Gewalt an Schulen. Ein Beitrag zur Prävention im schulischen Kontext


Examensarbeit, 2005

162 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Begriffsdefinition
2.1 Aggression und Gewalt - Versuch einer definitorischen Klärung
2.2 Verschiedene Arten

3 Entstehungsmechanismen

4 Erklärungspositionen aggressiven Verhaltens
4.1 Triebtheorien
4.1.1 Triebtheorien der Psychoanalyse nach FREUD
4.1.2 Triebtheorie der Ethologie nach LORENZ
4.2 Frustrations-Aggressions-Theorie
4.3 Lernpsychologische Theorien
4.3.1 Klassisches Konditionieren
4.3.2 Operantes Konditionieren
4.3.3 Beobachtungslernen
4.3.4 Kognitives Lernen
4.4 Kritische Reflexion

5 Aggressionsfelder
5.1 Persönliches
5.2 Familie
5.3 Medien
5.4 Schule
5.5 Peergroups

6 Gewaltprävention
6.1 Einzelne Praxisfelder
6.1.1 Erziehung in der Familie
6.1.2 Medien
6.1.3 Schule
6.1.4 Gesellschaft
6.2 Grundformen der Gewaltprävention nach MARTIN
6.3 Ein Präventionskonzept nach NOLTING
6.3.1 Aggression abreagieren - geht das?
6.3.2 Die Anreger verändern
6.3.3 Die Anreger anders bewerten
6.3.4 Aggressionshemmungen fördern
6.3.5 Alternatives Verhalten lernen
6.4 Präventionsprogramme
6.4.1 Familien-Management nach PATTERSON
6.4.2 Training mit aggressiven Kindern nach PETERMANN/PETERMANN
6.4.3 Interventionsprogramm in schwierigen Schulklassen nach GUGGENBÜHL
6.4.4 Schulisches Interventionsprogramm nach OLWEUS
6.5 Kritische Reflexion

7 Verallgemeinerung der Erkenntnisse und Ausblick

Literaturverzeichnis

Internetverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Anhang

1 Einleitung

Bereits im Alten Testament sind Aggression und Gewalt sowohl von den Menschen als auch von Gott ein Thema. Adam und Eva versündigen sich gegen Gott. Gott vertreibt diese daraufhin aus dem Paradies (vgl. Gen 3, 23-24) und wenig später erschlägt Kain seinen Bruder Abel (vgl. Gen 4, 8). Am deutlichsten wird der alttestamentarische, zornige und aggressive Gott, wenn er fordert: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (Ex 21, 24).

Nach DARWIN muss eine Art um ihr Überleben kämpfen, denn nur der Stärkere überlebt (vgl. 1963, S. 120). Um überleben zu können, ist natürlich Gewalt im Spiel. Es gilt, in der Konkurrenz zu bestehen und sich durchzusetzen. Dies hatte DARWIN damals in erster Linie auf die Tierwelt bezogen, doch diese Aussage ist durchaus auch auf den Menschen zu übertragen. Ein Blick auf die Literatur bestätigt das, wenn z. B. EIBL‑EIBESFELDT konstatiert, dass sich Tiere einer Art sehr oft bekämpfen. Die Geschichte der Menschheit ist nach der Autorin eine Geschichte von Gewalttaten. Dieses aggressive Verhalten bestimmt auch die heutige Zeit. Gewiss bestehen kulturelle Unterschiede (vgl. EIBL‑EIBESFELDT, 1970, S. 77). Jedoch scheint die „Aggressivität als Disposition zur Aggression vielmehr auf der ganzen Erde verbreitet“ (EIBL‑EIBESFELDT, 1970, S. 88-89), was diese aber keineswegs rechtfertigt. Gewalt ist demnach tief in den Instinkten des Menschen verwurzelt. Kriege ziehen sich durch die ganze Menschheitsgeschichte und galten lange Zeit „als eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ (CLAUSEWITZ, 1963, S. 22). Doch im Gegensatz zu den Tieren hat der Mensch die Macht, sich gegen seine Instinkte und Triebe zu entscheiden. In der heutigen freien und aufgeklärten Gesellschaft besitzt der Staat deshalb ein alleiniges Gewaltmonopol, welches besagt, dass „allein staatliches Handeln die Anwendung physischer Gewalt legitimieren kann“ (WEBER, http, 21.11.2004). Die Anwendung physischer Gewalt ist also außer in Notwehrsituationen nicht erlaubt.

In Medienberichten ist jedoch immer häufiger von einer Verrohung unserer Gesellschaft die Rede. Vor allem im Bereich der Schule haben nach Ansicht der Medien die Häufigkeit und Schwere von Gewalt rapide zugenommen. Bis vor ein paar Jahren schien dies aber hauptsächlich ein Problem in den USA zu sein und Vorfälle wie am 20. April 1999 an der Columbine High School in Littleton, als 15 Schüler ermordet wurden, schienen in Deutschland undenkbar. Der Amoklauf am Erfurter Gutenberg Gymnasium am 26. April 2002 hat jedoch diese Dimension der Gewalt auch nach Deutschland gebracht. Vor allem nach dieser Tat wurden von den Medien sehr schnell Gewaltfilme, Computerspiele und gewaltverherrlichende Musik als Ursachen präsentiert:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Onlinebericht der Süddeutschen Zeitung zum Amoklauf von Erfurt (SCHULTE VON DRACH, http, 5.1.2005)

Die vorliegende Arbeit soll jedoch tiefergehend untersuchen, wie es zu Aggression und Gewalt bei Schülern kommen kann und welche präventiven Maßnahmen es gibt. In diesem brisanten Thema wäre es fatal, vorschnelle Schlüsse zu ziehen und darauf Lösungsvorschläge aufzubauen.

Das Thema „Aggression und Gewalt“ wird mir auch in meiner zukünftigen Lehrerlaufbahn begegnen, sodass ich es vorab als sehr wichtig erachte, mich mit diesem Thema und vor allem mit den Präventions- und Interventionsmöglichkeiten zu beschäftigen.

Zur Gliederung dieser Arbeit: Zunächst wird versucht, die Begriffe Aggression und Gewalt terminologisch gegeneinander abzugrenzen und die verschiedenen Arten von Aggression und Gewalt darzustellen. Anschließend wird ein Blick auf die Entstehungsmechanismen geworfen und verschiedene Erklärungspositionen zur Entstehung aggressiven Verhaltens einander gegenübergestellt. Einer Darstellung der verschiedenen Aggressionsfelder folgt eine Betrachtung von Präventionsmöglichkeiten in den verschiedenen Praxisfeldern. Diese Betrachtung wird durch verschiedene Präventionsprogramme vertieft. Im abschließenden Kapitel erfolgt eine Zusammenfassung der gewonnenen Erkenntnisse.

Es ist noch anzumerken, dass in vielen Bereichen des menschlichen Zusammenlebens Gewalt(taten) und Aggression zu finden sind. Zu nennen wären hierbei u. a. Krieg, Terrorismus, Rechts- und Linksextremismus und Ausländerfeindlichkeit. Auf diese Gebiete kann in der vorliegenden Arbeit allerdings nicht ausgiebig eingegangen werden bzw. diese können zum Teil nur gestreift werden, da der Fokus der Arbeit auf Gewalt bei Heranwachsenden und deren Präventionsmöglichkeiten im schulischen Kontext liegt.

2 Begriffsdefinition

2.1 Aggression und Gewalt - Versuch einer definitorischen Klärung

Aggression ist ein Begriff, der sehr unterschiedlich verstanden wird. Einige Menschen assoziieren mit ihm Bedrohungen, verbale, körperliche, sexuelle und seelische Gewalt, aber auch Sachbeschädigungen. Andere sprechen durchaus auch bei „Missachtung oder mangelnde[r] Hilfeleistung“ (NOLTING, 2004, S. 21) von Aggression. Für die einen ist Aggression mit Streit und Zorn verbunden, die anderen sehen ein Handeln aus kühler Berechnung heraus schon als solche an. Wieder andere sprechen dann von Aggression, wenn sie eine Verhaltensweise als ungerechtfertigt erachten. Dies alles sind individuelle Ansichten. Bei Versuchen, eine allgemeingültige Definition zu formulieren, kann überlegt werden, „welche Phänomene so benannt werden sollten“ (NOLTING, 2004, S. 21). Innerhalb der Aggressionsforschung gibt es hierfür verschiedene Ansichten. Doch die Forscher wurden sich insofern einig, dass zwei Aspekte übereinstimmen, welche in einer Definition deutlich zum Ausdruck gebracht werden müssen: Aggressives Verhalten bedeutet, einem Lebewesen zu schaden oder es zu verletzen sowie die Absicht des Täters, bei dem Opfer negative Folgen herbeizuführen (vgl. MUMMENDEY/OTTEN; in STROEBE et al., 2002, S. 355).

