Konstruktivistische Anthropologie und das pädagogische Problem der Verantwortung


Diplomarbeit, 2005

113 Seiten, Note: Sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I Konstruktivistische Anthropologie
1 Systemtheorie
1.1 Allgemeine Systemtheorie
1.2 Prozess und Muster
1.3 Autopoietische Systeme
1.4 Struktur und struktureller Wandel
1.5 Selbstreferenz und Kontingenz
2 Kybernetische Epistemologie – Theorie des Wissenserwerbs
2.1 Was ist Kybernetik?
2.2 Die Erfindung der Wirklichkeit
2.3 Die Konstruktion von Ordnung
2.4 Rekursives Errechnen der Wirklichkeit
3 Der Beobachter
4 Radikaler Konstruktivismus vs. Naiver Realismus
5 Objektivität und Wissenschaft
6 Viabilität und Verantwortung

II Soziale Konstruktionen
1 Das Problem des Solipsismus
2 Radikal- konstruktivistische Sozialtheorie
2.1 Das Verhältnis von Biologie und Sozialität
2.2 Interaktionsprozesse lebender Systeme
2.3 Soziale Systeme, Kultur und Sprache
3 Zusammenfassung

III Linear- Kausales Denken als Grundlage der Wissenschaft
1 Zum Begriff der Trivialisierung
1.1 Prämissen der Naturwissenschaft 1
1.2 Prämissen der Naturwissenschaft 2
1.3 Triviale und Nicht- triviale Maschinen
2 Das Paradigma der Psychologie
2.1 Der Begriff des Paradigmas
2.2 Das Postulat der Zweckfreiheit
2.3 Methodischer Monismus
3 Die empirischen Methoden
3.1 Das Induktionsverfahren
3.2 Das Deduktionsverfahren
3.3 Zum Problem der Kausalität
4 Pädagogik und Psychologie
5 Konstruktivismus und personale Erziehung

IV Theorie und Praxis pädagogischer Verantwortung
1 Theorie der Verantwortung
1.1 Der Begriff Verantwortung
1.2 Die Frage nach der Freiheit des Willens
1.3 Die existenzielle Dimension (pädagogischer) Verantwortung
1.4 Die soziale Dimension (pädagogischer) Verantwortung
2 Praxis pädagogischer Verantwortung
2.1 Dimensionen pädagogischer Verantwortung
2.2 Diskursive Verantwortungsethik als pädagogisches Etho
2.3 Diagnostische Verantwortung
2.4 Systemtheorie und Erziehung

V Schlusswort

VI Literaturverzeichnis

Einleitung

Die vorliegende Diplomarbeit hat die Erörterung der konstruktivistischen Anthropologie und ihrer Konsequenzen für Verantwortung in Erziehung und Pädagogik zum Thema. Anthropologische Studien sind die Grundlage jeder pädagogischen Ausbildung, da hier Antworten gesucht werden auf die Frage nach dem Menschen, was er ist und was er - durch Erziehung - werden soll. Jede praktische Erziehungstätigkeit baut auf einem impliziten Menschenbild auf, sie sollte dieses aber im Rahmen wissenschaftlicher Pädagogik auch explizit formulieren können. Nur durch die Aufklärung ihrer Bedingungen können Methoden und Ziele der Pädagogik als gerechtfertigt erscheinen. Nun ist es keineswegs so, dass die wissenschaftliche Anthropologie eine eindeutige Antwort geben würde auf das, was das Wesen des Menschen ist- obwohl ‚eindeutige Antworten’ ja das Ziel jeder Wissenschaft sind. Die Beschreibung des menschlichen Wesens wird offensichtlich grundsätzlich getrübt von einer gewissen Unschärfe , die dazu führt, dass der real existierende Mensch, der beschrieben werden soll, immer anders zu sein scheint, als es die Theorie behauptet.

Wie BÖHM (2004) in seiner „Geschichte der Pädagogik“ zeigt, kann man drei fundamentale Hauptströmungen der pädagogischen Anthropologie unterscheiden:

zum einen die naturalistische Strömung, die ihr Hauptaugenmerk auf das genetische Erbe und die Anlagen des Menschen richtet, denen bei der Bestimmung des Menschen der absolute Vorrang eingeräumt wird: das Kind enthält, wie ein Samenkorn, einen Bauplan, der sich entlang einer unveränderlichen Bahn entfaltet. Das Kind soll nicht durch Erziehung einer ihm äußerlichen, gesellschaftlichen Ordnung zwanghaft unterworfen werden; lässt man es nur in Ruhe sich entwickeln, so wird es sich schon von selbst zum Guten wenden. Dieser naturoptimistische Ansatz basiert auf einer linearen Vorstellung von „Entwicklung“, die unabhängig von Umweltbedingungen nach inneren Gesetzen vor sich gehen soll.

Dem steht die soziologische Strömung als naturpessimistische Variante gegenüber. Sie ist vor allem mit dem Namen Emile DURKHEIM verbunden und sieht den funktionalen Zweck der Erziehung darin, das „wilde Kind“ zu einem gesellschaftsfähigen Wesen zu machen, das schließlich (als Ziel der Erziehung) die moralischen Gebote des Kollektivbewusstsein internalisiert haben muss. Als dritte Perspektive gilt die personalistische Strömung in der Pädagogik, die sich vor einer Absolutsetzung wie vor einer Mischung der naturalistischen und der soziologischen Betrachtungsweise des Menschen verwahrt. Zwar bestätigen ihre Vertreter in der einen oder anderen Weise die

Relevanz der Einflussfaktoren Natur und Gesellschaft als Bedingungen menschlicher Existenz, gleichwohl lehnen sie ihre Absolutsetzung als eine unbestätigte Geltungsbehauptung der positivistischen Naturwissenschaften ab und sprechen dagegen der Aktivität des ICH die Bedeutung eines begründenden Prinzips zu, das mit dem Begriff der PERSON bezeichnet wird. Der Mensch als PERSON ist ein ‚ Jemand’ und hat im Unterscheid zu ‚ etwas’ einen freien Willen und bestimmt sich selbst. (s. dazu SPAEMANN 1998).

Dieser personalistische Grundgedanke wird in modernen Theorien der Person nicht (mehr) transzendental begründet, sondern hat seinen Ursprung in der konkreten inneren Selbsterfahrung des Menschen. Die PERSON ist weder zu verwechseln mit dem biologischen Individuum noch mit einem gesellschaftlichen Rollenspieler; sie ist vielmehr innere Ordnung des Menschen und Integration aller seiner Dimensionen: sie konstituiert sich in der vierfachen Erfahrung als Ich (Innerlichkeit), als Du (Sozialität), als erkennend (Theorie) und als handelnd (Praxis) (vgl. dazu FLORES D’ARCAIS 1987, Kap. I u. II).

Vielfältig sind also die anthropologischen Ansätze und es mag den einen oder anderen durchaus verwirren, dass sich die Vorstellungen vom Menschen so grundsätzlich unterscheiden und widersprechen. Es kann im Rahmen dieser Arbeit keine Ausführung über die diversen anthropologischen Theorien gegeben werden, die prinzipiell von pädagogischer Relevanz wären; es sei aber angemerkt, dass Erziehung nur dann sinnvoll und gerechtfertigt ist, wenn der Mensch als „erziehungsbedürftig“ und auch „erziehungsfähig“ beschrieben werden kann. All jene Beiträge, die das Wesen des Menschen in seinen natürlichen Erbanlagen eingeschrieben vermuten oder sein Dasein in der Welt von seinen soziokulturellen Bedingungen determiniert glauben, würden Erziehung und Pädagogik als das Nachdenken über Erziehung und Bildung überflüssig machen. Erziehung könnte dann gleichwohl als zurückhaltender Beistand bei der Entfaltung der im Individuum angelegten Fähigkeiten, d.h. als Wachstum und Entwicklung (naturalistische Variante) oder als gleichsam zwangsläufige Sozialisation durch die Gemeinschaft (soziologische Variante) bezeichnet werden. Beides bedeutet Fremdbestimmung des Menschen - entweder durch die Natur oder die Gesellschaft - und beides ist nicht das, was „Erziehung“ eigentlich meint. Die genuin pädagogische Frage nach dem Wesen des Menschen, die als Frage in dieser Arbeit an den radikalen Konstruktivismus gerichtet werden wird, ist die Frage nach der Möglichkeit der Bildung des Menschen als seiner eigenen, aktiven Selbstgestaltung. Erziehung meint

in diesem Falle all jene Maßnahmen und Prozesse, die den Menschen zur aktiven Selbstgestaltung hinführen (Erziehung kann also sowohl als äußere Einwirkung wie auch als Selbsterziehung des Menschen beschrieben werden).

Bildung des Menschen“ als Grundbegriff der deutschen Pädagogik bedeutet die selbstbestimmte Gestaltung des Daseins der PERSON durch eine reflexive Folge von Handlungen, in der jede einzelne Handlung von der Summe vorausgegangener Handlungen beeinflusst wird und ihrerseits die zukünftigen Handlungen beeinflusst. Der Begriff „Bildung“ steht also in ausdrücklichem Zusammenhang mit der o. g. dritten Strömung in der Pädagogik, er meint die Bildung der PERSON.

Die eigentliche Tat der PERSON besteht darin, zwischen den gesellschaftlichen Ansprüchen und den individuellen Bedürfnissen in einer konkreten Situation zu vermitteln und zu entscheiden. Dieses Verständnis des menschlichen Handelns als PRAXIS ist unabwendbar bezogen auf ethische Maßstäbe. Aufgrund dieser existentiellen Aufgabe des Menschen zur Vermittlung diverser Ansprüche und Bedingungen bedeutet „Bildung“ daher auch Entscheidungsfähigkeit und Verantwortungsfähigkeit des Menschen in der sozialen Dimension (zum Bildungsbegriff vgl. BÖHM 2000).

Die Aufgabe dieser Arbeit ist es, zu untersuchen, welches Menschenbild die sogenannten radikalen Konstruktivisten entwerfen und in welche der drei allgemeinen anthropologischen Modelle dieses einzuordnen ist - in die naturalistische, die soziologische oder in die personalistische Strömung. Es wird zu prüfen sein, ob und inwiefern der Begriff „Bildung“, der aus dem humanistischen Menschenbild der Aufklärung hervorging und die PERSON des Menschen als selbstbestimmt handelndes, verantwortliches Wesen auffasst, im Rahmen eines konstruktivistischen Menschenbildes neu belebt werden kann.

Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass sich diese Arbeit ausschließlich mit den anthropologischen Grundlagen der radikalen Konstruktivisten Ernst VON GLASERSFELD, Heinz VON FOERSTER, Humberto MATURANA und Francisco VARELA sowie deren theoretischen Vorläufern Ludwig VON BERTALANFFY und Gregory BATESON auseinandersetzt, sowie mit Autoren, die direkt auf diese Bezug

nehmen wie z. B. Paul WATZLAWICK und Siegfried J. SCHMIDT.

