Jean-Paul Sartres existenzialistische Positionierungen im Kontext der Migrationsbewegungen des 21. Jahrhunderts


Hausarbeit, 2018

25 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS:

I. Einleitung

II. Historische Faktizität und moralische Reflexionsfähigkeit

III. Historische Faktizität und perspektivische Einschränkung

IV. Aufeinandertreffende Konstituierungen

V. Komplikationen und Resultate

VI. Wissensstände getrennter Ebenen

VII. Schlussfolgerung

LITERATURVERZEICHNIS:

„Warum beurteilen wir nicht ebenso den Menschen nach dem,

was sein eigen ist? Er hat ein großes Gesinde, einen schönen Palast,

so viel Geltung, so viele Einkünfte: all das ist um ihn, nicht in ihm.

[…] Es ist der Wert des Schwertes, den ihr wissen wollt, nicht den

der Scheide; ihr gäbt vielleicht keinen Pfifferling dafür, wenn ihr es

entblößt hättet.“

Michel de Montaigne

„Und um in einer nicht zu rechtfertigenden Situation klar zu sehen,

genügt es nicht, dass der Unterdrücker sie ehrlich betrachtet, er muss

auch die Struktur seiner Augen ändern.“

Jean-Paul Sartre

I. Einleitung

Angesichts einer allgegenwärtig spürbaren Verunsicherung, Hypernervosität und Orientierungslo­sigkeit innerhalb des öffentlichen Diskurses, die sich stets verorten lässt, sobald eine kontextuelle Nähe zu Themenkomplexen wie Flucht, Migration und dem Phänomen des kulturell Fremden entsteht, scheint es zielführend anhand der erarbeiteten philosophischen Positionen des 20. Jahrhunderts die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft versuchsweise zu erfassen, zu konturieren und zu gliedern. Entlang der philosophischen Positionierungen Jean-Paul Sartres, dessen existenzialistischer Standpunkt auf dem Recht der Freiheit des Einzelnen fusst, lassen sich basale Grundstrukturen herauslesen, deren Aktualität ungebrochen scheint, und deren Strukturmodelle eine Hinterfragung grundsätzlicher Relationen impliziert. So ist es die Relation des einzelnen Individuums zu seiner Existenz, welches die relevante Konstellation zu Gruppen, Gemeinschaften, Solidarität und Engagement (mit-)bestimmt, so, wie die Reflexionsfähigkeit des einzelnen Individuums als Parameter für die Handlungskompetenz gesehen werden kann und in direkter Linie auch zur Hinterfragung des Informationsflusses führt, welcher das Einzelindividuum anspricht um es mit dem kollektivem Geschehen zu vernetzen.

Die Rolle des Flüchtenden umfasst, spätestens seit dem Sommer 2015, im zeitgenössischen Kontext eine Art Potenzial zur Initialzündung von konfliktgeladenen Disputen, und sie wird paradigmatisch verkörpert von dem nicht zwangsläufig ausgehungerten Afrikaner, der vielleicht sogar Englisch ver­steht, vielleicht ein Handy besitzt, und nicht unbedingt dem Vorstellungsgebäude jener klassischen Figur entspricht. So sind es dann auch die Begegnungen auf hoher See, oder an den Randzonen und Inseln des Mittelmeeres, die exemplarisch stehen für die Begegnung zwischen gespaltenen und differenten Lebenswelten, deren Ungleichartigkeit eben gerade eine Hinterfragung der Strukturen und Positionen in Gang setzen muss.

Daher lautet - grob gesagt - die Frage, welche die folgenden Ausführungen ansatzweise zu beant­worten suchen: Wer trifft wie auf wen, und mit welchem Informationsstand? Im Zuge der Beleuch­tung dieser Zusammenhänge werden grundsätzliche Positionen Sartres dargestellt und in Bezug ge­setzt zu der aktuellen Situation, wobei eine holzschnittartige Struktur nicht zu vermeiden ist, da eine explizitere Ausarbeitung nur auf der Grundlage einer sehr viel ausgedehnteren Lektüre von Sartres Schriften in Erwägung zu ziehen wäre.