Im Bereich der Aggression gibt es sowohl weit als auch enger gefasste Definitionen: Der weit gefasste Begriff ist vom lateinischen Wort „aggredi“ abzuleiten und meint „an jemanden oder an etwas heranzugehen oder jemanden anzugreifen“. Dieser Begriff bedeutet im Prinzip dasselbe wie Aktivität und wird daher wenig verwendet. Das Individuum kann sich verhalten wie es möchte, es wird nach dieser Auffassung immer als aggressiv angesehen. Zudem bleibt ziemlich unklar, „welche Phänomene man eigentlich erklären und ggf. verhindern möchte“ (NOLTING, 2004, S. 25). Dennoch gibt es einige Vertreter dieses weit gefassten Begriffs. BACH/GOLDBERG definieren Aggression als Verhalten, „das im wesentlichen das Gegenteil von Passivität und Zurückhaltung darstellt“ (1974, S. 14). MITSCHERLICH versteht unter Aggressivität „alles, was durch Aktivität - zunächst durch Muskelaktivität - eine innere Spannung aufzulösen sucht“ (1969, S. 12). HACKER äußert sich zu dem weit gefassten Aggressionsbegriff folgendermaßen:

„Aggression ist jene dem Menschen innewohnende Disposition und Energie, die sich ursprünglich in Aktivität und später in den verschiedensten individuellen und kollektiven, sozial gelernten und sozial vermittelten Formen von Selbstbehauptung bis zur Grausamkeit ausdrückt“ (1971, S. 80; in NOLTING, 2004, S. 24).

Disposition und Energie sind Formen, die etwas wie eine innere Bereitschaft und aggressive Impulse meinen. Für diese wird manchmal auch der Begriff Aggressivität [1] gebraucht. Er bezieht sich auf die „individuelle Ausprägung bei einem einzelnen Menschen“ (NOLTING, 2004, S. 30).

Die enger gefassten Definitionen dagegen beziehen Schädigung, Verletzung und das Zufügen von Schmerz ein. MUMMENDEY et al. nennen drei gemeinsame Nenner aller Auffassungen von Aggression, von denen sich die meisten Menschen in ihrem Aggressionsverständnis leiten lassen. Bei einer enger gefassten Definition sollten folgende drei Merkmale beachtet werden:

1. Schaden
2. Intention
3. Normabweichung (kulturell unterschiedlich durch die Gesellschaft definiert) (vgl. 1982; in NOLTING, 2004, S. 22)

In enger gefassten Definitionen müssen zumindest zwei von diesen drei Kriterien vorhanden sein. Solche Definitionen stammen z. B. von MERZ, FÜRNTRATT, SELG et al. und BERKOWITZ. Für MERZ umfasst Aggression „jene Verhaltensweisen, mit denen die direkte oder indirekte Schädigung eines Individuums, meist eines Artgenossen, intendiert wird“ (1965; in NOLTING, 2004, S. 22). FÜRNTRATT versteht unter aggressiven Verhaltensweisen solche, „die Individuen oder Sachen aktiv und zielgerichtet schädigen, sie schwächen oder in Angst versetzen“ (1994; in NOLTING, 2004, S. 22). Der Täter verfolgt eine Absicht, zu der er sich meist zuvor die möglichen Vorteile seiner Tat überlegt hat (vgl. KORTE, 1994, S. 21).

Beide Definitionen schließen eine Intention oder eine Zielsetzung ein. BERKOWITZ sieht Aggression in enger gefasster Definition als ein „Verhalten, dessen Ziel eine Beschädigung oder Verletzung ist“ (1980; in HINSCH et al., 1998, S. 134). SELG et al. verweisen auf den Aspekt, dass „interpretierte ‚Gerichtetheit’ [¼] zufälliges Zufügen von Schmerz usw. nicht als Aggression gelten lassen [soll]“ (1997, S. 5). Mit dieser Ansicht umschreiben sie den Begriff wie folgt: „Eine Aggression besteht in einem gegen einen Organismus oder ein Organismussurrogat gerichteten Austeilen schädigender Reize“ (SELG et al., 1968; in SELG et al., 1997, S. 4). Aggression bezeichnet hier ein Verhalten. Für die Autoren bezeichnet Aggression keinen Affekt und keine unangenehme Spannung. Sie kritisieren somit die Ansicht des weit formulierten Aggressionsbegriffs von FREUD, PARENS und MITSCHERLICH, die das Verhalten von Menschen und Tieren nur auf die zwei weit gefassten Begriffe Sexualität und Aggressivität verteilen. Sie werfen ihren Blick zudem kritisch auf den Sprachgebrauch im Alltag, in dem sich die Verwendung des Begriffs häuft, ohne sich seiner wahren Bedeutung wirklich bewusst zu sein. So ist in der Zeitung häufig von einer aggressiven Spielweise eines Fußballers die Rede, bei der nicht die Aggression gegen seinen Gegner gemeint ist, sondern seine dynamische, kraftvolle Spielart (vgl. SELG et al., 1997, S. 2-3). Dagegen wird der Begriff fast nie im positiven Sinne verwendet, z. B. bei einem aggressiven Eingreifen zum Schutze eines Unterlegenen (vgl. SELG et al., 1997, S. 5-6).

Doch auch eine zu enge Sicht wie die von WERBIK (1974) wird kritisch betrachtet. Er erachtet den Gebrauch des Begriffs nur als angemessen, wenn der Täter aggressive Intentionen gesteht (vgl. SELG et al., 1997, S. 3). MUMMENDEY et al. trennen so offensichtlich zwischen Aggression von Mensch und Tier, dass ein gemeinsamer Rahmenbegriff nicht mehr richtig erscheint (vgl. 1982; in SELG et al., 1997, S. 3).

Neben dem typischen Gebrauch des Begriffs der Aggression geht es zum einen um intendierte Schädigung, was zeigt, dass er eine Feststellung beinhaltet und um welche Handlungsart es sich handelt. Zum anderen schließt sich dem Begriff die Normabweichung bzw. die Unangemessenheit an. Durch letzteres wird eine Bewertung gegeben, die davon abhängig ist, welchen Platz die eigene Person in diesem Fall einnimmt. Die eigene Person wird bei einer Handlung meist als Opfer, selten als Täter angesehen und so wird der Begriff der Aggression und der Gewalt kaum auf sich selbst bezogen. Dies hat mit einem Begriff, auf den in der Wissenschaft zurückgegriffen werden kann, wenig zu tun. Daher möchte z. B. TEDESCHI (1984) den Begriff der Aggression ver­meiden und dafür auf seine Phänomene wie Drohung und Bestrafung zurückgreifen und untersuchen (vgl. NOLTING, 2004, S. 27-29).

Eng verbunden mit dem Begriff der Aggression ist der der Aggressivität. SELG et al. verstehen Aggressivität allein als eine „erschlossene, relativ überdauernde Bereitschaft zu aggressivem Verhalten“ (1997, S. 10). Sie nehmen an, dass bestimmte Situationen die Aggressivität eines Menschen steigern oder senken. Hohe Aggressivität zeugt von einer hohen Bereitschaft, in einer bestimmten Situation aggressive Reaktionen zu zeigen, da die Person nicht gelernt hat, die Probleme anders zu lösen. Das heißt aber nicht, dass ein verbal aggressiver Schüler auch körperlich aggressiv ist (vgl. SELG et al., 1997, S. 10-11).

Aggressivität bezieht sich häufiger auf die „individuelle Ausprägung bei einem einzelnen Menschen“ (NOLTING, 2004, S. 30). Hierzu kann ergänzt werden, dass Aggressivität die Absicht beinhaltet, verletzend zu handeln (vgl. BRÜNDEL/HURRELMANN, 1994, S. 23). MEYENBACH/SCHOLZ sehen Aggressivität allgemein als ein „affektbestimmtes Angriffsbedürfnis, das wir in seiner relativen Normalität spüren und das wir auch keinesfalls ständig unterdrücken sollten“ (1995, S. 18). In Verbindung mit der Schule sprechen sie von einer zielgerichteten, absichtlich herbeigeführten verbalen oder körperlichen Handlung Schülern oder Lehrern gegenüber (vgl. MEYENBACH/SCHOLZ, 1995, S. 18).

Gewalt ist im Deutschen ein mehrdeutiger Begriff. Es wird damit die Macht oder das Recht über etwas bezeichnet. Der staatspolitische Begriff der Gewaltenteilung hat lediglich etwas mit einer Aufteilung von Macht zu tun. Der Begriff geht historisch als weitgefasste Definition auf das Verb „walten“ zurück, welches die Tätigkeit einer Macht beschreibt, der eine gestaltende und ordnende Aufgabe beigemessen wurde. In der heutigen Sprachverwendung ist dieser Ursprung noch in den Wörtern „Anwalt“ und „Verwaltung“ zu finden (vgl. OTTO/MERTEN, 1993; in REINERT/WEHR, S. 69; RAUSCHENBERGER; in VALTIN/PORTMANN, 1995, S. 39-40). „Gewalt“ hat in der deutschen Sprache somit zweierlei Bedeutungen, da es sowohl diese gestaltende Machtausübung als auch eine barbarische Destruktion meinen kann (vgl. RAUSCHENBERGER; in VALTIN/PORTMANN, 1995, S. 40). In dieser Arbeit soll nur die zweite Bedeutung der Gewalt als Mittel zum Schaden betrachtet werden.