Es kann hier nicht auf Konstruktivismusvarianten wie z. B. den Erlanger Konstruktivismus von KAMLAH/ LORENZEN, den Sozialkonstruktivismus von BERGER/ LUCKMANN, den systemtheoretischen Konstruktivismus der Soziologie von LUHMANN oder andere eingegangen, die zwar alle durch das Prinzip geeint werden, dass menschliches Wissen nicht passiv empfangen, sondern aktiv aufgebaut wird, die sich aber in ihren detaillierten Ausführungen z. T. erheblich unterscheiden (vgl. für einen Überblick der Konstruktivismusvarianten DIESBERGEN 1998, 161ff). Zum einen musste eine Auswahl an Autoren in dieser Arbeit schon aus Dimensionsgründen erfolgen, zum anderen erscheint das radikal- konstruktivistische Welt- und Menschenbild für das von mir verfolgte Ziel als hinreichend, da hier die Konstruktion von Wissen ausdrücklich als Aktivität des Individuums beschrieben wird.

Die Untersuchung dieses Themas wurde deshalb vorgenommen, weil die noch vermeintlich jungen (ca. 50 Jahre alten) konstruktivistischen Denkansätze in der pädagogischen Theorie eine immer größere Rolle spielen, da sie als didaktische Grundlage für Unterricht in einer pluralistischen und multikulturellen Welt hervorragend geeignet erscheinen. Ebenso ist der Konstruktivismus für die sonderpädagogische Arbeit mit behinderten Menschen eine willkommene Möglichkeit, um den erzieherischen Respekt vor individuellen Wirklichkeitskonstruktionen und so Toleranz und Gleichberechtigung im gesellschaftlichen Zusammenleben zu fördern. Allerdings ist die Kritik am Konstruktivismus ebenfalls nicht zu überhören: seine Verwandtschaft zu postmodernen Denkern der Dekonstruktion (z. B. NIETZSCHE, WITTGENSTEIN, DERRIDA) zerstöre den abendländischen Subjekt- und Bildungsbegriff, die gesellschaftlichen Moralvorstellungen würden als bloße ‚Sprachspiele’ entlarvt und zunichte gemacht und die wissenschaftliche Reflexion auf ethisch- normative Orientierung der Erziehungspraxis verunmöglicht (zur Kritik am Konstruktivismus in der Pädagogik s. DIESBERGEN 1998).

Die naturwissenschaftlichen Grundlagen des Konstruktivismus führten darüber hinaus, so die Kritik, zu einer Bekräftigung der Determinationslehre des Menschen und gefährdeten die Freiheit des Menschen, der schließlich in seinen eigenen illusorischen Wirklichkeitsvorstellungen gefangen bleibe. Kurz gesagt: ethisch- moralische Aspekte des menschlichen Zusammenlebens scheinen nicht mehr (wissenschaftlich) begründbar zu sein, die Verantwortung des Menschen für sein Handeln verliere ihre Bezugspunkte und der radikale Konstruktivismus steuere die Menschheit daher in den totalen Relativismus. Die Überprüfung der Stichhaltigkeit dieser Argumentation gegen den radikalen Konstruktivismus ist eines der Ziele der vorliegenden Arbeit.

Damit soll auch einschränkend gesagt sein, dass diese Arbeit weder im vollen Umfang auf jene Autoren eingehen wird, die sich mit der systemisch- konstruktivistischen Organisation von Didaktik und Unterricht auseinandersetzen (vgl. KÖSEL 1993, REICH 1997, HUSCHKE- RHEIN 1998) noch auf jene, die den konstruktivistischen Ansatz im Detail zu widerlegen versuchen (z. B. GIRGENSOHN- MARCHAND 1992).

Es geht hier also primär um die Beleuchtung der radikal- konstruktivistischen Aussagen zur anthropologischen Verantwortung des Menschen und inwiefern diese für die Pädagogik nutzbringend sein können.

Der Aufbau der Arbeit gliedert sich in vier Hauptteile. In Kapitel I wird die radikal- konstruktivistische Anthropologie ausführlich erläutert; dabei wird zuerst die Systemtheorie vorgestellt, die für jeden konstruktivistischen Ansatz grundlegend ist und die das Verständnis der kybernetischen Epistemologie nach Heinz VON FOERSTER vorbereiten soll. Sodann werden weitere Aspekte zum Menschenbild des Konstruktivismus ausgeführt, die sich auf die vorangegangenen Punkte beziehen: die Beobachtertheorie, das radikal- konstruktivistische Wissenschaftsverständnis in Abgrenzung zu einem naiven Realismus und das Konzept der Viabilität.

Die Ergebnisse werden in Kapitel II erweitert, indem der Einfluss der Gesellschaft bei der individuellen Konstruktion von Wirklichkeit hervorgehoben wird, wobei hier zuerst der Vorwurf des Solipsismus bearbeitet wird, um danach das Verhältnis von biologischem Individuum und Sozialität zu klären. Hier wird deutlich werden, dass Sprache und Kommunikation als Bindglied zwischen Individuen einen neuen Existenzbereich des Menschen sui generis erzeugen, den man als Wirklichkeit 2. Ordnung (WATZLAWICK) oder als Kultur bezeichnen kann. Diese erweitert die Existenz- und Anpassungsmöglichkeiten des Menschen und kann deshalb auf biologische Grundlagen zurückgeführt werden. In Kapitel III nähern wir uns dem radikal- konstruktivistischen Menschenbild über einen Umweg: durch die Kritik an deterministisch angelegten naturwissenschaftlichen Aussagen über das Wesen des Menschen soll auf der Grundlage der kybernetischen Epistemologie und der Beobachtertheorie gezeigt werden, dass auch die vermeintlich ‚harten Naturwissenschaften’ auf sprachlich erzeugten Wirklichkeitskonstruktionen 2. Ordnung basieren und das „Ding-an-sich“ nicht abbilden können. Wenn dem so ist, dann fallen empirische wie rationale Definitionen des menschlichen Wesens gänzlich zurück auf die relative Ebene einer historisch- konkreten Sprachgemeinschaft, innerhalb derer sie hervorgebracht und akzeptiert werden. Dies erweitert den Verantwortungsbereich des wissenschaftlichen Subjekts, insofern es sich nicht auf ‚Wahrheit’ und ‚absolute Gültigkeit’ wissenschaftlicher Aussagen stützen kann.

Als Quintessenz des radikal- konstruktivistischen Menschenbildes wird daraus gefolgert, dass verantwortliche Pädagogik keine absolut gültige anthropologische Definition formulieren kann. Will sie nicht in ungerechtfertigte Geltungsansprüche gegenüber dem Kind zurückfallen, so kann sie sich und das Kind nur an Möglichkeiten des Mensch- seins orientieren, die das gesellschaftliche Zusammenleben dem Einzelnen als Erweiterung seiner Existenzmöglichkeiten bietet und die in Form von Zielen und Prinzipien im Dialog formuliert werden- die aber gleichwohl niemals durch ein absolutes ‚muss’, sondern immer nur durch ein ‚kann’ festgelegt sind.

Es wird offenbar, dass eine äußerliche Zuschreibung und Festlegung, was irgendein Mensch ist oder was ein bestimmter Mensch sein soll , konstruktivistisch nicht legitimierbar ist.

Der Mensch als das sich selbst bestimmende Wesen, welches mit dem Begriff PERSON bezeichnet wird, ist somit als einziger anthropologischer Ansatz radikal- konstruktivistisch legitimierbar.

Aus dieser Einsicht werden anschließend in Kapitel IV die Konsequenzen bezüglich verantwortlichem Handeln (Praxis) in der Pädagogik gezogen. Nach einer Klärung des Begriffs „ Verantwortung “, der aufgrund seiner Verwurzelung in der sprachlichen Wirklichkeit 2. Ordnung als eine Möglichkeit des Menschen dargestellt wird, wird explizit auf die Frage nach der Willensfreiheit eingegangen, ohne die der Begriff der Verantwortung für menschliches Denken und Handeln unsinnig wäre. Anhand der Ausführungen des Philosophen Peter BIERI wird deutlich gemacht, dass Freiheit des Willens nicht als unbedingte Freiheit denkbar ist, sondern immer abhängt von der subjektiven Erfahrung real existierender Menschen, die denkend Kontrolle über ihren Willen ausüben. Die Freiheit des Willens ist also objektiv weder zu beweisen noch zu widerlegen, noch kann sie verliehen oder entäußert werden; sie ist eine Möglichkeit, die der Mensch selbst realisieren muss. Im Bewusstsein der objektiven Unbestimmtheit und Offenheit seines Wesens und im Angesicht seiner Möglichkeiten erfährt sich der Mensch als existentiell verantwortlich für sich und seine Wirklichkeitskonstruktion, insofern er sich durch die „Entscheidung prinzipiell unentscheidbarer Fragen“ (VON FOERSTER) in jeder Situation selbst bestimmen muss.

Dabei ist die konstruktive Freiheit des Menschen immer bedingt und begrenzt durch die soziale Dimension der Lebens- und Sprachgemeinschaft, in der er existiert, insofern seine Existenzmöglichkeiten von ihr abhängen. In ihr findet der Einzelne geschichtlich- konkrete Norm- und Wertvorstellungen als verbindliche Normen und Werte vor, die ihm äußerlich sind. Diese sind nicht unveränderlich gegeben, sondern wandeln sich im gesellschaftlichen Dialog, in dem ausgehandelt wird, was als verbindlich gelten soll. Ohne den Dialog mit dem Anderen kann keine Wirklichkeit 2. Ordnung aufgebaut werden, es gäbe dann weder Freiheit, noch Verantwortung, noch PERSONEN:

der ausschlaggebende Punkt liegt darin, die Wirklichkeit 2. Ordnung nicht als Illusion, sondern als Wirklichkeit anzuerkennen, da sich menschliches Handeln in der Tat an konsensuell erzeugten Wirklichkeitskonstruktionen orientiert.

Die Normativität von Werten und Normen kann nur als geschichtlich- konkrete Normativität einen Sinn haben, sie ist nicht objektiv und daher auch nicht unabhängig von in Gemeinschaft existierenden Menschen denkbar. Der Vorwurf des Relativismus an den radikalen Konstruktivismus beschränkt sich also auf die objektive Feststellbarkeit von Norm- und Wertbezügen des Menschen, da diese immer in Bewegung und nur deshalb relativ sind.

Der sprachlich erzeugte Sinnhorizont einer Gesellschaft wird auch für den Pädagogen zur verbindlichen Vorgabe, insofern auch seine Existenz von ihr abhängt. Er kann sich nicht auf die absolute Gültigkeit und Wahrheit seiner wissenschaftlichen Wirklichkeitskonstruktion und seiner Wertbezüge beziehen, sondern muss sich immer wieder neu auf den Dialog und die Vermittlung von Sache und Kind, von Gegenwart und Zukunft, von Individuum und Gesellschaft als seine erzieherische Aufgabe einlassen. Die wissenschaftliche Orientierungshilfe für erzieherisches Handeln kann aufgrund der Unvorhersehbarkeit von Entscheidungssituationen nur eine allgemeine Ethik und genauer eine Verantwortungsethik als handlungsleitendes Prinzip sein, deren Normativität nicht inhaltlich, sondern rein formal bestimmt ist. Sie allein macht erzieherisches Handeln auch konstruktivistisch legitimierbar.

I Konstruktivistische Anthropologie

1 Systemtheorie

Als Einstieg in die Thematik werde ich auf die Theorie der Systeme eingehen, weil sie für das Verständnis des konstruktivistischen Menschenbildes grundlegend ist.