II. Historische Faktizität und moralische Reflexionsfähigkeit

Bei jedweiger argumentativ vorgebrachter Auseinandersetzung mit den Schriften Sartres streift man unwillkürlich tradierte Zuordnungsmuster, die von der herausragenden Identifikationsfigur der Lin­ken bis zu dem personifizierten anarchistischen Schreck des Bürgertums reichen[1], was an sich we­der einen zwingenden Widerspruch darstellen würde oder negativ konnotiert wäre, aber im Kontext des hier zu erörternden Themas zunächst etwas ausbalanciert sein will. Es kann schwerlich darum gehen, bei einem ebenso komplexen wie fragilen Kontext, welcher im Zuge der konkret faktischen Realitäten, auch das Leiden der von Flucht und Migration betroffenen miteinbezieht, schablonierte Präferenzen oder Ablehnungsmuster aufzugreifen.

„Ernsthaftigkeit beweist man, wenn man von der Welt ausgeht und ihr mehr Realität als sich selbst zuschreibt oder, zumindest, wenn man sich in dem Masse Realität verleiht, wie man der Welt ange­hört.“ [2] In diesem Sinne ist neben der unerbittlichen Illusionslosigkeit und Härte von Sartres existenzialistischer Philosophie, und seinem ständigen Appell zur Freiheit des Selbstentwurfes und der daraus resultierenden Freiheit des Einzelnen, vor allem an seine konkrete Bezugnahme auf die direkte und nicht zu leugnende Verantwortlichkeit des Einzelnen zu verweisen, die er selbst ein Leben lang wahrzunehmen suchte. Der Versuch ein möglichst gerechtes Leben zu führen war untrennbar gekoppelt an hartnäckiges, aufrichtiges und leidenschaftliches Engagement, dem eine Rigorosität zu eigen war, die passagenweise Fehlinterpretationen und Verurteilungen provozierte, aber auch schlichtweg zu Fehlern Sartres führte, wie z.B. der inzwischen auch mit historischem Abstand als zunehmend fragwürdig zu bezeichnende Besuch Sartres in Stuttgart Stammheim[3], der als Zeichen der Solidarität mit terroristischen Anschlägen gewertet werden konnte, oder auch eine immer wieder durchscheinende Affinität zur positiven Konnotation von bewusst eingesetzter Gewalt die ebenso Irritationspotenzial in sich birgt[4]. Demgegenüber steht allerdings eine nicht endende Aneinanderreihung von konkret wahrgenommener Verantwortlichkeit, geteilter Solidarität, und der Ablehnung jeglicher previligierter Relation, die den Gleichen unter Gleichen herauszuheben imstande wäre. Die Reflexion über die eigene Moralität führte - über die gewählte Lebensform und Tätigkeit hinausweisend - zu konkretem sozialpolitischem und humanitärem Engagement, welches ein emanzipatorisches politisches Handeln zu vertreten und herauszufordern suchte. Sartre scheute sich nie konkreten Bezug zu nehmen zu brisanten gesellschaftspolitischen Fragen.[5] Alles andere wäre mauvaise foi[6] gewesen, und dementsprechend eine Negationshaltung gegenüber sich selbst, bzw. eine Unaufrichtigkeit, von der der Betreffende Bewusstsein haben muss, „(...)weil ja das Sein des Bewußtseins Seinsbewußtsein ist. Ich muß also offenbar wenigstens darin aufrichtig sein, daß ich mir meiner Unaufrichtigkeit bewußt bin.[7]

Sartres Schriften beinhalten einige eindrucksvolle und pointiert dargestellte Modelle dieses (Zer-)Fallens vor sich selbst. In der 1938 erschienen Erzählung „Die Kindheit eines Chefs“ spielt Lucien Fleuriers sein Sein mehr, als dass er eine stabile Identität besäße, weswegen er als Konstante in seinem Leben einen ideologischen Überbau installiert: Die identitätsstiftende Mitgliedschaft bei den Camelots, einer rechtsradikalen und antisemitischen Organisation, was ihm erlaubt seiner zweifelnden Selbsthinterfragung mittels einer scheinbar legitimen Zugehörigkeit eine Ende zu setzen, zugunsten einer stabilen, hierarchisch geprägten, bürgerlichen Existenzform.[8] In dem 1944 uraufgeführten Theaterstück „Geschlossene Gesellschaft“ sind die drei Protagonisten ihrer Freiheit beraubt, zu der Hölle des ewigen menschlichen Miteinanders verdammt, und in ihren Beziehungen zueinander gekennzeichnet durch unauthentische und fixierte Verhaltensstrukturen, die ebenfalls ursächlich auf die mauvaise foi zurückzuführen sind, und durch welche sie innerhalb eines gnadenlosen Spiels die Abhängigkeit des Menschen von dem Urteil seines jeweiligen Gegenübers erfahren.[9]

So ist es die Reflexionsfähigkeit des Einzelnen bezüglich seiner eigenen Existenz, d.h. seiner effektiven Anwesenheit in der Welt, welche die Qualität seiner Existenz, und ebenso die Sinnhaftigkeit der von ihm erfahrenen Konstellationen mit anderen Subjekten bestimmt.

