegenüberzustellen. Es ist daher unvermeidbar, Argumente für und gegen die Eigenständigkeit bzw. Abhängigkeit zu beleuchten. Um die Analyse nicht bereits während der Argumentation unnötig zu überfrachten, konzentriere ich mich zunächst auf prototypische Merkmale gesprochener und geschriebener Sprache. In Einzelfällen gehe ich auf randständige, ‚nicht-prototypische’ kommunikative Mischformen ein.

2. Die Flüchtigkeit sprachlichen Handelns und ihre Überwindung durch Vertextung

Das prototypische Merkmal mündlicher Kommunikation ist ihre Flüchtigkeit (Ehlich 1994: S. 18). Seit der Entwicklung technischer Möglichkeiten zur Konservierung gesprochener Sprache kann dieser Hinweis nur eingeschränkt gelten. Oftmals werden Tonband- oder Videoaufnahmen als Gegenbeweis angeführt. Im Hinblick auf die moderne audio-visuelle Speicherung von Sprechsituation differenziert Günther zurecht, Mündlichkeit sei zwar „rückholbar“ (1983: 32), dies ändere allerdings nichts an der Tatsache, dass auch ihr reproduzierter ‚Klon’ in seiner Wiederholung prinzipiell flüchtig sei. Eine getätigte Sprechhandlung ist folglich ein einmaliges Ereignis, welches mit all ihren sie konstituierenden Faktoren (Gesprächssituation, Gesprächsteilnehmer, Informationsgehalt, nonverbale Elemente wie Prosodie, Intonation, Gestik, Mimik) das raum-zeitliche Wahrnehmungsfeld der Interaktanten nicht überschreiten kann. Ihre Flüchtigkeit macht gesprochene Sprache zugleich effizient, sobald es darum geht, den alltäglichen face-to-face -Informationsaustausch zu gestalten: Sprecher- und Hörerrolle können jederzeit gewechselt werden, die dialogische Struktur einer prototypischen Gesprächssituation ermöglicht es den Interaktanten, jederzeit in die Sprechhandlung des anderen einzugreifen. Auf diese Weise werden gemeinsam verstehens-gefährdete Elemente bearbeitet und entschärft. Zusätzlich können die Teilnehmer durch deiktische Prozeduren sich dem gemeinsam zur Verfügung stehenden Wahrnehmungsfeld bedienen.

Diese rudimentäre Charakteristik mündlicher Kommunikationsformen erhebt bei weitem keinen Anspruch auf Vollständigkeit, kann jedoch als Sprungbrett dienen, um verschiedene Mechanismen der Vertextung mündlicher Kommunikation zu kennzeichnen. Denn in vielen Teilbereichen menschlicher Kommunikation gerät gesprochene Sprache an ihre Leistungsgrenze. Ohne ‚Werkzeuge’ kann die Flüchtigkeit nur durch die mnemotechnischen Kapazitäten der Interaktanten überwunden werden. Ab einer bestimmten Datenmenge bildet die individuelle Gedächtnisleistung der Kommunikationspartner keine ausreichende Zuverlässigkeit mehr. Prä-literale Kulturen nutzen daher unterschiedliche Vertextungsmechanismen: Versmaß, Reim oder Melodie können als Gedächtnisstützen angesehen werden, die die Anforderungen an die Erinnerungsleistung entlasten (Vgl. Schoenthal 2000: 460). Formelhafte Wiederholungen ermöglichen es auf diese Weise, Informationen zu speichern und weiterzugeben. Gedichte oder Lieder sind somit Garanten zur Sicherung eines kollektiven Wissens und in der Lage, Tradition zu bewerkstelligen. Das Auswendiglernen von Kommunikationsinhalten besitzt allerdings nicht nur diesen sozialen Charakter. Das prä-literale „Institut des Boten“ (Ehlich 1994: 20) individualisiert diese Vertextungsstrategie: Die räumliche Distanz zwischen Sprecher und Hörer wird überbrückt durch die Vermittlung einer dritten ‚Gesprächsinstanz’, die die Informationen des Sprechers memoriert und in der Folge selbst in die Sprecherrolle gerät. Als weitere Steigerung der individuellen Gedächtnisleistung kann die artifizielle Wiederholung der originalen Sprechsituation gelten, deren wichtigste Ausprägung im Bereich religiöser Praktiken zu finden ist.

Vorerst lässt sich festhalten: Die Flüchtigkeit der gesprochenen Sprache kann zu einem gesellschaftlichen Problem werden, sobald der Bedarf nach Kontinuität steigt. Die Vertextung in all ihren mündlichen Ausprägungen ist dabei prominentes Mittel, um Kommunikationsinhalte zu verdauern. Sie ist allerdings abhängig von den mnemotechnischen Fähigkeiten der beteiligten Interaktanten und mitunter anfällig für Störungen.

[...]


[1] Dies gilt für den Erwerb der Gebärdensprache nicht.

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Details

Title
Verschriftlichung und ihre strukturalen Konsequenzen
College
University of Münster  (Germanistisches Institut)
Course
Schriftlichkeit und Mündlichkeit.
Grade
1,0
Author
Year
2005
Pages
13
Catalog Number
V45073
ISBN (eBook)
9783638425452
File size
494 KB
Language
German
Keywords
Verschriftlichung, Konsequenzen, Schriftlichkeit, Mündlichkeit
Quote paper
Michael Bee (Author), 2005, Verschriftlichung und ihre strukturalen Konsequenzen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/45073

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