Vor allem körperliche Formen von Aggression (Schlagen, Treten und Kneifen) werden als Gewalt angesehen. Sie umfassen alle Handlungen, die Schädigungen herbeiführen (vgl. NOLTING, 2004, S. 30-31). In verbaler Form führen aggressive Handlungen nicht direkt zu offensichtlichen Beschädigungen, sind deswegen aber nicht minder gefährlich. Es gibt inhaltlich aggressive verbale Handlungen (Verleumden, Hetzen oder Drohen), aber auch Verbalaggression (Fluchen oder Beschimpfen), die sich durch einen eigenen Wortschatz auszeichnet (vgl. KIENER, 1983; in NOLTING, 2004, S. 31). Nonverbale Formen von Aggression wie Mimik und Gestik (böse Blicke, Schlag der Faust in die eigene flache Hand als Androhung von Schlägen und drohender Zeigefinger) werden weniger als Gewalt angesehen.

Der Begriff Gewalt wird als eine engere Definition von Aggression bezeichnet (vgl. NOLTING, 2004, S. 25-26). Einige Aggressionsforscher verwenden die Begriffe der Aggression und der Gewalt synonym. Nach KORTE beinhaltet „der Begriff Gewalt eine schwerere Form von Aggression“ (1994, S. 21) und wird nicht grundlegend mit Machtausübung assoziiert. PREUSCHOFF/PREUSCHOFF sind der Ansicht, dass „Gewalt [...] immer an Macht geknüpft [ist], denn nur Macht ermöglicht dauerhafte, zielgerichtete Aggressionen“ (1992, S. 28). Diese Definition wird insofern in Frage gestellt, da auch Menschen, die keine Macht besitzen, ihre Mitmenschen körperlich und sexuell belästigen können (vgl. KORTE, 1994, S. 21).

OLWEUS definiert Gewalttätigkeit wie folgt:

„Ein Schüler oder eine Schülerin ist Gewalt ausgesetzt oder wird gemobbt, wenn er oder sie wiederholt und über eine längere Zeit den negativen Handlungen eines oder mehrerer anderer Schüler oder Schülerinnen ausgesetzt ist“ (1986, 1991; in OLWEUS, 1996, S. 22).

Unter „negativer Handlung“ ist das absichtliche Verletzen oder Zuführen von Unannehmlichkeiten an einer Person zu verstehen. Negative Handlungen können verbal, körperlich oder nonverbal sein (vgl. OLWEUS, 1996, S. 22). Er weist zudem darauf hin, dass Gewalt durch einen Täter oder eine Tätergruppe verschuldet werden und das Opfer dabei eine einzelne Person oder eine Gruppe sein kann. Bezogen auf die Schule ist es häufig der Fall, dass ein Schüler Opfer einer Tätergruppe ist. Wichtig anzumerken ist auch, dass der Begriff der Gewalt nur bei einem „Ungleichgewicht der Kräfte“ verwendet werden sollte, nicht bei zwei körperlich oder seelisch Gleichstarken (vgl. OLWEUS, 1996, S. 23). Es besteht also ein Ungleichgewicht in Hinblick auf Stärke, Status und Macht. Das Opfer hat Mühe sich zu wehren, ist den Taten des Gewalttäters oder der Gewalttäter machtlos ausgesetzt und dem Täter unterlegen (vgl. OLWEUS, 1996, S. 61).

Gewalt lässt sich einteilen in direkte und indirekte Gewalt [2]. Eine direkte oder personale Gewalt ist gegeben, wenn eine Person einer anderen Person oder einer Sache Schaden zufügt, d. h. wenn es einen Täter gibt. Sie lässt sich unterteilen in physische und psychische Gewalt:

- Physische Gewalt geht mit einem direkten Kontakt und der körperlichen Beschädigung des Opfers einher.
- Psychische Gewalt führt zwar auch zu einer Beschädigung des Opfers, aber diese ist nicht direkt nach außen hin sichtbar (vgl. NOLTING, 2004, S. 26).

Die Bezeichnung der indirekten oder auch strukturellen Gewalt hat GALTUNG gebräuchlich gemacht. Er meint hierbei „die stille Unterdrückung durch ein System sozialer Ungerechtigkeit“ (GALTUNG, 1975; in NOLTING, 2004, S. 26). Obwohl nicht direkt physische oder psychische Gewalt angewandt wird, können die Opfer von indirekter Gewalt dieselben physischen und psychischen Schäden erleiden wie durch direkte Gewalt
(z. B. das Verhungern oder Verdursten unterprivilegierter Bevölkerungsschichten). Die strukturelle Gewalt soll vom Begriff der Aggression abgrenzt werden, da diese Schäden nicht mit einer bestimmten Intention herbeigeführt werden (vgl. NOLTING, 2004, S. 26). Die personale Gewalt bildet die Schnittstelle von Aggression und Gewalt. Hier findet körperliche Gewalt statt.

Die Ebenen des aggressiven Verhaltens und der aggressiven Emotionen werden oft miteinander verwechselt, dürfen aber nicht gleichgestellt werden. NOLTING erachtet es daher als wichtig, anstelle des Begriffs der Aggression vielmehr „aggressives Verhalten/Handeln“ zu verwenden und von „aggressiven Emotionen, Bedürfnissen, Impulsen“ (2004, S. 31) zu sprechen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Schema zum Verhältnis der Begriffe Aggression und Gewalt (NOLTING, 2004, S. 26)

2.2 Verschiedene Arten

Aggression lässt sich auf verschiedene Arten systematisch klassifizieren. „Eine Systematik der Aggression kann äußerlich-formal und/oder mehr inhaltlich-motivational geschehen“ (SELG et al., 1997, S. 11).

Zunächst sollen die äußerlich-formalen Unterteilungen näher erläutert werden. Die offene Aggression wird in verbale und körperliche getrennt (vgl. BUSS, 1961; in SELG et al., 1997, S. 11). Direkt körperliche Aggression führt meist zu Verletzungen und Schmerzen. Verbale Angriffe dagegen können genauso verletzend sein, werden von der Umwelt jedoch nicht so explizit wahrgenommen, da keine offensichtlichen Verletzungen zurückbleiben (z. B. blaue Flecken, Schwellungen oder Kratzer).

Die verdeckte Aggression kommt in Worten, Zeichnungen, vereinzelt auch in Mimik und Gestik zum Vorschein (vgl. SELG et al., 1997, S. 11-12).

Eine weitere Unterteilung kann in die direkte und indirekte Aggression erfolgen. Die direkte Aggression ist unmittelbar gegen das Opfer gerichtet, während die indirekte Aggression meist auf das abwesende Opfer zielt (z. B. Verbreitung von Gerüchten oder Sachbeschädigung).

SELG et al. beschreiben auch eine Unterteilung in direkte und verschobene Aggression. Bei der verschobenen Aggression kann sich zum einen ein Zuschlagen-wollen noch in ein Schimpfen verschieben, zum anderen kann das eigentliche Zielobjekt durch ein anderes ersetzt werden. Ein weiterer formaler Unterscheidungsfaktor sind Aggressionssubjekt und -objekt. Eine Aggression kann von einer Einzelperson oder von einer Gruppe ausgehen und sich gegen andere oder sich selbst richten (Autoaggression) (vgl. SELG et al., 1997, S. 12-13).

In einer Gruppe wird zwischen aktiver und passiver Aggression unterschieden. Ein aktiver Gewalttäter ergreift bei einer Tat die Initiative. Passiv sind die Gruppenmitglieder, die als „passive Gewalttäter, Mitläufer oder Gefolgsleute“ bezeichnet werden können, also jene, die bei einer Gewalttat durchaus mitwirken, aber nicht die Initiative ergreifen (vgl. OLWEUS, 1996, S. 44). Die Mitläufer können unsicher und/oder ängstlich sein, müssen es aber nicht. Aktive Gewalttäter haben i. d. R. Freunde, die hinter ihnen stehen und sie mögen[3] (vgl. OLWEUS, 1996, S. 45).

Bei der inhaltlich-motivationalen Differenzierung werden vor allem zwei Grundtypen unterschieden: affektive und instrumentelle [4] Aggressionsformen. Die affektiven Aggressionsformen beinhalten in der Tat ein Aggressionsbedürfnis. Sie kommen aus Ärger und Wut zum Vorschein und finden ihre Befriedigung erst, wenn dem Opfer geschadet, Leid und Schmerz zugefügt wurde.