Zwischenmenschliche Beziehungen, die als Systeme aufgefasst werden können, bilden die Grundlage dessen, wie der Mensch sich selbst definiert. Der Bezug zu Erziehung und Pädagogik lässt sich daraus schon erahnen, wird aber erst im zweiten Hauptteil dieser Arbeit explizit ausgeführt. Als Gegenbewegung zur wissenschaftlichen Analyse von Objekten erforscht die Systemtheorie die Organisation von Objekten, die für Stabilität und Zusammenhang unter vereinzelten Elementen verantwortlich ist. Diese Organisation muss zum Verständnis komplexer Phänomene wie es z.B. menschliche Beziehungen sind, notwendig berücksichtigt werden.

1.1 Allgemeine Systemtheorie

Der Biologe Ludwig VON BERTALANFFY, ein kanadischer Biologe österreichischer Herkunft (19.09.1901 - 12.06.1972), wird als Begründer der modernen Systemtheorie bezeichnet (vgl. MEYER 1999). Erste Formulierungen hierzu erschienen um 1937. Es handelt sich dabei nicht nur um einen weiteren Ansatz innerhalb der traditionellen Naturwissenschaft; vielmehr forderten VON BERTALANFFY und seine Mitstreiter einen paradigmatischen Wechsel in den grundsätzlichen Denkformen der Wissenschaft heraus (zu den folgenden Ausführungen alle: s. REVERMANN 1989):

die mechanistischen Begriffe „Substanz“, „Materie“, „Atom“, „Masse“, die im Anschluss an die Axiome Isaac NEWTONS seit dessen Hauptwerk von 1687 die Grundlage modernen Wissens von den Naturgesetzen sind, sollen abgelöst werden von einer Philosophie des Prozesses, die sich mit „Ereignissen“ und „Energie“ beschäftigt.

Dieser Paradigmenwechsel soll auch für die Humanwissenschaften gelten und so die Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften überwinden.

Ein notwendiger Beweggrund für den Paradigmenwechsel ist, dass der ursprüngliche Stoff der Physik, die Materie, der Evolution nicht fähig ist. Die äußere Form, die Relationen zwischen den Atomen, waren für die „harte“ Naturwissenschaft bisher irrelevant, da nicht messbar; feststellbar war lediglich eine nicht zweckgerichtete und nicht fortschreitende Veränderung der Relationen. Dem widerspricht jedoch die

Hypothese der Biologie, dass heute existierende, komplexe Organisationsformen aus früheren, weniger komplexen Organisationsformen hervorgegangen sind.

Um eine Integration biologischer und physikalischer Erkenntnisse zu erreichen, bedurfte es einer Theorie des Organismus, die sowohl den blinden, zufälligen Materialismus überwindet als auch vermeidet, in einen esoterischen Vitalismus zu verfallen, der „beseelte Schöpfungen“ annimmt, letztlich aber wissenschaftlich nicht begründbar ist.

Diese Theorie wurde schließlich in 1970er Jahren von den chilenischen Neurobiologen Humberto MATURANA und Francisco VARELA formuliert. Auf ihr Konzept der autopoietischen Organisation wird in Kapitel 1.3 eingegangen.

1.2 Prozess und Muster

Zuvor noch einige notwendige Anmerkungen zur allgemeinen Systemtheorie nach VON BERTALANFFY: systemisches Denken befasst sich nicht mit isolierten Objekten, sondern vorrangig mit Wechselwirkungen zwischen Objekten. Die sog. Interaktionen bilden einen Prozess von zeitlich nacheinander ablaufenden Ereignissen, wobei jede Aktion eines Elements Auswirkungen hat auf alle weiteren möglichen Aktionen aller interagierenden Elemente. Dieser rekursive Prozess von interagierenden Elementen ist das System. Er kann als Muster beschrieben werden.

Die Zeit spielt außerdem in der Systemtheorie eine entscheidende Rolle. Sie ist nicht mehr nur zufällige Bewegung von Teilchen im Raum (wie in der klassischen Physik), sondern sie wird zur Geschichte eines Phänomens.

Dieser geschichtliche Prozess heißt Evolution und er bezieht sich nicht auf die Atome (denn diese haben keine Geschichte), sondern auf Muster , d.h. Relationen zwischen den Atomen, die im Laufe der Zeit durch Interaktionen entstanden sind.

Diese Muster sind das relativ Dauerhafte und über die Zeit Beständige in der Natur, wenngleich sie auch nicht als statisch aufgefasst werden dürfen(vgl. REVERMANN 1989, 76ff).

Muster werden vom Systemtheoretiker als eine innere Tatsache von Phänomenen verstanden, d.h. ihr Grund liegt in dem betreffenden System, nicht in der Umwelt.

„Damit ist physische Dauer der Prozess, kontinuierlich eine gewisse Identität des Charakters zu erben, die längs eines historischen Weges von Geschehnissen übertragen wird“ (WHITEHEAD zit. n. REVERMANN 1989, 79).

Durch den Begriff „Muster“ wird es möglich, Beständigkeit in der physikalischen Welt des Wandels wissenschaftlich zu erklären. Ein Muster bewirkt Kontinuität im ununterbrochenen Wechsel der Zustände. Gleichwohl ist jedes „stabile System“ eine

Konstruktion von Wissenschaftlern ohne messbares Korrelat in der Realität, da nur Veränderung wahrnehmbar und messbar ist.

Ein System kann auf drei Aspekte hin untersucht werden:

1. die Relationen der Elemente eines Systems (seine Struktur)
2. die Funktionen der Elemente eines Systems (ihre Funktionalität)
3. die Ordnungsrelationen der Elemente eines Systems (Hierarchien, Über-/Unterordnung von System und Subsystem) (vgl. REVERMANN 1989, 123f).

Die Systemtheorie beansprucht universelle Gültigkeit, d.h. ihre Prinzipien gelten für alle Systeme materieller oder nicht-materieller Natur, die ein Muster erkennen lassen, wie z.B. lebende Organismen, die menschliche Psyche oder Gesellschaften.

Systeme werden nicht als objektiv gegebene Tatsachen definiert; sie sind (im Sinne relativer kognitiver Schemata = Hypothesen) immer durch den menschlichen Beobachter, der sie erkennt, durch geeignete Operationen der Unterscheidung und Abgrenzung erzeugte Systeme. Insofern können sie im sozialwissenschaftlichen Aufgabenkreis genauso angewendet werden wie im naturwissenschaftlich- technischen Bereich. „Im Prinzip besteht hier“, schreibt VON BERTALANFFY, „dieselbe Situation, die sich aus der Anwendbarkeit des Gesetzes der Schwerkraft auf Newtons Apfel, das Planetensystem und die Gezeiten ergibt. Es bedeutet, dass ein bestimmtes theoretisches System (...) in bezug auf einige sehr begrenzte Aspekte Gültigkeit hat; es bedeutet aber nicht, dass in anderer Hinsicht irgendeine besondere Ähnlichkeit zwischen Äpfeln, Planeten und Ozeanen besteht“ (VON BERTALANFFY zit. n. WATZLAWICK 1996, 115). Charakteristisch für die systemische Sichtweise ist in die Einbeziehung des menschlichen Beobachters in die wissenschaftliche Untersuchung eines Phänomens und die Erforschung der Wechselwirkung des menschlichen Bewusstseins mit den beobachteten Ereignissen, d.h. die teilnehmende Beobachtung.

1.3 Autopoietische Systeme

Die Grundprämisse des kognitionsbiologischen Ansatzes von Humberto MATURANA und Francisco VARELA ist, dass es „eine allen lebenden Systemen gemeinsame Organisation gibt, gleichgültig aus welchen Bestandteilen sie bestehen.“ (REVERMANN 1989, 363).

Dieses Organisationsmuster nennen sie die Autopoiesis. Der Mensch bzw. der menschliche Organismus repräsentiert ein Muster im o.a. Sinn, insofern er aus unterscheidbaren Elementen (den Organen) besteht, die zueinander in bestimmten Relationen stehen (der Körperbau), die darüber hinaus eine Hierarchie zeigen und gemeinsam eine Funktion erfüllen: nämlich den Organismus am Leben zu erhalten.

Autopoiesis (von griech.: autos = selbst; poiein = machen) bedeutet die Fähigkeit, sich selbst zu erzeugen bzw. sich selbst zu erhalten. Sie ist das charakteristische organisatorische Merkmal von Lebewesen. „Verschiedene Lebewesen unterscheiden sich durch verschiedene Strukturen, sie sind aber in bezug auf ihre Organisation gleich.“ (MATURANA/ VARELA 1987, 55).

Die Struktur des Menschen (sein Körperbau) konstituiert in konkreter Weise eine bestimmte Einheit, die aufgrund der besonderen Art ihrer Organisation als Mitglied einer bestimmten Klasse (nämlich der „Lebewesen“ oder der „lebenden Systeme“) identifiziert werden kann (vgl. ders., a.a.O., 54). Die Autopoiesis wird von MATURANA/ VARELA als rekursive Organisation beschrieben, d.h. dass Lebewesen innerhalb des Prozesses der Selbsterzeugung sich immer auf sich selbst beziehen.

Der Begriff „Autopoiesis“ steht also in direktem Zusammenhang mit dem Begriff der „Autonomie“, d.h. der Unabhängigkeit bzw. Eigengesetzlichkeit einer Einheit gegenüber ihrer Umwelt (griech.: nomos = Gesetz): Lebende Systeme können nur solche Zustandsveränderungen durchlaufen, die ihre autopoietische Organisation nicht gefährden. Wird diese zerstört, so geht das System zugrunde. Lebende Systeme sind daher operational und informationell geschlossene (= autonome) Systeme, insofern ihr basaler Bezug, die Selbsterhaltung, invariant, d.h. unveränderlich ist .

„Aufgrund ihrer autopoietischen Organisation operieren lebende Systeme als homöostatische Systeme, die ihre eigene Organisation (...) durch die Dynamik ihrer inneren Zustände invariant halten, (...)“ (MATURANA/ VARELA zit. n. REVERMANN,1989, 363). Homöostase bedeutet „die Fähigkeit lebender Organismen zur Konstanthaltung bestimmter physiologischer Parameter wie Blutdruck, Körpertemperatur, Wasser-, Elektrolythaushalt u.a. gegenüber Störeinflüssen.“ (MEYER 1999);

Homöostase ist ein Grundprinzip der allgemeinen Systemtheorie, worunter man das notwendige Bestreben eines Systems versteht, „seine eigenen Zustände gegen äußere Störungen durch eine aktive Gegenwirkung konstant zu halten“ (REVERMANN, a.a.O., 280), d.h. ein inneres Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Nach VON BERTALANFFY Homöostase in lebenden Systemen als “Fließgleichgewicht” aufzufassen, das einen Referenzwert umkreist, ohne ihn je stabil aufrechtzuerhalten.

Aus biologischer Sicht wird die Autonomie von Lebewesen dann verständlich, wenn man auf die notwendige rekursive Organisation der Selbsterhaltung lebender Systeme verweist: das Produkt des funktionalen Zusammenwirkens der Bestandteile ist genau jene Organisation, die die Bestandteile produziert. Durch diese besondere Form der Organisation lassen sich lebende Systeme von nicht-lebenden Systemen unterscheiden:

nämlich dadurch, „daß das Produkt ihrer Organisation sie selbst sind, das heißt, es gibt keine

Trennung zwischen Erzeuger und Erzeugnis. Das Sein und das Tun einer autopoietischen Einheit sind untrennbar, und dies bildet ihre spezifische Art von Organisation“ (MATURANA/ VARELA 1987, 56).