„Der Mensch kann nichts wollen, wenn er nicht zunächst begriffen hat, daß er allein ist, verlassen auf der Erde inmitten seiner unendlichen Verantwortlichkeiten, ohne Hilfe noch Beistand, ohne ein anderes Ziel als das, das er sich selbst geben wird, ohne ein anderes Schicksal als das, das er sich auf dieser Erde schmieden wird. Diese Gewißheit, diese intuitive Erkenntnis seiner Situation, das ist es, was wir Hoffnungslosigkeit nennen: es ist keine schöne romantische Verstörtheit, wie man sieht, sondern das nüchterne und klare Bewußtsein von der Lage des Menschen. So wie die Angst sich nicht vom Sinn für die Verantwortlichkeit unterscheidet, ist die Hoffnungslosigkeit eins mit dem Willen; mit der Hoffnungslosigkeit beginnt der wahre Optimismus: der Optimismus dessen, der nichts erwartet, der weiß, daß er keinerlei Recht hat und ihm nichts zukommt, der sich freut, auf sich allein zu zählen und allein zum Wohl aller zu handeln.“[10]

III. Historische Faktizität und perspektivische Einschränkung

Für Sartre, dessen Erfahrungen innerhalb des europäischen Faschismus ihn notwendigerweise eine unbeugsame Widerstandshaltung und ein entsprechendes Engagement innerhalb der Résistance wählen ließen, waren mit die größten Gefahren, die für die Freiheit des Einzelnen ausgehen konn­ten, begründet in staatlicher Gewalt und kolonialistischer Ausbeutung in jedweiger Form. Seine Analyse des Kolonialismus entlarvte dessen System mit ebenso eindringlicher wie erschreckender Klarheit, und knapp 60 Jahre nach dieser vor dem „Aktionskomitee der Intellektuellen gegen die Fortsetzung des Krieges in Nordafrika“ gehaltenen Rede, lässt sich deren Strukturanalyse mühelos auf die aktuell gegenwärtige Situation internationaler Beziehungen übertragen, nur mit dem Unterschied, dass manche Stelle aufgrund von „Understatement“ in der Form nicht mehr publikationsfähig wäre, bzw. dass es dieser spezifischen Mischung von Klarstellungen, Polemik und Konfrontationsdynamik gerade an Vertretern und Zuhörerschaft mangelt.

Dagegen ist es auch heute Gang und Gäbe Absatzmärkte für Exportartikel in ökonomisch instabilen Gebieten strategisch zu nutzen um weitere Abhängigkeiten zu erzeugen, um in weiterer Folge die ökonomische Vorherrschaft mit der politischen Einflussnahme zu koppeln, was derzeit auf dem afrikanischen Kontinent vor allem das klar konturierte Planziel Chinas sein dürfte.

Sartre schildert das kalkulierte Vorgehen der französischen Kolonialherren, deren vorrangiges Ziel die Übernahme des bereits kultivierten fruchtbaren Ackerlandes aus algerischem Besitz war. Zu diesem Zweck waren konfiszieren, sequestrieren oder das aufzwängen des französischen Bürgerlichen Gesetzbuches ebenso recht, wie es - in Folge der Enteignungen und Zerrüttungen der Strukturen - recht willkommen kam, dass ein „riesiges Landproletariat“ entstand, welches nun - am Rande von fortschreitender Verelendung und mit zunehmender Perspektivlosigkeit - zu Niedriglöhnen die Böden bewirtschaftete. Das enteignete fruchtbare Land diente nun zur Erzeugung französischer Bedarfsartikel, welche die Kolonialherren ins Mutterland gewinnbringend exportierten, während die Nahrungsmittel der algerischen Bevölkerung unterhalb der Bedarfsgrenze produziert wurden, wodurch Unterversorgung und Überteuerung dauerhaft den Markt der Grundnahrungsmittel bestimmten. Zuletzt produzierte die gewinnbringend aus dem Mutterland importierte Mechanisierung der Landwirtschaft eine weitere Welle der Arbeitslosigkeit und Verelendung, so dass Algerier ins Exil gingen, um in Frankreich eine wiederum untergeordnete Tätigkeit als ungelernte Hilfskraft aufzunehmen: Der Kolonialismus reproduziert sich somit in den Metropolen der Erstweltländer.