Die instrumentellen Aggressionsformen entstehen aus einer Berechnung heraus. Sie sind auf ein Ziel wie Gewinn oder Anerkennung ausgerichtet. Es wird versucht, mit dem Instrument Aggression Aufgaben oder Probleme zu lösen. Schädigungen und Schmerzzufügung werden nicht direkt angestrebt, aber auch nicht unmittelbar übergangen. Schädigung und Schmerzzufügung sind Mittel zum Zweck. Sie finden ihre Befriedigung, wenn der Zweck erreicht wurde (vgl. SELG et al., 1997, S. 13-14; NOLTING, 2004, S. 148).

Diese beiden Grundtypen treten in den folgenden Unterteilungen mehr oder weniger in reiner Form auf: Unmutsäußerung, Vergeltung, spontane Aggression, Abwehr- und Erlangungs-Aggression. Zwischen den Typen können auch Mischformen auftreten (vgl. NOLTING, 2004, S. 151).

Innerhalb der affektiv-aggressiven Reaktionen gibt es die Unmutsäußerung und die Vergeltung. Die Unmutsäußerung ist reaktiv und wird nicht als eine Aggression im engeren Sinn angesehen. Der Affektausdruck gestaltet sich impulsiv, jedoch wenig zielgerichtet und ist nicht darauf aus, eine Person zu verletzen. Es ist vielmehr eine Selbstbekundung. Unmutsäußerungen können auch in Situationen erfolgen, in denen eine andere Person keine (große) Rolle spielt. Dass der Ausbruch anschließend oft gerne als ungeschehen abgetan werden würde, ist keine Seltenheit (vgl. NOLTING, 2004, S. 151-153). FÜRNTRATT schlägt vor, von einer „Pseudo-Aggression“ zu sprechen, da die beabsichtigte Schädigung nicht gegeben ist (vgl. 1974; in NOLTING, 2004, S. 153). Von der Entwicklungspsychologie her gesehen entwickelt sich die ausgereifte Aggression aus der Unmutsäußerung, welche sozusagen die Urform darstellt. Dazu ist die Vergeltung zu zählen. Sie ist reaktiv und durch Provokation wie Ärger oder Hass motiviert. Der Ärger und die Wut richten sich gegen eine Person. Dem Verursacher wird i. d. R. eine inakzeptable Motivation, z. B. eine böse Absicht, mangelnde Rücksichtsnahme oder Unachtsamkeit unterstellt. Dem Provozierenden sollen Schmerzen und Schaden angetan werden. Diese gezielte Schmerzzufügung verschafft eine innere Befriedigung, wodurch das Selbstwertgefühl und/oder die Gerechtigkeit wieder hergestellt wird. Der Schmerz wirkt als Anreiz und nicht als Hemmung wie bei der instrumentellen Aggression. Bei der Vergeltung steht die Rache im Vordergrund, auch noch lange nach der provozierenden Handlung. Die reine Vergeltung ist intrinsisch motiviert und daran zu erkennen, dass der Schädigende keinen Nutzen verfolgt, sondern dagegen Nach­teile und Selbstschädigungen akzeptiert (vgl. NOLTING, 2004, S. 153-155).

Innerhalb der instrumentellen Aggression gibt es zwei weitere Formen: die Abwehr-Aggression und die Erlangungs-Aggression. Aggressives Verhalten, das zur Abwehr eingesetzt wird, ist in erster Linie primär nichtaggressiv motiviert. Das Hauptziel ist, den Schaden von sich abzuwenden bzw. Schutz. Als Mittel zum Zweck dient hier die Schmerzzufügung, die parallel mit Emotionen verbunden ist. Das Abwehren von Gefahr, Belästigung oder Störung ist eine Variante der Motivation. Je nachdem wie das Empfinden der aversiven Erfahrungen ist, wird zusätzlich zwischen einer ärgerlichen und einer angstvollen Abwehr unterschieden . Der aggressive Akt wird beendet, wenn das Ziel erreicht ist. Hier wird der Unterschied zur Vergeltung deutlich, die erst nach der Provokation einsetzt. Während die Abwehr-Aggression auf eine akute Bedrohung oder Belästigung agiert, reagiert die Vergeltung auf die Kränkung. Eine Aggressionsverminderung ist bei der Abwehr-Aggression durch den Verzicht auf bedrohendes oder belästigendes Verhalten, bei der Vergeltung durch eine Entschuldigung gegeben (vgl. NOLTING, 2004, S. 156-158).

Die Erlangungs-Aggression ist aktiv und ebenfalls nichtaggressiv motiviert. Das Ziel besteht darin, durch aggressives Verhalten Vorteile zu erlangen. Als Mittel zum Zweck dient auch hier die Schmerzzufügung. Diese erfahren die Menschen, die als Gegner gesehen werden, in Form von kämpferischer oder kühler Aggression. Das Durchsetzen im Konflikt, das Erlangen von materiellem Gewinn oder Machtgewinn, außerdem von Beachtung und Anerkennung, sind Varianten der Motivation (vgl. NOLTING, 2004, S. 158-159).

Die Neigungen mancher Menschen, „ohne erkennbaren Zweck und Anlaß Streitereien und gewalttätige Kämpfe zu suchen oder gar das aggressive Tun bis ins Grausame ‚auszugestalten’“ (NOLTING, 2004, S. 160), lässt sich nur schwer eingliedern und hat auch keinen allgemein verwendeten Begriff gefunden. NOLTING hat sich hier für die Bezeichnung „spontane Aggression“ entschieden[5] (vgl. 2004, S. 160). Die Literatur ist sich insofern einig, dass die spontane Aggression intrinsisch motiviert und sie nicht von außeraggressiven Zielen bestimmt wird. Der Unterschied zur intrinsischen Vergeltung besteht darin, dass die Aggression spontan entsteht. Die spontane Aggression ist aktiv. Emotionale Befriedigung wird erlangt, wenn einer anderen Person Schmerz zugefügt wird. Varianten sind hier Streit- und Kampflust sowie Sadismus. Motivation für eine solche Streit- und Kampflust bilden die Erhöhung des Selbstwertgefühls und/oder Nervenkitzel (Selbststimulierung). Beim Sadismus wird die Qual des Menschen zur Befriedigung benötigt und versucht, sie auszubauen (vgl. NOLTING. 2004, S. 160-162). Die Selbststimulierung spielt auch hier eine Rolle, wenngleich, wie FROMM formulierte, das Gefühl, einen anderen Menschen grenzenlos zu beherrschen, das eigentliche Ziel darstellt (vgl. 1974; in NOLTING, 2004, S. 162).

3 Entstehungsmechanismen

Die Entwicklung für aggressives Verhalten kann bereits in der Schwangerschaft durch den Alkoholmissbrauch oder Drogenkonsum der Mutter beginnen (vgl. LOEBER, 1990; in PETERMANN/WARSCHBURGER, S. 91). CHANDOLA et al. gehen einen Schritt weiter und stellen die Behauptung auf, dass sogar ein niedriges Gewicht bei der Geburt und/oder eine komplizierte Geburt Auslöser sein können (vgl. 1992; in PETERMANN, S. 235).

Je nach Alter äußert sich aggressives Verhalten unterschiedlich (vgl. PETERMANN/WARSCHBURGER; in PETERMANN/PETERMANN, 1993, S. 93). Von Geburt an zeigt jeder Säugling emotionale Reaktionen wie Unmuts-, Ärger- und Wutäußerungen, welche mit zunehmenden Alter immer weiter verändert und ausdifferenziert werden (vgl. SELG et al., 1988; in HINSCH et al., 1998, S. 71). Kinder, deren Voraussetzungen allerdings schon vor und von Geburt an äußerst ungünstig sind, werden eher aggressives und delinquentes (gewalttätiges) Verhalten zeigen (vgl. LOEBER, 1990; in PETERMANN/WARSCHBURGER, S. 91). Ein Merkmal für delinquentes Verhalten ist möglicherweise ein schwieriges Temperament eines Säuglings oder Kleinkindes. Kann das Kind laufen, können ab diesem Zeitraum Kennzeichen für eine Hyperaktivitätsstörung festgestellt werden (vgl. PETERMANN/WARSCHBURGER; in PETERMANN/PETERMANN, 1993, S. 93).