1.4 Struktur und struktureller Wandel

Für uns ist von besonderem Interesse, dass ein lebendes System seine Struktur ununterbrochen verändern und weiterentwickeln kann, jedoch immer nur unter dem Vorbehalt der Selbsttätigkeit (Autonomie) und mit Bezug auf seine Vorgeschichte (Selbstreferenz). Ein Lebewesen ist z.B. in der Lage zu wachsen, d.h. höhere Grade der Ordnung zu erreichen, oder seine Funktionen zu differenzieren, d.h. seine Komplexität zu steigern, jedoch nur unter dem Prinzip der Aufrechterhaltung seiner autopoietischen Organisation (vgl. REVERMANN, 1989, 350ff.).

Jeder strukturelle Wandel ist also der Erhaltung der Autopoiese hierarchisch untergeordnet. Wenn wir dieses Gesetz auf Erziehung und psychische Entwicklung anwenden, so sehen wir, dass Veränderung bzw. Entwicklung nur innerhalb eines (durch die Vergangenheit bedingten) Spektrums möglich ist, welches die Selbsterhaltung des Systems Mensch nicht gefährdet.

Wie wir gesehen haben, ist es die autopoietische Organisation, die ein Lebewesen definiert und es somit von einem Hintergrund unterscheidbar macht. Dieser Hintergrund, das Milieu, hat seine eigene Struktur und ist operational verschieden von der autopoietischen Einheit. Jedoch ist das Lebewesen abhängig von seinem Milieu, da es alleine nicht überleben kann; es muss also eine gewisse Übereinstimmung (Kongruenz) in der Struktur von Lebewesen und Milieu vorliegen.

„Solange diese Verträglichkeit vorliegt, wirken Milieu und Einheit füreinander als gegenseitige Quellen der Perturbation, und sie lösen gegenseitig beim jeweils anderen Zustandsveränderungen aus – ein ständiger Prozess, den wir als strukturelle Koppelung bezeichnet haben.“(MATURANA/ VARELA 1987,110).

Die Umwelt stellt für das Individuum also eine „Quelle der Perturbation“ (= Störung) dar, sie löst Veränderungen aus, aber sie kann nicht determinieren, welche Veränderungen im geschlossenen System vollzogen werden. Dies ist der entscheidende Punkt einer systemisch- konstruktivistischen Sicht des Menschen. MATURANA/ VARELA führen diesen Punkt folgendermaßen aus: „Bei den Interaktionen zwischen dem Lebewesen und der Umgebung innerhalb dieser strukturellen Kongruenz determinieren die Perturbationen der Umgebung nicht, was dem Lebewesen geschieht; es ist vielmehr die Struktur des Lebewesens, die determiniert, zu welchem Wandel es in Folge der Perturbation in ihm kommt. (...)

Wir wollen damit darauf hinweisen, daß der Wandel, der aus den Interaktionen zwischen dem

Lebewesen und seiner Umgebung resultiert, zwar von dem perturbierenden Agens hervorgerufen, aber von der Struktur des perturbierten Systems determiniert wird.“ (MATURANA/ VARELA 1987, 106).

Alle Interaktionen, die mit der Autopoiesis vereinbare Strukturveränderungen auslösen, sind aus der Sicht des Individuums unbestimmbare Perturbationen, die durch seine Eigengesetzlichkeit bestimmt werden. Dies verweist auf die kaum zu überschätzende Bedeutung der Selbsttätigkeit des Individuums für eine systemisch- konstruktivistische Pädagogik.

Da die menschliche Wahrnehmung von der menschlichen Struktur determiniert wird und sich auf die Erhaltung dieser Struktur beziehen muss, ist das „Ziel der Erkenntnis“ nicht objektives Wissen, sondern effektives Handeln eines Organismus in seinem Bereich der strukturellen Koppelung (seinem Milieu).

Dies bedeutet zum einen die Anpassung des Individuums an sein Milieu und zum anderen die Anpassung des Milieus an das Individuum, da dieses als Auswähler für die Strukturveränderungen des Milieus wirkt (MATURANA/ VARELA 1987, 112f).

Es ist charakteristisch für systemisches Denken, Veränderungsprozesse nicht als linear verursachte Vorgänge, sondern als rekursive Interaktionen zu beschreiben.

1.5 Selbstreferenz und Kontingenz

Im Falle der operationellen und informationellen Geschlossenheit spricht man von selbstreferentiellen Systemen. Sie beziehen sich im Prozess der Aufrechterhaltung ihrer Organisation ausschließlich auf sich selbst.

Informationell geschlossen heißt, dass alle Informationen die ein lebendes System für die Aufrechterhaltung seiner zirkulären Organisation braucht, in der Organisation selbst liegen. Ein solches System ist außerdem operationell geschlossen, da seine Operationen von dem jeweiligen Zustand vor der Operation abhängen. Sie sind damit strukturdeterminiert bzw. autonom. Die Aufgabe des Nervensystems im lebenden System Mensch ist es, durch die Koordination von Verhalten gewisse Parameter, die entweder evolutionär vererbt oder vom Individuum in der Phylogenese erlernt sind, im Lebewesen konstant zu halten, genau so wie ein U-Boot Kapitän durch gewisse Handlungen die Werte auf seinen Anzeigen in einem akzeptablen Verhältnis zueinander hält, ohne dabei irgendetwas über die tatsächlich existierende Umwelt wissen zu müssen. Dieses „akzeptable Verhältnis“ haben wir bereits als „Fließgleichgewicht“ bzw. „Homöostase“ bezeichnet. Ein abstraktes Beispiel mag das verdeutlichen.

Der Satz „In diesem Satz zählen wir fünfundvierzig Buchstaben“ ist selbstreferentiell. Er sagt etwas über sich selbst aus, nämlich wie viele Buchstaben er hat. Seine Struktur bestimmt, welche Eingaben als passend bezeichnet werden können: „fünfundvierzig“ ist ein sog. Eigenwert dieses Satzes, genauso wie „sechsundvierzig“ und „siebenundvierzig“. Es gibt bei diesem Beispiel also nicht die eine richtige, sondern mehrere mögliche Antworten.

„Sieht man in den Eigenwerten eine Art Gleichgewichtszustand, dem ein solches selbstreferentielles System zustrebt, wenn es durch eine äußere Eingabe ‚gestört’ wird, bestimmt nicht die Eingabe den Gleichgewichtszustand des Systems, sondern das System selbst. Als Eigenverhalten eines lebenden Organismus macht dieses Modell erklärbar, dass z.B. im Rahmen eines Erkenntnisprozesses nicht der sensorische „Input“ eines äußeren Reizes dieses Eigenverhalten bestimmt, sondern die operationalen Regeln des Organismus selbst“ (Beispiel und Zitat: GLASER 1999, 44; Hervorhebung L.L.).

Daraus folgt, dass ein lebender Organismus seine Wirklichkeit aufgrund seiner physiologischen und funktionalen Voraussetzungen selbst hervorbringt und hervorbringen muss. Die für ihn zugängliche Welt ist mithin seine kognitive Welt und nicht die Welt „so wie sie ist. Wir erzeugen daher buchstäblich die Welt in der wir leben, indem wir sie leben“ (SCHMIDT 1987, 23f).

Von der Umwelt werden lediglich Perturbationen angeboten, die sich dem Menschen als Möglichkeiten darstellen: kein Einfluss von außen kann den Menschen so determinieren, dass er notwendig der Intention des Beeinflussenden (z.B. des Erziehers) nachkommt und einen bestimmten Systemzustand herstellt. Allein das System entscheidet durch interne Operationen, in welcher Weise ein Impuls von außen verarbeitet wird. Dieser Sachverhalt kann mit dem Begriff der Kontingenz als dem Nicht- Notwendigen und zugleich Nicht- Unmöglichen ausgedrückt werden.

Für unsere Erörterung der konstruktivistischen Anthropologie unter pädagogischer Perspektive ist dies ein erstes Ergebnis: alle pädagogischen Ansätze, die die Herstellung eines (kognitiven) Zustandes des Menschen durch äußeres Einwirken im Sinne einer Technik behaupten, werden vom Konstruktivismus abgelehnt, da der einzige Bestimmungsgrund im Sinne einer Ursache für Veränderung im autonomen System selbst liegt. Auch wenn es sich um eine Anthropologie auf biologischen Grundlagen handelt ist freies Entscheiden nicht ausgeschlossen, denn wie gesagt: „Der Gegensatz von Notwendigkeit ist nicht Zufall sondern Freiheit“ (VON FOERSTER 1993, 73).

Dies bedeutet vor allem, dass sich der Pädagoge und Erzieher über die Grenzen seiner Möglichkeiten bewusst werden muss und der Begriff der Freiheit des Menschen weiterhin Bedeutung für die pädagogische Anthropologie beanspruchen kann. Da der Erzieher irgendwelche erwünschten Zustände im Kind nicht zwingend (d.h. nicht ohne

die Selbsttätigkeit des Kindes) herstellen kann, muss er es als freies, autonomes Wesen anerkennen.

Wir sind hier von metaphysischen Spekulationen über den Ursprung der Freiheit weit entfernt, und wir können kaum mehr behaupten, als Menschen die einzig freien Wesen auf der Erde zu sein. Da wir aber innerhalb eines gewissen bedingenden Spektrums tatsächlich verschiedene Möglichkeiten der Veränderung bzw. Entwicklung haben und wir unsere Selbsterhaltung eigengesetzlich regeln, muss dem Menschen ein gewisses Maß an Freiheit zugesprochen werden.

Die naturwissenschaftlichen Versuche, den Menschen als durchgängig determiniertes Wesen zu beschreiben, gehen auf bestimmte wissenschaftstheoretische Prämissen zurück, die auf der Basis der konstruktivistischen Erkenntnistheorie unhaltbar werden. Indem ich nun die kybernetische Epistemologie vorstelle kann ich zugleich auf Veränderungen im Bereich der Wissenschaftstheorie eingehen, da diese von jener bedingt werden.

2 Kybernetische Epistemologie – Theorie des Wissenserwerbs

Neben der Systemtheorie stellt die Kybernetik eine zweite Wurzel des konstruktivistischen Denkens dar. Der herausragende Vertreter dieses Denkansatzes ist Heinz VON FOERSTER, dessen Theorie des Wissenserwerbs im Folgenden erläutert wird.

2.1 Was ist Kybernetik?

Der Begriff Kybernetik ist abgeleitet vom griechischen Wort für »Steuermannskunst« und bekanntlich ist es die Aufgabe des Steuermanns, einen gewünschten Kurs zu berechnen : „Kybernetik ist die übergreifende Wissenschaftsdisziplin, bei der die Gesetzmäßigkeiten der Steuerung, Regelung und Rückkopplung zur Informationsübertragung und -verarbeitung in Maschinen, Organismen und Gemeinschaften sowie die Theorie und Technik von Informationsverarbeitungssystemen untersucht werden. Kybernetik ist durch (...) die mathematisierende Methode gekennzeichnet. Ihr Begriffssystem ist unabhängig von den Untersuchungsgegenständen und auf beliebige Systeme anwendbar. Die allgemeine Kybernetik gewinnt wesentliche Erkenntnisse aus realen Systemen. Sie abstrahiert daraus mathematische Modelle, die nur noch die für die Steuerung und Informationsverarbeitung maßgebenden Informationen enthalten“ (vgl. MEYER 1999).