Sartre hinterfragte 1956 die Wertigkeit und Ernsthaftigkeit des gelieferten Ausgleichs „ für dieses von den europäischen Usurpatoren systematisch herbeigeführte Elend[11], indem er die Erfolge im Bereich der nicht direkt messbaren Güter untersuchte - Aufschließungsarbeiten und Bauarbeiten der öffentlichen Hand, Hygiene, Bildungswesen - bei denen sich jeweils ein völliges Versagen bzw. Desinteresse von Seiten der Kolonisatoren nachweisen ließ. „Eine der Funktionen des Rassismus besteht darin, den latenten Universalismus des bürgerlichen Liberalismus zu kompensieren: da alle Menschen die gleichen Rechte haben, macht man aus dem Algerier einen Untermenschen.“[12]

Die Affinität zu den aktuellen Verhältnissen ist eindeutig und augenscheinlich[13], auch wenn das Ge­wand des kolonialen Usurpators gewechselt wurde gegen die diskreter agierende Erscheinung des global agierenden Investment-Beauftragten.

Algerien, dass im Kontext der Entwicklung zum Neokolonialismus hier als Beispiel gilt, hat sein BIP inzwischen um ein Vielfaches erhöht, gehört zu den wirtschaftlich stabileren Ländern des afrikanischen Kontinents, verzeichnet inzwischen nur noch 3,2% Analphabetismus unter Jugendlichen[14], und kann unter den Völkern Afrikas als Verbündete der europäischen Nationen gelten - da die westlichen Bourgeoisien eine eingeborene Elite herangezüchtet haben, „(...) die durch Jahre rassistischer kultureller Manipulationen von einem beinahe pathologischen Selbsthaß und einer ebensolchen Selbstverachtung erfüllt ist. Der Rassismus hat somit eine Elite produziert, die, wie Fanon das einmal beschrieben hat, von dem unheilbaren Wunsch beseelt ist, sich permanent mit dem Westen zu identifizieren.“ [15] Und: Algerien geht aktuell gegen Einwanderer aus ärmeren Regionen Afrikas mit inhumanen Methoden vor, was sich, im Zuge der europa-internen Entwicklungen seit 2015 noch weiter verschärft hat, womit Algerien die Rolle des Schergen übernimmt, um so die Verflochtenheit von Kapitalismus und antischwarzem Rassismus deutlich vorzuführen.

Laut Frantz Fanon ist es jedoch offenkundig, dass eine wirkliche Verbesserung für die schwarze Bevölkerung nicht nur an eine subjektive und psychologische Ebene der Realisation von situativer Minderwertigkeit und Entfremdung gebunden ist, sondern vielmehr objektive materielle Anstrengungen notwendig sind um eine Veränderung der sozialen Strukturen zu bewirken.[16] Letztlich ist dies die absolut unabweisbare Grundbedingung für jegliche global konzipierte soziale Architektur des 21. Jahrhunderts.

IV. Aufeinandertreffende Konstituierungen

Die aus dem Ort der jeweiligen „Geworfenheit ins Leben“ entstehende graduelle Differenz der ob­jektiven Möglichkeiten lässt der Frage dieses Ursprungs eine übermächtige Entscheidungsgewalt zukommen, karikiert den Begriff des humanen Ideals der Gleichheit und Brüderlichkeit, und unter­mauert die hoffnungslose Verfangenheit in einer global-ökonomischen Hierarchie. Die Beteiligten dieser verfahrenen Situation, die sich an den markanten Grenzlinien, den legalen oder illegalen Transferzonen, begegnen, stammen aus scheinbar verschiedenen Welten, und ihr Blick streift je­weils die fremde Lebenswelt – sei es in einer Form des Begehrens, oder einer des Erfassens und Erahnens von Leid.