Die erste Funktion aggressiven Verhaltens äußert sich bei allen Säuglingen in der oralen Phase. In dieser Phase kommen die Milchzähne und der Säugling könnte nun zubeißen. Diese Verhaltensweise löst die Symbiose von Mutter und Kind beim Wechsel vom ersten ins zweite Lebensjahr. Die eigene Ich-Entwicklung wird intensiviert, in der das Kind in der Ich-Form bereits etwas verneinen kann. Dies geschieht in der Trotzphase des zweiten/dritten Lebensjahres. Wird diese „gesunde, aktiv-erobernde Aggressionsneigung“ zu sehr eingeengt, droht später eine „antisozial-heteroaggressive und/oder autoaggressive Entwicklung“ (KLOSINSKI; in WEHLING, 1993, S. 30). Wenn auffällig delinquentes Verhalten festzustellen ist, dann meist im Alter von zwei Jahren, da Kinder zu dieser Zeit körperlich mobiler sind und mehr physische Kraft besitzen. Zeigt ein Kind bereits mit drei Jahren ein auffälliges Verhalten, kann davon ausgegangen werden, dass sich aus diesem ein aggressives und delinquentes Kind entwickelt (vgl. PETERMANN/WARSCHBURGER; in PETERMANN/PETERMANN, 1993, S. 93). Nach LOEBER vollzieht sich die Entwicklung aggressiven Verhaltens in einem Stufenprozess.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Entwicklungsverlauf aggressiven Verhaltens und potentielle therapeutische Ansatzpunkte (LOEBER, 1990; modifiziert von PETERMANN/WARSCHBURGER, S. 91)

Im Zeitraum des Kindergarten- und des frühen Schulalters dienen aggressive Verhaltensweisen wohl als notwendige Konfrontation mit Geschwistern, Schulkameraden und Freunden, die in dieser Situation als Konkurrenten angesehen werden (vgl. KLOSINSKI; in WEHLING, 1993, S. 30). Nach HINSCH et al. kann pauschal gesagt werden, dass im Lebensbereich von zwei bis sechs bzw. sieben Jahren die affektiv-aggressiven Reaktionen[6] mehr und die instrumentelle Aggression weniger werden (vgl. 1998, S. 72). In der Pubertät tritt dann meist eine „normative Auflehnung und Absetzbewegung von den inneren Elternbildern als auch von den äußeren Vorstellungen der Erwachsenen“ (KLOSINSKI; in WEHLING, 1993, S. 30) ein. Besteht eine enge Bindung zwischen Kind und Eltern, ist der Versuch der Loslösung und Abgrenzung von den Eltern oft impulsiver und aggressiver. Als Vorstufe der Aggression dienen verbal geäußerte Provokationen. Hier kommt auch FREUDs Triebtheorie[7] zum Tragen, denn hier ist „aggressives Verhalten auch eine Auseinandersetzung mit eigenen libidinösen Triebansprüchen“ (KLOSINSKI; in WEHLING, 1993, S. 30). Gerade Jugendliche wählen in dieser Phase Einstellungen, Meinungen und Verhaltensweisen, die denen der Erwachsenen, vor allem denen der Eltern, widersprechen. Dies dient als Zeichen der Abgrenzung von der Erwachsenenwelt (vgl. KLOSINSKI; in WEHLING, 1993, S. 30). Die Frage, ob Aggressivität in diesem Altersabschnitt zu- oder abnimmt, kann nicht beantwortet werden, da zwischen den verschiedenen Arten von Aggression und Untersuchungsmethoden zur Messung unterschieden werden muss: affektiv-aggressive Reaktion versus instrumentelle Aggression, physische versus verbale Aggression und Aggressionsneigung durch Messung des Fragebogens versus offene Verhaltensweisen durch Beobachtungen (vgl. HINSCH et al., 1998, S. 73).

KLOSINSKI konstatiert, um Aggression sinnvoll zu kanalisieren, soll in allen Entwicklungsstufen vom Kind bis zum Jugendlichen eine fördernde Umwelt in Form von Selbstbehauptung, Standfestigkeit, Zivilcourage und ein gutes Maß an Selbstbewusstsein entwickelt werden. Ein gesundes Maß an Selbstbewusstsein, das in ein „altruistisches Denken und in eine Verantwortung auch für den Mitmenschen und die Umwelt“ (KLOSINSKI; in WEHLING, 1993, S. 30) einmündet bzw. darin haften bleibt, entsteht nur, wenn elementare Grundbedürfnisse des Menschen vermittelt werden. Für MASLOW sind dies: physiologische Bedürfnisse, Sicherheits-, Besitz- und Liebes-, Statusbedürfnisse oder Bedürfnisse nach Achtung sowie nach Selbstverwirklichung und Eigenentwicklung (vgl. 1954; in KLOSINSKI, S. 30). In den frühen Lebensjahren des Kindes sind Liebe und Zärtlichkeit, das Bieten von Schutz und Geborgenheit, das Bewilligen eines Freiraumes und Verständnis von Seiten der Bezugspersonen erforderlich. Die psychosozialen Entwicklungsstufen nach ERIKSON beinhalten von der Geburt bis ins späte Erwachsenenalter acht Entwicklungsstufen. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Heranwachsenden und speziell in diesem Kapitel mit dem Entwicklungsraum von Säuglingen bis Schulkindern. Deshalb wird sich der Fokus bei den Entwicklungsaufgaben auch auf diesen Bereich richten. Von der Geburt bis zu den ersten eineinhalb Lebensjahren sollte der Säugling bzw. das Kind ein Gefühl des Urvertrauens entwickeln. Bis ins dritte Lebensjahr, also der Kleinkind- und Trotzphase, sollte Autonomie vermittelt werden. Dies wird durch Lob, Ermutigungen und angemessene Hilfestellungen gefördert. Im Alter von drei bis sechs Jahren sollte ein Vertrauen in die eigenen Initiative gegeben werden. Den Kindern muss genügend Freiraum gelassen werden, um kreatives Arbeiten und Spielaktivität zu unterstützen. Vom Grundschulalter bis in die Pubertät sollte der Werksinn gestärkt werden. Die Schüler sollen von Seiten der Erwachsenen das Gefühl erhalten, gebraucht zu werden (vgl. ERIKSON, 1989, S. 150 und S. 182-184).

4 Erklärungspositionen aggressiven Verhaltens

4.1 Triebtheorien

4.1.1 Triebtheorien der Psychoanalyse nach FREUD

Triebtheoretische Ansätze stammen aus der Psychoanalyse (FREUD, 1920; MITSCHERLICH, 1969; HACKER, 1971) und der Ethologie (Tierverhaltensforschung) (LORENZ, 1963; EIBL-EIBESFELDT, 1970, 1973).

FREUD geht von einer angeborenen Neigung des Menschen zum Bösen aus. Die dualistische Triebtheorie beinhaltet die zwei Grundtriebe, die der Mensch von Geburt an besitzt: Eros (Lebenstrieb, Libido[8] ) und Destruktionstrieb (Todestrieb). Diese sind Gegenspieler und bestimmen das Leben des Menschen (vgl. FREUD, 1972, S. 11-12). Der erste ist auf Lustgewinn gerichtet und zeigt sich in der „Sexualität, im Spiel, im Umgang mit Menschen und Dingen allgemein“ (HINSCH et al., 1998, S. 18). Letzterer arbeitet darauf hin, die Lebenseinheiten aufzulösen und in den anorganischen Ursprung zurückzuverwandeln (Destrudo), er zielt demnach auf eine Selbstvernichtung. Dies geschieht aus der Motivation heraus, „Spannungen zu reduzieren und letztlich einen Zustand der Spannungslosigkeit herbeizuführen“ (NOLTING, 2004, S. 53). FREUD nennt dies das Nirwanaprinzip. Es führt zu psychischen Störungen, wenn beide Triebe nicht zum Ausdruck kommen, was nicht gleichzeitig bedeutet, dass dies immer zerstörerisch geschehen muss. Doch für die Aggression konnten diese Anzeichen bislang noch nicht belegt werden (vgl. NOLTING, 2004, S. 53).

Der Mensch kann dennoch mit dem Todestrieb leben, da dieser nie für sich alleine, sondern ständig mit dem Eros agiert. Das Über-Ich wirkt ebenfalls regulierend auf den Todestrieb mit ein und lenkt ihn i. d. R. in zivilisierte Bahnen. Zudem leitet der Eros „die Energie des Todestriebes über das Muskelsystem nach außen“(NOLTING, 2004, S. 53), sodass sich dieser als Aggression kennzeichnet. Die Aggression wendet sich nach außen gegen Dritte (Außenaggression). Dies wird jedoch in einer Gesellschaft nicht ohne weiteres toleriert, weshalb ein Teil der Aggression wieder gegen das eigene Individuum geschickt und dort entweder unterdrückt wird oder zu autoaggressiven Handlungen führt, wie z. B. Magersucht oder Selbstmord (vgl. HINSCH et al., 1998, S. 18). Als letzte Konsequenz folgt hieraus, dass es nur zwei Alternativen gibt: entweder sich selbst oder andere leiden zu lassen. Durch die Ableitung der Energie nach außen erfolgt die Katharsis, ein Abbau aggressiver Energie durch aggressive Reaktionen. Die Katharsis verringert die Tendenz zu weiterem aggressiven Verhalten. Wird die Aggression allerdings zu lange unterdrückt, kann dies zu Schäden führen (vgl. NOLTING, 2004, S. 198).

Aggression kann jedoch teilweise vermindert werden. FREUD führt hiefür zwei mögliche Wege an: Zum einen durch das bewusste Einsetzen des Eros und zum anderen durch die Orientierung des Destruktionstriebes auf konstruktive Ziele (vgl. 1930; in NOLTING, 2004, S. 55). Aus FREUDs Konzept abgeleitet, ist die Empfehlung, „in reaktiv harmlosen Aggressionsformen die zerstörerischen Impulse ‚abzureagieren’“ (NOLTING, 2004, S. 55).