Die Kybernetik entwickelte sich aus der Erforschung kreis-kausal geschlossener und rückgekoppelter Mechanismen in biologischen und sozialen Systemen.

Norbert WIENERS Definition der Kybernetik als „die Wissenschaft von Regelung und Signalübertragung im Lebewesen und in der Maschine“ stammt aus dem Jahre 1949 und gilt als Geburtsstunde der Kybernetik. Heute versteht man unter Kybernetik die „ Wissenschaft der Regelung “ im allgemeinsten Sinne (vgl. zu diesen Definitionen VON FOERSTER 1985, 18).

Dass wir es hier mit einer Theorie aus dem Bereich Maschinenbau zu tun haben, mag den Humanwissenschaftler irritieren, nichtsdestotrotz wird vom Konstruktivismus behauptet, dass dieses Denkmodell aufklärende Erkenntnisse über die Art und Weise, wie menschliches Denken funktioniert liefert.

Als Beispiel für kybernetische Abläufe der Rückkoppelung und Regelung dient meist der „Thermostat“ einer Heizung; er ist sozusagen der einfachste Regelkreis: sein Prinzip besagt, dass eine zu regelnde Größe (Zimmertemperatur) trotz auftretender Störungen (Kälte) auf einem vorgegebenen Wert (Sollwert: 22°C) oder innerhalb eines zulässigen Toleranzbereichs gehalten werden soll. Der Thermostat errechnet anhand eines Fühlers die Differenz zwischen Soll- und Ist-Wert der Temperatur in einem Zimmer und heizt es – je nach Abweichung – auf. Die so verursachte Erhöhung der Temperatur gleicht die von außen kommende Störung (Kälte) aus und wirkt zurück auf den Fühler, der jetzt keine Abweichung zwischen Soll- und Ist-Wert mehr feststellen kann. Es bleibt noch anzumerken, dass der Thermostat keine Störung erfahren kann, außer diejenige einer Temperaturschwankung (abgesehen von der Möglichkeit, dass er zerstört wird). Dieses Prinzip der Regelung soll auch für den Aufbau menschlichen Wissens gelten.

Heinz VON FOERSTER will durch Einführung von Denkmodellen aus der Steuerungstechnik in die Anthropologie zeigen, dass Menschen die Welt nicht objektiv sehen, hören oder fühlen, sondern immer auf der Grundlage ihrer Wahrnehmungsmöglichkeiten („Fühler“) und ihrer internen Referenzwerte eine mögliche Wirklichkeit konstruieren.

2.2 Die Erfindung der Wirklichkeit

Der nun folgenden Erörterung der kybernetischen Epistemologie möchte ich ein Postulat Heinz VON FOERSTERS vorausschicken:

„Die Umwelt, die wir wahrnehmen, ist unsere Erfindung“ (VON FOERSTER 1993, 26)

Entgegen der alltäglichen Vorstellung, die Umwelt sei etwas, das wir entdecken, dass z.B. Kinder „die Welt entdecken“, vertritt der radikale Konstruktivismus den

Standpunkt, dass wir die Welt, in der wir leben, selbst erfunden haben.

Um dies zu veranschaulichen möchte ich mit einem kleinen Experiment beginnen:

Der Leser soll das Kreuz in der Abbildung unten mit dem rechten Auge fixieren, sein linkes Auge schließen und das Blatt in einem Abstand von ca. 40cm vor den Augen vor- und zurückbewegen. Dabei wird er an einem bestimmten Punkt bemerken, wie der schwarze Kreis auf der Abbildung plötzlich verschwindet. Dies geschieht, weil in dieser Position die Abbildung des Kreises auf den Bereich der Netzhaut fällt, der für das Licht unempfindlich ist, da dort der Sehnerv (= Verbindung der Netzhaut mit dem Gehirn) austritt. Man nennt diesen Bereich blinder Fleck (vgl. VON FOERSTER 1985, 26).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das Interessante an diesem Experiment ist, dass wir nicht den Eindruck haben, den Kreis nicht zu sehen, sondern glauben, dass er verschwunden sei. Natürlich ist er nach wie vor an derselben Stelle, aber wir sehen nicht, dass wir ihn nicht sehen.

Darüber hinaus haben wir keine Erklärung parat, warum wir nicht bemerken, dass unsere visuelle Wahrnehmung auch im Alltag permanent ein Loch hat.

Nach diesem ersten Beispiel, das unsere Gewissheit über die Zuverlässigkeit der Wahrnehmung aus dem Gleichgewicht bringen sollte, legen wir sogleich eine weitere kybernetische Annahme vor, nämlich Heinz VON FOERSTERS

„Prinzip der undifferenzierten Kodierung“,

welches besagt: „Die Reaktion einer Nervenzelle enkodiert nicht die physikalischen Merkmale des Agens, das ihre Reaktion verursacht. Es wird lediglich das „so viel“ an diesem Punkt meines Körpers enkodiert, nicht aber das „was“ (VON FOERSTER, 1985, 29).

Die Nervenzellen des Körpers (das Sensorium) können zwar durch äußere Einwirkung, z.B. durch die elektromagnetische Strahlung des Lichts, zu chemischen Reaktionen gereizt werden, die der Intensität der Einwirkung entsprechen - die ausgelöste Reaktion aber hat nichts mit der Qualität der auslösenden Stimulierung zu tun.

Das bedeutet umgekehrt, dass wir aus unserer Wahrnehmung nicht auf die eigentliche Natur des Wahrgenommenen (das „Ding- an- sich“) schließen können.

Wahrnehmung und Wahrgenommenes bedingen sich gegenseitig: „,Da draußen’ gibt es nämlich in der Tat weder Licht noch Farben, sondern lediglich elektromagnetische Wellen; ,da draußen’ gibt es weder Klänge noch Musik, sondern lediglich periodische Druckwellen der Luft; ,da draußen’ gibt es keine Wärme und keine Kälte, sondern nur bewegte Moleküle mit größerer oder geringerer durchschnittlicher kinetischer Energie usw.“ (VON FOERSTER 1985, 29).

Menschliche Wahrnehmung ist also von Anfang an Interpretation von Daten durch die Sinnesorgane. Somit kann behauptet werden, dass wir die Welt in der wir leben nicht entdecken, sondern erfinden. Unsere Wahrnehmung gibt keine Qualität der Welt wieder, die ohne die Existenz eines wahrnehmenden Beobachters existieren würde.

Ich beziehe mich hier zwar lediglich auf menschliche Beobachter; es sei jedoch angemerkt, dass dies für alle lebenden Organismen gilt und viele tierische Beobachter aufgrund ihrer speziellen Sinnesorgane in einer völlig anderen Welt leben als Menschen. Diese fundamentale Behauptung, die bereits eine Intuition der Skeptiker war, ist mit logischen Argumenten nicht widerlegbar. Sie macht daher noch heute den Reiz der konstruktivistischen Theorie aus. Die Frage, die jetzt beantwortet werden soll, ist: Wie schafft es das menschliche Gehirn überhaupt, aus Wellen und Energie diese wundervolle, bunte und tönende Welt zu erschaffen, die wir vor unseren Augen haben?

Der Konstruktivismus versucht diesen Vorgang zu verstehen, indem er kognitive Prozesse als algorithmische Rechenprozesse auffasst, die ihrerseits errechnet werden können. Rechnen bedeutet hier ganz allgemein das Erzeugen einer Ordnung nach gewissen Regeln.

2.3 Die Konstruktion von Ordnung

Ordnen “ kann auf zweierlei Ebenen geschehen:

1. als Beschreibung einer gegebenen Anordnung von Dingen;
2. als neue Anordnung gewisser Dinge entsprechend einer bestimmten Beschreibung.

Dies ist die Grundlage allen Rechnens. Rechnen bedeutet demnach Ordnen, und dies ist auch nach allgemeiner Vorstellung die Tätigkeit des menschlichen Gehirns: es ordnet die eingegangenen, diffusen Wahrnehmungen und Erfahrungen in eine kohärente Form.

Allein die Kybernetik kann erklären wie der Aufbau von Ordnung (die Konstruktion) abläuft, weil sie allein die Kognition als Phänomen des kreiskausalen Errechnens beschreiben kann.

Bevor dieser Vorgang erläutert wird will ich zwei Prämissen vorausschicken:

1. Alles was wir wissen, haben wir aus den Daten unserer Erfahrung errechnet und
2. die überhaupt möglichen Daten der Erfahrung (~ Wahrnehmungen) sind primär abhängig von unserer körperlichen Struktur.

Heinz VON FOERSTER abstrahiert das folgendermaßen:

„Der Sinn (oder die Bedeutung) der Signale des Sensoriums wird durch das Motorium bestimmt, und der Sinn (oder die Bedeutung) der Signale des Motoriums wird durch das Sensorium bestimmt“ (VON FOERSTER 1985, 66).

Das Sensorium ist das System der bewussten Sinneswahrnehmung, das Motorium ist das System der gewollten Bewegungsabläufe. Zusammen bilden sie ein geschlossenes System rekursiver/ rückbezüglicher Rechenprozesse, unser Nervensystem. In ihm wird die Erfahrung einer stabilen Realität aufgebaut.

2.4 Rekursives Errechnen der Wirklichkeit

Erkennen (als Tätigkeit des Nervensystems) wird von der Kybernetik interpretiert als Er-rechnen einer Realität, wobei die Vorsilbe (Er-) einen ständig vor sich gehenden Prozess meint, der nie zu einem abschließenden Resultat gelangt. Wissen existiert also nicht in der Form des Habens (z.B. einer stabilen Wirklichkeitsrepräsentation), sondern ist dem rückgekoppelten Prozess des Handelns und Reflektierens in einer sich wandelnden Umgebung unterworfen.

Das Ding an sich, das denknotwendig existieren muss, kann nicht von uns errechnet werden. Vom pragmatischen Standpunkt des Konstruktivismus aus haben wir auch gar kein Interesse daran, dieses Ding zu erkennen. Für uns ist es wichtig, jene Dinge zu erkennen und zu wissen, die für unser Leben und Über leben von Bedeutung sind. Wenn wir in einem dunklen Zimmer gegen eine scharfe Kante gelaufen sind, so wissen wir zwar, dass wir etwas wahrnehmen (und dass uns diese Wahrnehmung nicht gefällt), jedoch nicht was es ist, das diese Wahrnehmung ausgelöst hat.

Genau so gehen wir in jedem Moment unseres Erlebens vor, auch wenn wir Theorien darüber aufstellen, was dieses Ding sein könnte.

Errechnet wird von unserem Gehirn die Beschreibung einer Wahrnehmung, z.B. das Wort „Tisch“ als angemessene verbale Beschreibung (Interpretation) einer von mir festgestellten Wahrnehmung (dem Schmerz). Dabei beruht die Angemessenheit der Beschreibung auf den kulturellen Umständen, in denen ich mich befinde.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Es wird also nicht „die Realität“ errechnet, sondern lediglich eine von vielen möglichen Beschreibungen der Realität. Einfacher ausgedrückt: der Mensch errechnet aus dem Zusammenwirken von Wahrnehmung und Erfahrung das, was er für die Realität hält.

Dies ist etwas fundamental anderes, als davon auszugehen, dass Wahrnehmung von Dingen eine Abbildung der Wirklichkeit in meinem Kopf verursacht.