„Die Stadt des Kolonialherrn ist eine stabile Stadt, ganz aus Eisen und Stein. Es ist eine erleuchtete, asphaltierte Stadt, in der die Mülleimer immer von unbekannten, nie gesehenen, nicht einmal erträumten Resten überquellen. […] Die Stadt des Kolonialherrn ist eine gemästete, faule Stadt, ihr Bauch ist ständig voll von guten Dingen. Die Stadt des Kolonisierten, oder zumindest die Eingeborenenstadt, das Negerdorf, die Medina, das Reservat, ist ein schlecht be- rufener Ort, von schlecht berufenen Menschen bevölkert. Man wird dort irgendwo, irgendwie geboren. Man stirbt dort irgendwo, an irgendetwas. Es ist eine Welt ohne Zwischenräume, die Menschen sitzen hier einer auf dem anderen, die Hütten eine auf der anderen. Die Stadt des Kolonisierten ist eine ausgehungerte Stadt, ausgehungert nach Brot, Fleisch, Schuhen, Kohle, Licht. Die Stadt des Kolonisierten ist eine niedergekauerte Stadt, eine Stadt auf Knien, eine hingelümmelte Stadt, eine Stadt von Negern, eine Stadt von Bicots.“[17] „Der Blick, den der Kolonisierte auf die Stadt des Kolonialherrn wirft, ist ein Blick des geilen Neides, Besitzträume.

Aller Arten von Besitz: sich an den Tisch des Kolonialherrn setzen, im Bett des Kolonialherrn schlafen, wenn möglich mit seiner Frau. Der Kolonisierte ist ein Neider. […] Das ist wahr, es gibt keinen Kolonisierten, der nicht mindestens einmal am Tag davon träumt, sich auf dem Platz des Kolonialherrn niederzulassen. […] Dessen feindselige, drückende, aggressive Welt erscheint der kolonisierten Masse, die von ihr gewaltsam ausgeschlossen bleibt […] als ein Paradies in greifbarer Nähe, bewacht von furchteinflößenden Bluthunden.“[18]

Soweit Fanons Analyse des rassistischen Blicks auch überspitzte Zerrbilder auf die bereits internalisierten Rollenmuster der entfremdeten Kolonisierten wirft, und überdies einige Worst-Case-Imaginationen und Angstphantasien des rechtskonservativen Lagers bedient, so illustriert sie doch auch jene Momente des Imaginativen und der Voreingenommenheiten, die den Raum beherrschen, bevor eine reale Kreuzung der Blicke überhaupt stattfindet.

[...]


[1] König 1992, S. 7: „Der Vatikan erklärte zu Sartres Tod: « Er war ein Lehrer von Unsicherheit und Versagen. »“

[2] Sartre 1991, S. 944.

[3] Sartre besuchte Andreas Baader, den sog. „Generaldirektor“ der Baader-Meinhof-Gruppe am 4. Dezember 1974, um, weitgehend solidarisch mit der linksintellektuellen Szene Deutschlands, die in Stammheim praktizierte Isolationshaft solidarisch zu kritisieren. Retrospektiv kann dieses Engagement nur sehr bedingt als angemessen bezeichnet werden.

[4] Dabei ist anzumerken, dass Sartre häufig unterscheidet zwischen aktiv initiierter Gewalt und reaktiver Gegengewalt, womit beispielsweise der antikoloniale Kampf in Algerien als Reaktion und Gegen-Gewalt gewertet wurde, der als solches reaktives Potenzial aufweist. „Denn es ist nicht ihre Gewalt, sondern unsere, die in ihnen anwächst und sie zerreißt.“ (Sartre 1988 (II), S. 149.) Hierzu auch Erik M.Vogt 2012, S. 100ff., mit einer Gegenthese zu der Analyse des Gewaltbegriffs bei Fanon u. Sartre, welche Judith Butler 2008 in „Violence, Nonviolence: Sartre and Fanon“ publizierte.

[5] Sein Engagement gegen den Algerienkrieg, gegen die sowjetische Intervention in Ungarn, gegen die Intervention der Staaten des Warschauer Pakts zur Unterdrückung des „Prager Frühlings“, gegen den Vietnamkrieg und die Repression der Bewegung '68, sind dabei nur die meist publizierten Schlagworte. „Sartre war immer der Meinung: Selbst bei dem allergeringsten Verdacht, daß Menschen ungerecht oder unmenschlich behandelt werden, daß Stimmungen und Konstellationen sich aufbauen, in denen so etwas wie eine Hexenjagd beginnt, muß man auch um der Gefahr der eigenen Leichtfertigkeit und sogar des Irrtums schreien.“ (Suhr 1989, S. 114.)