MITSCHERLICH hat sich mit jüngeren Konzepten befasst und vertritt im Allgemeinen FREUDs dualistische Triebtheorie. Er erklärt zivilisiertes Verhalten mit Triebmischung, bei welchen der Anteil des Libido in der führenden Funktion bleibt. Er nennt dies auch gekonnte Aggression. Dagegen sieht er destruktives Verhalten als Ergebnis von Triebentmischung (vgl. MITSCHERLICH, 1969, S. 92).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Triebmischung und -entmischung in der Triebtheorie

HACKER hat es sich zum Ziel gesetzt, die vielfältigen Erscheinungsformen der Aggression zu erforschen, welche für ihn gesellschaftlich bestimmt bzw. durch Lernprozesse vermittelt sind. Dazu zählen für ihn auch solche, die in sozialen Normen verschleiert auftreten, wie z. B. Herrschaft oder Pflicht. Letztendlich ist es der Trieb, der die aggressiven Energien liefert. Von diesen hat jedes Individuum einen gewissen Anteil in sich. Diese Energien können ihre Erscheinungsformen verändern und frei und gebunden sein:

„Freie Aggression, die nackt und ungezügelt sich als Gewalt ausdrückt, wird in inneren Instanzen (Gewissen, Charakter) und äußeren Institutionen (Spielen, Regeln, Normen, Gruppen, Organisationen) gebunden und damit entschärft, kontrolliert und gelenkt. Sie verwandelt sich in schlummernde, unsichtbare, oft unbewußte Aggression, die nur unter ganz besonderen Bedingungen mobilisiert und damit offensichtlich wird. Unter den Etiketten Notwendigkeit, Pflicht und Selbstverteidigung kann Aggression im Namen des sie legitimierenden größeren Ganzen in Erscheinung treten“ (HACKER, 1971, S. 89; in NOLTING, 2004, S. 56-57).

HACKER sieht Angst, Schmerz und Alkohol als solche Antriebe an, die offene Aggression herausbrechen lässt.

4.1.2 Triebtheorie der Ethologie nach LORENZ

Einer der bekanntesten Vertreter in der Vergleichenden Verhaltensforschung (Ethologie) ist der Tierverhaltensforscher LORENZ. Diese Triebtheorie untersucht anhand „vergleichender Studien von Tieren und Menschen die biologischen Grundlagen von Verhalten“ (HINSCH et al., 1998, S. 19). LORENZ beschreibt die Bedeutung des Aggressionstriebes wie folgt: „Die Spontaneität des Instinktes ist es, die ihn so gefährlich macht. Wäre er nur eine Reaktion auf bestimmte Außenbedingungen [¼], dann wäre die Lage der Menschheit nicht ganz so gefährlich wie sie tatsächlich ist“ (1963, S. 77-78). Für den Autor liegt die Aggressivität in der Natur des Menschen begründet. Er nennt dies die Dampfkesseltheorie. LORENZ ist der Auffassung, dass im Organismus des Menschen fortwährend aggressive Impulse erzeugt werden. Diese summieren sich bis eine bestimmte Schwelle überschritten wird. Beim Überschreiten kommt es zur Entladung in Form einer spontanen aggressiven Handlung. Die Wut, die sich dann bei einem Menschen zeigt, ist die Reaktion darauf, dass sich der spontane Trieb entladen musste, um sich abzureagieren. Die nächste Entladung findet erst wieder statt, wenn abermals ein gewisser „Dampfdruck“ erreicht ist. Je länger diese Entladung vergangen ist, desto mehr staut sich der Trieb im Inneren und desto weniger Anlass wird benötigt, den Trieb zum Ausbruch kommen zu lassen. Dazu reichen dann meist schon Kleinigkeiten, über die sonst wahrscheinlich hinweggesehen werden würde (vgl. NOLTING, 2004, S. 59). In gravierenden Einzelfällen braucht es nicht einmal einen äußeren Auslöser, um eine aggressive Reaktion zu zeigen, sondern, um es mit LORENZ´ Worten zu sagen, es geschieht „auf Leerlauf“. Dies meint, „in Abwesenheit eines auslösenden Objektes“ (LORENZ, 1963, S. 92). Für den Autor ist Aggression ein angeborener Instinkt vieler Tierarten und des Menschen. Er stützt sich auf DARWIN, wenn er sagt, dass ein solcher Trieb einen arterhaltenden Sinn besitzen muss. Hier löst er sich von der psychoanalytischen Triebtheorie, welche die destruktive Form der Aggression in den Mittelpunkt stellt. LORENZ sieht Aggression als einen „auf den Artgenossen gerichteten Kampftrieb von Tier und Mensch“ (NOLTING, 2004, S. 59) an. Er geht wie FREUD von einem angeborenen Trieb aus, ist allerdings der Ansicht, dass der abhängige und arterhaltende Charakter der Aggression von Auslösern verursacht wird. Der Tierverhaltensforscher gebraucht den Begriff der Aggression daher nur für Auseinandersetzungen innerhalb einer Art (vgl. NOLTING, 2004. S. 59).

Aggression erfüllt eine Aufgabe sinnvoll, wenn eine Art ihren natürlichen Überlebenskampf in der Natur bestreitet. In der Frühsteinzeit ist der Mensch jedoch an einem Punkt angelangt, an dem er die Bedrohung durch die Natur und andere Arten durch Erfindungen und Entwicklungen wirkungsvoll eingedämmt hat, z. B. durch Waffen, Kleidung und Nahrungsbevorratung. Laut NOLTING hat dann eine „böse intraspezifische Selektion eingesetzt“ (vgl. 2004, S. 60), welche zu Kämpfen und Kriegen zwischen verschiedenen Menschenstämmen führte. Dies bewirkte eine „extreme Herauszüchtung aller sogenannten ‚kriegerischen Tugenden’“ (NOLTING, 2004, S. 60).

Was heutzutage für den Menschen erschwerend hinzukommt, ist der technische Fortschritt in der Entwicklung von Waffensystemen. Es ist möglich, nur durch das Drücken eines Knopfes einen Menschen zu töten. Die Begriffe der sauberen Tötung und der chirurgischen Kriegsführung beschreiben ein Phänomen, das natürliche Hemmungsmechanismen (z. B. in Reaktion auf ein schreiendes und leidendes Opfer) außer Kraft setzt.

Als Beleg, dass die Menschen einen Aggressionstrieb besitzen, führt LORENZ u. a. die Polarkrankheit an. Gereiztheit und Ärgerausbrüche in kleinen isolierten Gruppen entstehen daraus, dass die Menschen aufeinander angewiesen sind und die aggressive Auseinandersetzung mit fremden Personen ausbleibt (vgl. LORENZ, 1963, S. 85-86).

Zur Hemmung von Aggression schlägt der Autor vor, sportliche Aktivitäten[9] auszuüben. Hierbei wird deutlich, dass er die Katharsis-Hypothese vertritt.

4.2 Frustrations-Aggressions-Theorie

Aus dem normalen Alltagsverständnis heraus werden unangenehme Erfahrungen vielfach für aggressives Verhalten verantwortlich gemacht. Diese Ansicht findet sich in der klassischen Frustrations-Aggressions-Theorie wieder. 1939 veröffentlichen fünf amerikanische Wissenschaftler (DOLLARD, DOOB, MILLER, MOWRER und SEARS) der Yale-Universität ihr Buch „Frustration und Aggression“, welches eben diese Ansicht wiedergibt. Es beinhaltet die folgenden beiden Thesen: „Aggression ist immer die Folge einer Frustration“ (DOLLARD et al., 1973, S. 9), d. h. entsteht aggressives Verhalten, beinhaltet dies, dass zuvor eine Frustration aufgetreten sein muss und „die Existenz einer Frustration [führt] immer zu irgendeiner Form von Aggression“ (DOLLARD et al., 1973, S. 9).

Für die Überprüfung dieser Thesen ist eine Verständnisklärung für den Begriff Frustration unausweichlich. DOLLARD et al. formulieren einen sehr eng definierten Frustrationsbegriff. Sie sehen Frustration „als Störung einer zielgerichteten Aktivität“ (vgl. DOLLARD et al.; in SELG, 1982, S. 11). Die Autoren liegen somit sehr nahe an der Herkunft des lateinischen „frustra“, was „vergeblich, vergebens“ bedeutet (vgl. NOLTING, 2004, S. 68). Doch auch Entbehrungen, Angriffe, Belästigungen, Stresssituationen und allgemein unangenehme, aversive Bedingungen sind weitere Ausdrucksformen für diesen Begriff. Gelegentlich meint Frustration nicht die äußere Bedingung („Frustrations situation“), sondern den inneren Zustand („subjektives Frustrations erlebnis“). Beides muss differenziert betrachtet werden, denn wenn eine Person in einer bestimmten Situation eine Frustration empfindet, dann muss das nicht bedeuten, dass es einer anderen Person in der gleichen Situation genauso ergeht (vgl. NOLTING, 2004, S. 68).