Dass die frühere Vorstellung einer Repräsentation der Welt in unseren Köpfen heute nicht mehr haltbar ist, das machen die Erkenntnisse der Neurophysiologie nur allzu deutlich: die Eingangssignale im Sensorium durchlaufen nämlich viele Modifikationsstufen, ehe ein Output durch das Motorium erfolgt.

Die Daten der Umwelt, die auf unseren Wahrnehmungsapparat treffen, werden in chemische Moleküle umgewandelt (z.B. im Auge), insofern dieser von seiner Struktur her in der Lage ist, die Reize (z.B. des Lichts) zu verarbeiten. Nur dann bekommt die Beschaffenheit der Umwelt Bedeutung für uns. Dies hat freilich nichts zu tun mit identischer Abbildung der Realität wie sie ist, auch wenn dies dem Alltagsempfinden zutiefst widerspricht. Die Transformation von Daten im Nervensystem ist eben bereits eine Interpretation oder Beschreibung durch den Menschen.

Die kognitive Beschreibung einer Wahrnehmung heißt dann „Beschreibung zweiter Ordnung“:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Wissen heißt beschreiben, was wir beschreiben bzw. interpretieren.

Es fällt sofort auf, das auf dieser Ebene die Realität aus der Gleichung verschwunden ist. Dies scheint ein Vorteil zu sein, da wir ja nicht Aussagen über die Realität (die Welt, wie sie ist; das Ding an sich) treffen wollen, sondern versuchen zu erklären, wie

der Mensch zu dem gelangt, was er sein Wissen nennt. Der Streit um den Realitätsgehalt unserer Wahrnehmung ist müßig und letztlich nicht auflösbar; die konstruktivistische Epistemologie plädiert daher entschieden für eine skeptische Haltung und lehnt die Beantwortung dieser Frage ab. Es geht auch nicht darum, warum die Erkenntnisprozesse so ablaufen, der Konstruktivist will nur zeigen, dass es so ist und nicht anders sein kann.

Wenn wir überhaupt etwas wissen, dann sind das Beschreibungen unserer Wahrnehmungen, die, wie wir gesehen haben, individuelle Interpretationen einer objektiv unzugänglichen Realität sind.

Das „Errechnen einer Beschreibung“ ist (mathematisch) identisch mit „Errechnen“, sodass die „Beschreibung“ aus der Gleichung ebenfalls gekürzt werden kann und wir zu der Formel gelangen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Erkenntnis oder Wissen ist rekursives Errechnen:

„Um einen Tisch zu erkennen und „Das ist ein Tisch“ zu sagen, muss ich weder im Gehirn die Buchstaben T I S C H stehen haben, noch braucht eine winzige Repräsentation eines Tisches (oder gar die „Idee“ des Tisches) irgendwo in mir zu sitzen. Ich brauche aber eine Struktur, die mir die verschiedenen Manifestationen einer Beschreibung errechnet“(VON FOERSTER 1985, 25ff).

Diese Struktur ist im menschlichen Organismus als zentrales Nervensystem gegeben. „Das Nervensystem als Ganzes ist so organisiert bzw. organisiert sich so, dass es eine stabile Realität aus der Wechselwirkung von Sensorium und Motorium errechnet“ (VON FOERSTER 1985, 65ff).

3 Der Beobachter

Auf den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen aufbauend wird vom Konstruktivismus eine neuer Begriff in die wissenschaftliche Sprache eingeführt:

der Beobachter, der von seinem einmaligen, unwiederholbaren Standpunkt aus eine von vielen möglichen Welten wahrnimmt, ohne dass ihm die Tatsache der Subjektivität seiner Erkenntnis immer bewusst wäre. Für den Konstruktivismus ist prinzipiell jede Beobachterposition gleichwertig bezüglich ihres Grades an Objektivität. Aus der Subjektivität unserer Bezüge und Beziehungen, unseren Konstruktionen, kommen wir nicht heraus, und das wäre - wie ich noch zeigen werde - auch gar nicht wünschenswert.

Alles Wissen bezieht sich im Grunde nicht auf die tatsächliche Realität, sondern auf die Welt, wie wir sie erleben:

„Alle Erkenntnis muss in der Erlebenswelt konstruiert werden und bezieht sich ausschließlich auf eben diese Erlebenswelt und kann keinerlei Ansprüche auf Objektivität erheben“ (vgl. GLASER 1999, 45f).

Wenn wir Gespräche führen, tauschen wir genau genommen nicht Informationen darüber aus wie die Welt ist, sondern wie man die Welt sehen kann. Wir sind zwar durchaus in der Lage, verschiedene Beobachterpositionen kognitiv nach zu empfinden und andere Perspektiven einzunehmen - dies aber nie in vollständiger Weise, sondern immer nur approximativ. Ob wir uns im übrigen eine bestimmte Sichtweise (eine Einstellung) aneignen und vielleicht in unsere Konstruktionen integrieren, ist niemals durch ein objektives „muss“ bedingt, sondern immer durch unsere persönliche Aktivität.

Damit ist aber auch die Feststellung einer bestimmten Anthropologie als „die Richtige“ nicht mehr möglich. Vielmehr muss ein konstruktivistisches Menschenbild eben diesen Faktor der Relativität und Subjektgebundenheit aller Erkenntnis als ein dem Menschen wesensmäßiges Merkmal ausweisen.

Dies ist m. E. inzwischen Konsens unter den Menschen in pluralistischen, demokratischen Systemen geworden: dass jeder in seiner eigenen Beobachterwelt lebt und aufgrund dessen die Dinge unterschiedlich schätzt. Dass aber die Wissenschaft aufgrund ihrer besonderen Methodik in der Lage sei, absolutes Wissen und Wahrheit zu erzeugen, diese Vorstellung herrscht tendenziell weiterhin vor.

Während die klassische Wissenschaftstheorie ja den Beobachter eliminieren möchte, nimmt er in der konstruktivistischen Epistemologie eine aktive, produktive Rolle ein, denn „erst durch die Einschaltung des beobachtenden Subjekts mit seinen spezifischen Sinnesenergien erhalten die Gegenstände ihre Eigenschaften. So wird der Beobachter zum integrierenden Teil der von ihm beobachteten Natur, und die angestrebte Sonderung des Objekts vom Subjekt erweist sich als unmöglich. Das Subjekt zwingt die es umgebenden Dinge der Natur unter das Joch seiner Energien.“ (Jakob von Uexküll zit. n. REVERMANN 1989, 370). Es ist für den modernen Menschen, der an die Objektivität der Wissenschaften glaubt, zunächst einmal sehr unbequem und schwierig, diesen Gedankengang nachzuvollziehen; wir sind zu sehr geprägt von einem gängigen Weltbild, das auf eine Opposition von Subjekt und Objekt gegründet ist. Zu fremd erscheint uns die Idee des Konstruktivismus, dass wir die Dinge erschaffen, die uns umgeben. Wir graben hier also an der Wurzel unserer Gewissheiten, und es kostet nicht wenig Anstrengung, diesen Baum zu fällen. Die revolutionäre Dimension, die dahinter steht, vergleicht REVERMANN daher auch mit Einsteins Relativitätstheorie, die die absolute Existenz von Raum und Zeit bestreitet (vgl. REVERMANN 1989, 71).

Zur Veranschaulichung der Theorie des Beobachters, die auf ein Problem des jeweiligen Standpunktes hinausläuft, möchte ich ein Beispiel geben:

Ein Mann steht in der Kajüte eines Schiffes, von wo aus er nicht nach draußen sehen kann. Vor ihm auf einem Tisch rollt eine Kugel von einem Ende des Tisches zum anderen. Da der Mann die Bewegung des Schiffes (auf dem er sich befindet) bei gleichmäßiger Fahrt nicht wahrnehmen kann, rollt für ihn die Kugel von ihm weg .

Ein Beobachter an Land, der die Fähigkeit hätte, in das Schiff hineinzusehen, könnte dem entgegnen, die Kugel sei unbewegt am gleichen Ort geblieben, aber das Schiff, der Tisch und der Mann haben sich bewegt.

Wer hat nun Recht? Was hat sich tatsächlich bewegt?

Diese Frage kann nicht definitiv beantwortet werden; die möglichen Antworten hängen ab vom Standpunkt des Beobachters. Zu unserem Beispiel bringt Glaser die folgende Erläuterung: „Auf der einen Seite haben wir eine Beobachtung innerhalb eines geschlossenen Systems, im anderen Fall eine Beobachtung dieses Systems gegenüber seinem Milieu. Innerhalb eines geschlossenen Systems kann ein Beobachter sein Verhalten gegenüber seinem Milieu nicht sehen. Er kann nicht einmal sehen, dass er hier etwas nicht sieht. Das Beobachtete hat für ihn Realitätscharakter“ (GLASER 1999, 7f). Der Mann auf dem Schiff weiß nicht, dass er sich bewegt, weil er es nicht wahrnimmt. Der Soziologe Niklas LUHMANN drückt diesen Sachverhalt so aus: „Ein System kann nur sehen, was es sehen kann. Es kann nicht sehen, was es nicht sehen kann. Es kann auch nicht sehen, dass es nicht sehen kann, was es nicht sehen kann“ (LUHMANN zit. n. REVERMANN 1999, 8).

Und weiter: „Auch wo wir direkte durch indirekte Beobachtungen (z. B. durch Instrumente, Messung, Photographie u.a.) ersetzen, vergleichen wir nur eine direkte mit einer indirekten Beobachtung, nie mit einer „objektiven Realität“. Der Mensch lässt sich als Beobachter nicht eliminieren.“ (GLASER 1999, 7f)

Der Anspruch der Wissenschaft, gesichertes Wissen über die Realität zu produzieren, wird durch die Theorie des Beobachters mit dem Problem der Unschärfe jeder Erkenntnis konfrontiert.

Die konstruktivistische Kritik an der klassischen Wissenschaftstheorie torpediert außerdem die Annahme, aus gesichertem Wissen Voraussagen über zukünftige Ereignisse ableiten zu können. Dazu ein Beispiel von Gregory BATESON.

Sie sehen unten eine Zahlenreihe und bekommen die Voraussetzung mitgeliefert, das die Reihe unvollständig und geordnet ist.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Ähnliches ist bei Hypothesen zu vermeintlich unveränderlichen Naturgesetzen der Fall.

Nun, da sie die Zahlenreihe kennen, haben sie allen Grund, als nächste folgende Zahl die „27“ anzunehmen. Dies ist die übliche wissenschaftliche Methode, die man als Regel der Sparsamkeit bezeichnet hat, d.h. eine Vorliebe für die einfachsten Annahmen, die den Tatsachen entsprechen. Auf dieser Grundlage werden sie vermutlich ihre Voraussage machen. Sie nehmen dabei stillschweigend als gegeben an, dass sie tatsächlich eine Voraussage über die nächste Zahl treffen können, weil... ja, warum eigentlich?

Die einzige Grundlage, die sie dafür haben, ist ihre anerzogene Vorliebe für einfache Antworten und ihr Vertrauen darauf, dass die Aufgabenstellung verlässlich bedeutete, die Abfolge sei tatsächlich unvollständig und geordnet. Faktisch ist der nächste auftretende Fall aber nicht verfügbar. Vielleicht ist die nächste Zahl die „57“.