[6] „Unaufrichtigkeit. […] Dieser Begriff ist die problematische deutsche Übersetzung des französischen Begriffs der »mauvaise foi«, der im Original in dem Gegensatzpaar bonne foi – mauvaise foi (bona fides / mala fides) gedacht wird und so nicht im Deutschen wiederzugeben ist.“ (Wroblewsky, von, 2008, S. 43.)

[7] Sartre 2008, S. 123. Vergl.: Hackel 2008, 15ff.

[8] „»Dort, wo ich mich suchte«, dachte er, »konnte ich mich nicht finden.« Er hatte nach bestem Wissen und Gewissen die gründliche Bestandsaufnahme all dessen, was er war, gemacht. »Sollte ich aber nur sein, was ich bin, wäre ich nicht mehr als dieser kleine Jude.« Wenn man so die schleimige Intimität durchstöberte, was konnte man entdecken, außer der Traurigkeit des Fleisches, der gemeinen Lüge von der Gleichgültigkeit, die Unordnung? »Erster Grundsatz« , sagte sich Lucien, »nicht versuchen, in sich hineinzusehen; es gibt keinen gefährlicheren Fehler.« Den wahren Lucien- das wußte er jetzt – mußte man in den Augen der anderen suchen, im furchtsamen Gehorsam von Pierrette und Guigatd, in der hoffnungsvollen Erwartung all dieser Wesen, die für ihn heranwuchsen und reiften, dieser jungen Lehrlinge, die seine Arbeiter werden würden, der Einwohner von Férolles, groß und klein, deren Bürgermeister er eines Tages sein würde.“ (Sartre 1993, S. 176.)

[9] „Also das ist die Hölle. Ich hätte es nie geglaubt … Wißt ihr noch: Schwefel, Scheiterhaufen, Rost … Was für Albernheiten. Ein Rost ist gar nicht nötig, die Hölle, das sind die Anderen.“ (Sartre 2002, S. 59.)

[10] Sartre 1986, S.

[11] König 1992, S. 130.

[12] Ebenda, S. 135.

[13] Waldenfels 2016, S. 179: „Der Tatbestand, daß die Weltgeschichte, unterstützt durch einen Weltmarkt, von der europäischen Kultur ausgeht, ist sicherlich nicht zu leugnen und auch nicht einfach zu bedauern; doch was ist das mehr als eine Spezialität Europas mit allen Licht- und Schattenseiten aus Entdeckung und Eroberung, aus Verständigung und Ausbeutung, die bis heute, beispielsweise auf dem afrikanischen oder dem süd-amerikanischen Kontinent, so deutlich ins Auge fällt? Auch hier schafft der bloße Verzicht aufs Ganze keine Alternative; denn für ein funktionierendes System reduziert sich das Fremde auf einen zu assimilierenden Fremdkörper.“

[14] https://knoema.de/atlas/Algerien/topics/Bildung/Alphabetisierung/Analphabetismus-Erwachsene

[15] Mellah, 2009.

[16] (Fanon 1980, S. 10). In diesem Sinne ist zur Durchsetzung dieser Forderung nach Anerkennung und ökonomischen Mitteln durchaus Kampf erforderlich, und vielmehr ist es der Versuch der Gegenwart die Möglichkeit ihrer geschichtlichen Wandlung vor Augen zu führen, wenn Sartre oder Fanon starke Appelle formulieren, als ein sog. Predigertum der Gewalt, wie Hannah Arendt es formulierte. (Arendt 1981, S. 66).

[17] Fanon 1981, S. 32.

[18] Ebenda, S. 33; 44.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Jean-Paul Sartres existenzialistische Positionierungen im Kontext der Migrationsbewegungen des 21. Jahrhunderts
Hochschule
Universität Wien  (Philosophie)
Note
1,0
Autor
Jahr
2018
Seiten
25
Katalognummer
V450277
ISBN (eBook)
9783668855380
ISBN (Buch)
9783668855397
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kolonialismus, Plurale Freiheitsbegriffe, Der Blick des Anderen, Das/Der Fremde, Xenophobie, Frantz Fanon, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Existenzialismus, Migration, Kommunitarismus/Liberalismus, Colonialism and Neocolonialism, Black Skin, White Masks, Racism and Dehumanization, Jean-Paul Sartre, Antikolonialismus
Arbeit zitieren
Silvia Schiffgen (Autor:in), 2018, Jean-Paul Sartres existenzialistische Positionierungen im Kontext der Migrationsbewegungen des 21. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/450277

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