NOLTING unterscheidet drei Arten von Frustration:

1. Hindernisfrustration : „Eine erwartete Zielerreichung bzw. Befriedigung wird verhindert“ (BERKOWITZ, 1993; in NOLTING, 2004, S. 70). Frustration ist also dann gegeben, wenn ein zielgerichtetes Verhalten durch ein Hindernis gestört wird. Zu erwähnen ist, dass die Person sich hierbei schon in die Richtung des Ziels bewegt hat, welche keine körperlich, äußerlich sichtbare Bewegung sein muss (vgl. HINSCH et al., 1998, S. 25; NOLTING, 2004, S. 69-70).
2. Provokationen : Hier ist keine Zielaktivität gegeben, sondern die Bedingungen wirken aversiv auf die Person ein. Zu nennen sind hierbei körperliche und verbale Angriffe, Belästigungen, aber auch physische Einwirkungen, wie z. B. Lärm oder Hitze (vgl. NOLTING, 2004, S. 73).
3. Physische Stressoren: Dies sind alle internen und externen Ereignisse, die als „schädigende Reize“ wirken. Zu den internen zählen z. B. Angriffe und Provokationen, zu den externen Hitze, schlechte Luft, Lärmbelästigung und weitere physische Einflüsse. Eine Person wird in ihrer Ruhe gehindert (vgl. HINSCH et al., 1998, S. 25; NOLTING, 2004, S. 75).

Die These „Aggression ist immer die Folge einer Frustration“ wurde aufgrund etlicher Einwände und einer widersprechenden Studie[10] 1941 - vor allem auch wegen der Meinungsverschiedenheit um die Implizierung eines Automatismus durch das Wort „immer“ - korrigiert. Im Alltagsleben ist oft genug zu beobachten, dass Menschen auf eine Hindernisfrustration nicht immer mit Aggression reagieren. Deswegen lautet die neue Hypothese wie folgt: „Frustrationen rufen die Tendenz zu einer Reihe verschiedener Reaktionen hervor. Eine davon ist die Tendenz zu irgendeiner Form aggressiven Verhaltens“ (DOLLARD et al.; in HINSCH et al., 1998, S. 24).

NOLTING stellt fest, dass je nach Frustrationssituation eine unterschiedliche Reaktion in Form von Aggression gezeigt werden kann. Eine Hindernisfrustration, welche eine spontane Frustration hervorruft, führt im Gegensatz zu schädigenden Reizen nicht so oft zu aggressivem Reaktionen. Bei Entbehrungen bzw. Nichterfüllung eines Bedürfnisses lässt sich kaum noch ein direkter Zusammenhang mit aggressivem Verhalten herstellen. Sie wirken vielmehr über längere Zeiträume hinweg (vgl. NOLTING, 2004, S. 69-73).

Nicht alle Gefühle besitzen Nähe zu aggressivem Verhalten und so hat BERKOWITZ (1962) die ursprüngliche Abfolge (Frustration à Aggression) verändert. Er geht davon aus, dass eine aggressive Reaktion zu erwarten ist, wenn das Frustrationsereignis zu einem tatsächlichen Frustrationserlebnis führt. Daraus ergibt sich „anger“ (Ärger oder Wut), welchen er als emotionales vermittelndes Bindeglied zwischen Frustration und Aggression platziert hat: Frustration à Ärger à Aggression. Die Interpretation und die Bewertung eines solchen Frustrationserlebnisses sind ebenfalls zu beachten. Sie hängen sowohl von situativen Einflüssen (z. B. Art des Hindernisses oder Art der Provokation) als auch von personalen Faktoren (z. B. Gereiztheit und Empfindlichkeit gegenüber Gelassenheit und Toleranz) ab. Zudem spielt das Empfinden von Absicht oder Versehen eine Rolle. Für den Umgang mit Ärger verfügen Menschen über bestimmte personale Bedingungen: die Ausprägung von Aggressionshemmungen und ein sogenanntes Verhaltens­repertoire, das die Verhaltensweisen impliziert, zu denen Menschen fähig sind und welche zur Gewohnheit geworden sind. Zu den situationsbezogenen Bedingungen zählen Modelle, Signalreize und Anreize.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 5: Schematische Darstellung der erweiterten und modifizierten Frustrations-Aggressions-Theorie (BERKOWITZ; in HINSCH et al., 1998, S. 27)

Des Weiteren gibt es aggressive Hinweisreize, die in irgendeiner Form mit Aggression oder Frustration verbunden sind. Es müssen bestimmte personale und situative Aspekte zugrunde liegen, sodass der Ärger, der aus der Frustration entstand, zur Aggression führt (vgl. HINSCH et al., 1998, S. 26-27; NOLTING, 2004, S. 77-78 und S. 85-87).

Entstandener Ärger kann durch Aggressionshemmungen abgewehrt werden. Wie eine solche Hemmung auftritt, ist abhängig von den jeweiligen Eigenschaften einer Person. Um aufgebrachten Ärgerausbrüchen zu entgehen, soll der betreffenden Person die jeweilige Situation als ungünstig für eine Aggression erscheinen. Die Aggression wird geschürt, wenn eine andere Person aggressives Verhalten zeigt (vgl. NOLTING, 2004, S. 85-87). Es ist zu betonen, dass Ärger kein hinreichender Beweggrund für Aggression ist.

Einen Überblick über Emotionen, welche sich auf die Frustration beziehen, liefert eine Darstellung nach MEES.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Kennzeichen einiger „frustrationsbezogener“ Emotionen (MEES, 1992; in NOLTING, 2004, S. 78)

4.3 Lernpsychologische Theorien

Nach der lernpsychologischen Betrachtung wird die Entstehung von Aggression und Gewalt erlernt und ist somit grundsätzlich veränderbar (vgl. PETERMANN/PETERMANN, 1993, S. 5; SELG et al., 1997, S. 28). Dem Lehrer kommt im Hinblick auf Prävention und Intervention in der Schule eine besondere Bedeutung zu, um Aggression und Gewalt zu vermindern. Das operante Konditionieren und das Beobachtungslernen spielen eine große Rolle, wenn Schüler sich aggressive Verhaltensweisen aneignen.

Wie anderes Verhalten auch, wird aggressives Verhalten von Lerngesetzen bestimmt. „Es tritt in Situationen auf, wo es erfolgreich war bzw. Erfolg verspricht, und es wird über das Vorbild von Mensch zu Mensch weitervermittelt“ (NOLTING, 2004, S. 49).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 6: Entwicklung der Lernvorgänge von verschiedenen Einflüssen (NOLTING, 2004, S. 132)

„Lernen bedeutet die Veränderung personaler Dispositionen aufgrund von Erfahrungen“ (NOLTING, 2004, S. 97). Es gibt drei große Lerntheorien: den Behaviorismus, die sozial-kognitive Theorie und den Kognitivismus. Alle Lerntheorien beinhalten ihrerseits verschiedene Lernarten. Das Erlernen von Aggression entsteht auf vier Wegen:

- durch das klassische Konditionieren (Behaviorismus) - auch als Reiz-Reaktions-Lernen, Signallernen oder Bedeutungslernen bekannt - (PAWLOW, 1889; WATSON, 1914).
- durch das operante Konditionieren (Behaviorismus) - auch als instrumentelles Konditionieren, Effektlernen, Lernen durch Verstärkung oder Lernen am Erfolg bekannt (THORNDIKE, 1898; SKINNER, 1938).
- durch das Beobachtungslernen (sozial-kognitive Lerntheorie) - auch als Lernen am Modell, Nachahmungslernen, Lernen durch Imitation oder Lernen durch Identifikation bekannt (BANDURA/WALTERS, 1963; BANDURA, 1968, 1973). TAUSCH/TAUSCH verwenden hierfür den Begriff des Wahrnehmungslernens (vgl. 1991, S. 31).
- durch das kognitive Lernen (Kognitivismus) bzw. Einsichtslernen, entdeckendes Lernen (PIAGET, Mitte der dreißiger Jahre) (vgl. BELSCHNER; in SELG, 1982, S. 60).

4.3.1 Klassisches Konditionieren

Das Prinzip des klassischen Konditionierens wurde von PAWLOW (1889) entdeckt. In einem Experiment mit einem Hund verband er den Reflex des Speichelflusses auf etwas zu Essen mit dem Läuten einer Glocke. Nach einiger Zeit reichte das Läuten der Glocke aus, um den Speichelfluss des Hundes anzuregen, weil dieser gelernt hatte, die Glocke als Signal für die anstehende Fütterung anzusehen.