Wir können immer nur feststellen, was in der Vergangenheit der Fall war, aber daraus eindeutig zu folgern, was in der Zukunft sein wird, dazu haben wir keinen logischen Grund, weshalb gilt: „Voraussage kann niemals absolut gültig sein, und deshalb kann die Wissenschaft niemals irgendeine Verallgemeinerung beweisen oder auch nur eine einzelne deskriptive Behauptung überprüfen und auf diese Weise zu endgültigen Wahrheiten gelangen.(...) Die Erkenntnis zu irgendeinem gegebenen Zeitpunkt ist eine Funktion der Schwellen unserer verfügbaren Wahrnehmungsmittel“ (vgl. zu diesem Kapitel: BATESON 1984, 37ff).

Unsere Wahrnehmungsmittel sind, in der Wissenschaft genauso wie im Alltag, unsere Sinnesorgane und da uns keine anderen Daten zur Verfügung stehen, verabsolutieren wir unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit zur Welt an sich.

4 Radikaler Konstruktivismus vs. Naiver Realismus

Was sehen sie hier ?

a) eine Frau
b) einen Saxophonspieler
c) einen schwarzen Fleck

(Metaphysische Zusatzfrage: Welche Antwort im

Beispiel entspricht der Wahrheit?)

Bereits Platon hatte sich mit dem erkenntnistheoretischen Problem beschäftigt, wie sich das menschliche Wissen an die Dinge angleichen kann, die angeblich unabhängig von unserer Existenz in der Welt sind:

„Seitdem leben wir mit dem Problem, wie wir diese so merkwürdige Verbindung bestimmen oder beschreiben können, die zwischen dem zunächst noch unbekannten, aber existierenden Gegenstand auf der einen Seite, und dem Subjekt, das diesen Gegenstand in seinem Kopf nachbilden muss, um ihn zu erkennen, auf der anderen Seite bestehen soll. (...) Und in der Tat gibt es keine rationale Auflösung der logischen Schwierigkeit, dass die Sinnesorgane unmöglich die Wahrhaftigkeit ihrer eigenen Produkte prüfen können.“ Die Frage, „wie denn Umweltdaten, (die per definitionem außerhalb unserer selbst liegen) durch das hindurchkommen, was wir die Erfahrungsschnittstelle nennen könnten, um in unsere kognitiven Strukturen eingegliedert zu werden, oder wie wir denn unsere kognitiven Strukturen so akkomodieren können, dass sie den Anforderungen der Umwelt besser angepasst werden, wenn doch die Strukturen per definitionem in uns sind, während die Realität angeblich jenseits der Schnittstelle liegt“ (VON GLASERSFELD 1987, 102f), diese Frage wurde von den meisten Psychologen bisher ausgeklammert. Eine naiv- realistische Sicht des Wissens geht von einer Abbildung der Realität im menschlichen Gehirn aus, d.h. ein Bild der mir erfahrungsmäßig bekannten Dinge wird in meinem Gehirn gespeichert und bei Bedarf aufgerufen. Diese Konstruktion bestimmt auch unser alltägliches Denken; sie scheint sich zu bewähren. Der Konstruktivismus aber besagt, dass eine solche Abbildung nicht möglich ist, es muss anders sein. Ernst VON GLASERSFELD verweist auf Jean PIAGET als singuläre Ausnahme in der Zunft der Psychologen, der an das Erkenntnisproblem herangegangen ist und eine konstruktivistische Theorie des Wissenserwerbs entwickelt hat. PIAGET verstand sich allerdings noch nicht als ausgewiesener Vertreter des Konstruktivismus und aufgrund seiner komplizierten Ausdrucksweise besteht die Möglichkeit, ihn unterschiedlich zu interpretieren. Es sei an dieser Stelle aus Platzgründen nur ein kurzes Beispiel zur konstruktivistischen Lesart PIAGETS geben. Laut Jean PIAGET ist eine der ersten Konstruktionsleistungen des Kindes die „ Objektpermanenz “. Allgemein versteht man darunter die „subjektbedingte Koordination von Erfahrungsdaten verschiedenen Ursprungs“ (VON GLASERSFELD 1987, 103). Dabei geht man in naiv- realistischer Weise davon aus, dass die Umwelt feste Strukturen aufweist, die das Subjekt kennen lernen und richtig koordinieren muss. Es wird dabei, so die Argumentation von VON GLASERSFELD, nicht oder nicht deutlich genug hervorgehoben, dass bereits die Permanenz von Objekten als eine aktive Konstruktionsleistung des Menschen angesehen werden muss, die durch die Struktur seiner Sinnesorgane und seines Nervensystems entsteht und erst im Nachhinein auf die Außenwelt projiziert wird. Wir wissen nicht um die Permanenz von Objekten, wir haben uns vielmehr daran gewöhnt.

Es muss betont werden, dass VON GLASERSFELD jegliche Tendenz zu wenigstens einer gewissen Übereinstimmung zwischen kognitiven Strukturen und davon unabhängigen realen Strukturen kategorisch ablehnt. Dies ist eben die Pointe der gesamten radikal-konstruktivistischen Weltanschauung.

Die gesamte Theorie hängt ab von der „ Externalisierung von Konstrukten “, wie es PIAGET nannte: während der Realist glaubt, seine Wahrnehmungen seien eine Kopie oder eine Widerspiegelung von Strukturen, die unabhängig von ihm (objektiv) in der Welt existieren, gibt es für den Konstruktivisten „keine Strukturen als die, die das erkennende Subjekt durch die Tätigkeit der Koordinierung von Wahrnehmungspartikeln und Operationen konstituiert“ (VON GLASERSFELD 1987, 106).

Wir wollen noch einmal auf die bereits erwähnten Signale aus der Umwelt zurückkommen. Vom konstruktivistischen Standpunkt aus sind Sinneseindrücke wie Licht, Farbe, fest und flüssig, zwar ausgelöst von sogenannten Elementarteilchen oder Partikeln der Erfahrung. Darüber hinaus ist der Begriff „Elementarteilchen“ aber schon eine Konstruktion, die auf die Umwelt projiziert wird: „Der Konstruktivist, der sich der Tatsache bewusst bleibt, dass dieses „Elementarteilchen“sein Konstrukt ist, welches er dem Strom der Erfahrung aufprägt, kann es als in einem Neuron entstehendes Signal externalisieren, und hernach alle kognitiven Strukturen, gleichgültig auf welcher Ebene der Komplexität, als Resultate der aktiven Koordination solcher Signale durch das erkennende Subjekt auffassen.“ (VON GLASERSFELD 1987, 106).

Es ist ganz klar, dass für uns manche Gegenstände hart und manche weich sind (besser: erscheinen), ob sie diese Qualität allerdings tatsächlich besitzen ist nicht überprüfbar und für den radikalen Konstruktivisten reine Spekulation. In der konstruktivistischen Erkenntnistheorie bleiben also als erkennbare Daten (= Gegebenes) nur die Signale des Sensoriums im Inneren des individuellen Körpers übrig, die vom Subjekt koordiniert werden. Inwiefern das Subjekt genau aus diesem Grunde die Verantwortung für seine Welt alleine tragen muss, wird uns im weiteren Verlauf der Arbeit immer wieder beschäftigen. An diesem Punkt genügt es festzustellen, dass die Rede über „die Realität“ sowie über „Wahr“ oder „Falsch“ohne Bezug auf ein menschliches Subjekt durch die konstruktivistische Anthropologie unmöglich geworden ist. „Nur wer an dem Glauben festhält, der Mensch oder die Wissenschaft müsse in der Lage sein, die Welt zu entdecken „wie sie ist“, kann (bezüglich des radikalen Konstruktivismus, L.L.) davon sprechen, „dass die Welt sinnlos wird“.(...) Konservativen Denkern fällt es offenbar außerordentlich schwer, den Begriff des „Wissens“ von der Fiktion „absoluter Existenz“ zu trennen und einzusehen, dass diese erkenntnistheoretisch notwendige Trennung keinesfalls den Untergang „der Wissenschaft“ nach sich zieht.“ (VON GLASERSFELD 1987, 106).

Dass sich wissenschaftliche Aussagen dadurch grundlegend verändern, das hingegen ist durchaus das erklärte Ziel des ganzen Unternehmens ‚radikaler Konstruktivismus’.

So wird z.B. das Verhalten eines Menschen als Veränderung eines Inputs besser begriffen werden wie als Ergebnis eines Inputs. Das Ziel der Modifizierung ist immer die kognitive Homöostase, also die „Verminderung des Unterschieds zwischen der gegenwärtigen Koordination sensorischer Signale und einem vorgegebenen Konstrukt.“ (VON GLASERSFELD 1987, 109). Diese Vorstellung der Modifikation von Daten sei, so VON GLASERSFELD, implizit in PIAGETS Begriff des „Gleichgewichts“ enthalten, welches das Ergebnis von Assimilation und Akkomodation ist.

Zusammenfassend schreibt Ernst VON GLASERSFELD zur radikal-konstruktivistischen Interpretation der Theorie von Jean PIAGET:

„Die Vorstellung, die ein Organismus sich von der Umwelt macht, das heißt dessen Wissen von der Welt, ist in jedem Falle das Ergebnis seiner kognitiven Tätigkeit. Das Rohmaterial seiner Konstruktionen sind „Sinnesdaten“, und damit meint der Konstruktivist „Partikel der Erfahrung“, also Elemente, die keinerlei spezifische „Interaktionen“ oder Verursachungen auf Seiten einer bereits strukturierten „Realität“ jenseits der Erfahrungsschnittstelle des Organismus voraussetzen. Diese „Schnittstelle“ entspringt als kognitives Konstrukt der Externalisierung der Konstrukte des Organismus, einer Operation, die konkret an jedem bewussten selbst- bzw. erfahrungsbezogenen Akt beteiligt ist. Auch wenn Externalisierung eine notwendige Bedingung für das ist, was wir „Realität“ nennen, ist diese Realität dennoch gänzlich unser eigenes Konstrukt und darf in keinem Sinne als Widerspiegelung oder Abbildung der von den Philosophen sogenannten „objektiven“ Realität angesehen werden, denn kein Organismus kann kognitiven Zugang zu Strukturen haben, die nicht von ihm selbst gemacht sind“ (ders., a.a.O., 111f.).

Bevor ich das Konzept der Viabilität von Theorien vorstelle möchte ich kurz auf das konstruktivistische Verständnis von Wissenschaft im Allgemeinen eingehen.

5 Objektivität und Wissenschaft

„Die Wissenschaft beweist nie irgend etwas. (...) Manchmal verbessert die Wissenschaft Hypothesen, manchmal widerlegt sie welche. Aber beweisen wäre etwas anderes (...)“ (Gregory BATESON in „Geist und Natur“ 1984). Diese Aussage von Gregory BATESON, einem der Urväter des Konstruktivismus, zielt auf die Überzeugung, dass es sich bei Wissenschaft um eine besondere Art der menschlichen Wahrnehmung handelt, also um ein besonderes System der Konstruktionen, die unseren Wahrnehmungsgegenständen in einem bestimmten Kontext Sinn verleiht. Man kann mit Paul FEYERABEND (1986) sagen, dass es die Wissenschaft eigentlich gar nicht gibt, sondern nur wissenschaftlich denkende Subjekte bzw. Wissenschaftler, von denen jeder einzelne primär ein Mensch und Beobachter ist. Dies lässt sich nicht leugnen, auch wenn immer wieder Versuche gemacht wurden, die Subjektivität des Wissenschaftlers auszuschalten.

Wie wir bereits hörten, ist Wissen für den Konstruktivisten angemessenes Vorgehen in einem bestimmten Verhaltensbereich. Unter Verhalten subsumiert er auch alle Formen der Kognition - Denken ist ebenfalls Handeln. Darüber hinaus liegt es an uns Menschen, zu bestimmen, welches Verhalten als angemessen gelten soll und welches nicht – dies bedeuten die Begriffe Konvention und Konsens. Fast unbemerkt erweitert sich hier nun das Feld der konstruktivistischen Anthropologie vom singulären Sein des Einzelnen auf den zwischenmenschlichen Bereich, in dem Ethik und Verantwortung des Subjekts ihren Platz haben. Humberto MATURANA vertritt die Ansicht, dass die Angemessenheit von Handlungen in einem bestimmten Bereich immer durch zwischenmenschliche Konventionen und Akzeptanz determiniert wird. Das gilt auch für die Wissenschaft als einem kognitiven Verhaltensbereich. Das konventionelle Kriterium ihrer Akzeptanz ist die Validität wissenschaftlicher Erklärungen.

Validität wird durch die Durchführung von vier Operationen durch einen wissenschaftlich arbeitenden Beobachter (= Standard-Beobachter) festgelegt:

1. Die Präsentation des zu erklärenden Phänomens in Begriffen dessen, was ein Standard- Beobachter in seinem Erfahrungsbereich (Lebenspraxis) tun muss, um es zu erfahren.
2. Die Umformulierung des zu erklärenden Phänomens in Form eines Erzeugungsmechanismus, der, falls er von einem Standard- Beobachter in seinem Erfahrungsbereich verwirklicht würde, ihm gestatten würde, als Resultat oder Konsequenz dieser Operation, die Erfahrung zu machen, um deren Erklärung es, wie in 1. dargelegt, geht.
3. Die Deduktion anderer Erfahrungen, die ein Standard- Beobachter durch die Anwendung dieser operationellen Kohärenzen machen sollte, und der Operationen, die er in seinem Erfahrungsbereich ausführen muss, um sie zu machen, aus der Wirkungsweise des Erzeugungsmechanismus, wie er in 2. vorgeschlagen wurde, sowie aus allen davon betroffenen operationellen Kohärenzen des Erfahrungsbereiches eines Standard- Beobachters.
4. Die Erfahrung der in 3. deduzierten Erfahrungen oder Phänomene eines Standard- Beobachters durch die Verwirklichung der ebenfalls in 3. deduzierten Operationen in seinem Erfahrungsbereich.

(vgl. dazu MATURANA in WATZLAWICK 1991, 178f).

Erst wenn diese vier Bedingungen in der Lebenspraxis eines Standard- Beobachters gemeinsam erfüllt werden, darf mit Recht behauptet werden,

- dass es sich bei dem Erzeugungsmechanismus um eine wissenschaftliche Erklärung handelt,
- dass eine solche Erklärung gültig ist, solange diese Bedingungen herrschen,
- dass eine solche Erklärung in der Gemeinschaft der Wissenschaftler als Standard- Beobachter gültig ist, die akzeptieren, dass dem Kriterium der Validierung wissenschaftlicher Erklärungen genüge getan wurde.

Wissenschaft ist kognitive Handlungskoordinierung zwischen Menschen; ein „Netzwerk von Gesprächen“ (MATURANA), das nur in dem Kontext menschlicher Koexistenz Bedeutung und damit Gültigkeit hat, in dem es entsteht.

Wissenschaftliche Erklärungen sind demnach generative Hypothesen, welche als Umformulierung von subjektiver Erfahrung in die wissenschaftliche Sprache präsentiert werden, die als solche von einem Zuhörer als Antwort auf eine Frage akzeptiert werden.

Umgekehrt bedeutet das: eine wissenschaftliche Erklärung ist keine Erklärung, wenn sie nicht als solche akzeptiert wird.

Das Kriterium der Akzeptanz durch den Anderen ist von grundlegender Bedeutung für alle Bereiche der kommunikativ erzeugten Argumentation. Ich komme darauf mit Bezug auf den herrschaftsfreien Diskurs zurück. Das, was ein Wissenschaftler tut, beruht ausschließlich auf der operationellen Selbstverständlichkeit, in der die Wissenschaft als Form der menschlichen Koexistenz entsteht - unter Bedingungen also, in denen Begriffe wie Falsifizierung, Verifizierung oder Beweis nicht anwendbar sind (MATURANA in WATZLAWICK 1991, 173ff).

Wissenschaft und operationelle Validität und Effektivität sind davon aber auch nicht abhängig, weil sie nicht vorgeben, einen Bezug zur objektiven Realität herzustellen, sondern sich lediglich auf die operationelle Kohärenz im Erfahrungsbereich des Standard- Beobachters beziehen (dto.).

MATURANA leitet daraus folgende Konsequenzen ab:

- Wissenschaftliche Erkenntnis muss nicht als universell gültig akzeptiert werden, da sie nur für einen definierten Handlungsbereich von Beobachtern gültig ist, die das Kriterium der Validierung akzeptieren.
- Alle wissenschaftlichen Erklärungen beziehen sich auf die Lebenspraxis des Wissenschaftlers; er kann keine Erklärung hervorbringen, die nicht de facto in seiner Lebenspraxis verwurzelt ist.
- Emotionen beeinflussen grundsätzlich die Wissenschaft, weil sie den Handlungsbereich spezifizieren, in dem Fragen von uns formuliert werden.

Es gibt keine Fragen oder Probleme außerhalb unseres Erfahrungsbereiches in einer objektiven Realität.

„Wir konstituieren unsere Probleme und Fragen, während wir uns in unserer Lebenspraxis bewegen, und wir stellen die Fragen, die wir in unserem Emotionsfluss zu stellen wünschen“ (MATURANA in WATZLAWICK 1991, 192). Wir lösen Probleme deshalb wissenschaftlich, weil wir es so wünschen: „Die Wissenschaft ist also immer Ausdruck der Besorgnisse, Wünsche, Ambitionen, Hoffnungen und Phantasien von Menschen, ungeachtet des wissenschaftlichen Anspruchs auf Objektivität.“ (dto.)

Mit dem Konstruktivismus haben wir erstmals eine geschlossene und vollständige wissenschaftliche Theorie vorliegen, die auf die Rolle des Menschen als einen aktiven Beobachter beim Prozess des Erkennens eingeht. Damit sind wir in der Lage zu verstehen, wie wissenschaftliche Theorien (als besondere Form des sprachlichen Handelns innerhalb der Lebenspraxis) zustande kommen. Dies wird vor allem dann wichtig sein, wenn wir den Machtanspruch des Wissenschaftlers bzw. die Ansprüche der Gesellschaft an den Wissenschaftler ins Auge fassen. Nimmt man die wissenschaftstheoretischen Aussagen des Konstruktivismus ernst, so muss jeder wissenschaftliche „Experte“ sich und seine Mitmenschen über seine eigenen Voraussetzungen, Wünsche, Ziele und Möglichkeiten aufklären und die Grenzen seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse deutlich hervorheben, um verantwortlich handeln zu können. Dies gilt auch und insbesondere für Pädagogen, die häufig von gesellschaftlichen Ansprüchen überhäuft werden, ohne diesen auf verantwortliche Weise gerecht werden zu können. Wenn Wissenschaft abhängig ist von Konstruktionen, deren Schöpfer das Subjekt ist, so folgt daraus, dass das Subjekt verantwortlich ist für sein wissenschaftliches Denken und Vorgehen, dass es also Verantwortung nicht auf ein unpersönliches Ding wie „die Wissenschaft“ abwälzen kann.

Das Ziel des Konstruktivismus ist es, eine Theorie des Wissens zu formulieren, die ohne metaphysische Annahmen bezüglich der menschlichen Erkenntnisfähigkeit auskommt. Auf der biologischen Grundlage des Ansatzes von MATURANA/ VARELA erscheint Beobachtung und daraus resultierendes Wissen als eine Funktion des Lebens, d.h. Wissen soll einen bestimmten Zweck erfüllen.

Erkenntnis ist also im Gegensatz zu früheren Wissenschaftstheorien keinesfalls als Selbstzweck zu verstehen. Wissen ist immer angemessenes Vorgehen aufgrund unserer eigenen Kriterien, was angemessenes Vorgehen in einem bestimmten Bereich bedeutet. Wir sprechen also dann von „Wissen“, das jemand hat, wenn wir sein Verhalten als angemessen in einem bestimmten Bereich beschreiben können.

Das wiederum heißt, dass Wissen von unseren zwischenmenschlichen Beziehungen und Handlungskoordinierungen bedingt wird, und nicht vom So-Sein einer objektiv existierenden Realität. Zwecke und Ziele existieren nicht an sich, sondern werden vom Menschen selbst gesetzt und (möglicherweise) verwirklicht.

Es gibt daher genauso viele „Wahrheiten”, wie es Bereiche angemessener (d.h. erfolgreicher) Vorgehensweisen gibt. Der Konstruktivismus plädiert deshalb dafür, den Begriff „Wahrheit“ durch den Begriff der „Viabilität“ zu ersetzen, wobei Viabilität die Gangbarkeit eines Weges zur Lösung eines Problems meint, jedoch nicht der einzige Weg zum Ziel zu sein beansprucht.

6 Viabilität und Verantwortung

Auf der Basis der konstruktivistischen Wissenschaftstheorie müssen wir billigen, dass auch Anthropologie und daraus abgeleitete pädagogische Ansätze nur relative Gültigkeit beanspruchen können. Die Eigenschaften, die dem Menschen als sein Wesen zugesprochen werden, sind immer abhängig von einem Beobachter in einer bestimmten, geschichtlichen Lebenspraxis und sie werden unterschiedlich ausfallen, je nachdem welches Interesse dieser Beobachter verfolgt: ein Beobachter aus dem pädagogischen Bereich verfolgt andere Zwecke als ein Beobachter, dessen Lebenspraxis in der wirtschaftlichen Ökonomie verwurzelt ist. Er kommt deshalb auch zu einem anderen Bild dessen, was der Mensch ist oder sein soll.

[...]

Ende der Leseprobe aus 113 Seiten

Details

Titel
Konstruktivistische Anthropologie und das pädagogische Problem der Verantwortung
Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg  (Institut für Pädagogik)
Note
Sehr gut
Autor
Jahr
2005
Seiten
113
Katalognummer
V45046
ISBN (eBook)
9783638425209
ISBN (Buch)
9783638719698
Dateigröße
1186 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Umfangreiche Bearbeitung des radikal- konstruktivistischen Menschenbildes incl. Systemtheorie, Wissenschaftstheorie, Kritik des naturwiss. Paradigmas in der Psychologie, Sozialtheorie und Anwendung der Erkenntnisse auf Theorie und Praxis päd. Verantwortung im humanistisch- aufklärerischem Horizont. Originelle Verbindung von radikalem Konstruktivismus und Personalismus bzw. Existenzialismus.
Schlagworte
Konstruktivistische, Anthropologie, Problem, Verantwortung
Arbeit zitieren
Leonhard Laur (Autor:in), 2005, Konstruktivistische Anthropologie und das pädagogische Problem der Verantwortung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/45046

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