Das Prinzip des klassischen Konditionierens besteht darin, dass durch eine räumliche und zeitliche Koppelung eines natürlichen Auslösers (Fressen für den Hund) mit einem neutralen Reiz (Glockenläuten) dazu führt, dass nach einiger Zeit der neutrale Reiz zu einem spezifischen Auslöser für eine Reaktion (erhöhter Speichelfluss) wird. Ein Signal erhält durch die Verknüpfung von Dingen eine Bedeutung (vgl. NOLTING, 2004, S. 126).

In Bezug auf Aggression können hierbei Ansätze zur Erklärung von Aggressionsreaktionen gefunden werden: „Wenn ein Mensch uns mehrmals zu ärgern vermochte, genügt im allgemeinen schon sein Anblick oder die Nennung seines Namens, um wieder Missstimmung auszulösen“ (SELG et al., 1997, S. 29). Durch das klassische Konditionieren werden also aggressive Gefühlsreaktionen auf neutrale Reize übertragen. Dies kann laut NOLTING einerseits auf persönlichen Erlebnissen beruhen, wenn eine Person z. B. selbst Opfer einer Gewalttat wurde. Andererseits können dies jedoch auch Erzählungen und Belehrungen durch andere bewirken, was oft bei Rassismus und Vorurteilen der Fall ist (vgl. NOLTING, 2004, S. 127).

Zu betonen ist hierbei jedoch, dass durch das klassische Konditionieren „kein neues Verhalten im engen Sinne“ (SELG et al., 1997, S. 29) gelernt wird.

4.3.2 Operantes Konditionieren

Beim operanten Konditionieren lernt die betreffende Person aus den Konsequenzen ihres Verhaltens. Erlebt sie nach einem aggressiven Verhalten eine negative Folge (z. B. Bestrafung), kann mit Sicherheit gesagt werden, dass sie dieses Verhalten in Zukunft vermehrt meiden wird. Findet dagegen keine negative Folge statt, bleibt das Verhalten unbeachtet oder wird sogar belohnt, werden aggressive Verhaltensweisen dadurch verstärkt. Die Intensität der Hemmung von gelerntem Verhalten durch einen Misserfolg ist wesentlich geringer als die Verstärkung eines Verhaltens durch einen Erfolg. Dies bezieht sich vor allem darauf, wenn dieses Verhalten hin und wieder erfolgreich ist (vgl. NOLTING, 2004, S. 109).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2: Kontingenzschema zur Verhaltenswahrscheinlichkeit (HOLLAND/SKINNER, 1971; in SELG et al., 1997, S. 38)

Zum Verhaltensaufbau dienen die positive und die negative Verstärkung. Bewirkt ein Verhalten angenehme Konsequenzen (z. B. Lob und Zuwendung), wird von positiver Verstärkung gesprochen. Je erfolgreicher ein Schüler mit seinem aggressiven Verhalten ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass er dieses wiederholen wird (vgl. ZIEGLER/ZIEGLER, 1997, S. 56). „Durch positive Verstärkung wird also die Tendenz, aggressives Verhalten zu zeigen, gestärkt“ (MUMMENDEY/OTTEN; in STROEBE et al., 2002, S. 362).

Negative Verstärkung bezeichnet eine Wegnahme unangenehmer Konsequenzen (z. B. Stillen des Durstes oder Stoppen eines Schmerzes). Negative Verstärkung behält aggressives Verhalten bei, wenn ein Schüler einem unangenehmen Ereignis erfolgreich mit aggressivem Verhalten entgegenwirken kann (vgl. ZIEGLER/ZIEGLER, 1997, S. 56). Zum Verhaltensabbau tragen Bestrafung und Löschung bei. Die Bestrafung lässt sich in positive und negative Bestrafung unterteilen. Die erste beinhaltet die Darbietung einer unangenehmen Konsequenz (z. B. Schimpfen), die zweite das Entziehen einer angenehmen Konsequenz (z. B. Hausarrest). Eine Löschung tritt auf, wenn ein Verhalten weder positiv noch negativ verstärkt wird. Untersuchungen belegen, dass Menschen durch das operante Konditionieren zu verschiedenen Formen aggressiven Verhaltens gelangen (vgl. MUMMENDEY/OTTEN; in STROEBE et al., 2002, S. 362). Auf die Schule bezogen kann ein Abbau aggressiver Verhaltensweisen nur erfolgen, wenn es keine positiven bzw. negativen Konsequenzen erfährt. Dies kann z. B. durch Nichtbeachtung erreicht werden. Es ist dann anzunehmen, dass ein Schüler in Zukunft solche Verhaltensweisen unterlässt. Ihm sollten jedoch zusätzliche Verhaltensalternativen gezeigt werden (vgl. PETERMANN/PETERMANN, 1993, S. 5-6). Soll eine aggressive Verhaltensweise bestraft werden, müssen vom Lehrer über die Auswahl der Strafe genaue Überlegungen angestrebt werden. Zu beachtende Punkte sind hierbei, die Strafe nicht zeitversetzt auszusprechen und sie auf das konkrete Fehlverhalten des Schülers zu richten. Die Strafe sollte zudem im Zusammenhang mit z. B. Wieder­gut­machungs­leistungen und Erklärungen stehen (vgl. BRÜNDEL/HURRELMANN, 1994, S. 264).

4.3.3 Beobachtungslernen

Es heißt, Nachahmung sei die höchste Form der Bewunderung. Abge­schwächt ließe sich sagen, dass der Mensch allgemein gerne Verhalten nachahmt. Hierzu werden vor allem von Kindern die Eltern, Erwachsene, Lehrer, Geschwister oder Figuren aus dem Fernsehen gewählt. Sprachliche Äußerungen und emotionale Ausdrucksformen sind ebenfalls von Bedeutung. In einem Experiment zeigten Kinder, denen aggressives Verhalten vorgespielt wurde, in einer Spielsituation häufiger aggressives Verhalten als Kinder, denen vorher nichtaggressives Verhalten vorgespielt wurde (vgl. BANDURA et al., 1961; in MUMMENDEY/OTTEN, S. 363).

Zum einen können durch Beobachten Verhaltensweisen schnell gelernt werden, welche die betreffende Person zuvor nicht angewandt hatte. Dieses Lernen durch Nachahmen ist normalerweise von Vorteil, wenn es z. B. um die Bedienung einer komplexen Maschine geht. Auch aggressives Verhalten kann auf diese Weise erlernt werden. Hierbei ist die Rede von einem Neuerwerb von vorher unbekannten Verhaltensweisen. Zum anderen kann ein Modell auch „solche Verhaltensweisen anregen, die bereits zum Repertoire der Person gehören“ (NOLTING, 2004, S. 99). Das heißt, dass durch ein erhöhtes Vorhandensein von aggressiven Verhaltensweisen im Umkreis einer Person eigene Aggression „aktiviert“ werden kann.

Als Modelle, anhand derer Kinder aggressives Verhalten erlernen können, werden meist die Familie[11], die Gruppe bzw. Gesellschaft[12] und die Medien[13] genannt[14] (vgl. MUMMENDEY/OTTEN; in STROEBE et al, 2002, S. 363).

[...]


[1] vgl. hierzu Kapitel 2.1, S. 10

[2] Hinzu kann noch die kulturelle Gewalt kommen, welche von einer Gesellschaft akzeptiert wird (vgl. MEYENBACH/SCHOLZ, 1995, S. 45).

[3] OLWEUS weist in diesem Zusammenhang auf CAIRNS et al. (1988) hin.

[4] siehe hierzu auch BUSS (1961) (vgl. SELG et al., 1997, S. 13-14)

[5] Diesen Ausdruck verwenden u. a. auch KONRADT (1982) sowie SELG et al. (1997).

[6] vgl. hierzu Kapitel 2.2, S. 15

[7] vgl. hierzu Kapitel 4.1.1, S. 22

[8] Energie des Eros, welche vor allem von den erogenen Zonen ausgeht (vgl. JAKOBI et al; in SELG, 1982, S. 39).

[9] vgl. hierzu Kapitel 6.2, S. 74

[10] siehe hierzu auch DEMBO, 1931

[11] vgl. hierzu Kapitel 5.2, S. 44

[12] vgl. hierzu Kapitel 5.5, S. 57

[13] vgl. hierzu Kapitel 5.3, S. 49

[14] siehe hierzu auch NOLTING, der sich in ähnlicher Weise dazu äußerte (2004, S. 100).

Ende der Leseprobe aus 162 Seiten

Details

Titel
Gewalt an Schulen. Ein Beitrag zur Prävention im schulischen Kontext
Hochschule
Pädagogische Hochschule Heidelberg
Veranstaltung
Zulassungsarbeit / erstes Staatsexamen
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
162
Katalognummer
V45004
ISBN (eBook)
9783638424899
Dateigröße
6203 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gewalt, Schulen, Beitrag, Prävention, Kontext, Zulassungsarbeit, Staatsexamen
Arbeit zitieren
Verena Starowiecki (Autor:in), 2005, Gewalt an Schulen. Ein Beitrag zur Prävention im schulischen Kontext, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/45004

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