Junge Spätaussiedler - eine neue Risikogruppe der Suchtgefährdung?


Diplomarbeit, 2005

139 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Aussiedler
2.1 Definition der Begriffe Aussiedler und Spätaussiedler
2.2 Zuwanderungsbilanz der Aussiedlern in die BRD
2.3 Deutsche in Russland und der ehemaligen Sowjetunion
2.3.1 Geschichtliche Entwicklung
2.3.2 Soziokultureller Hintergrund der Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion
2.4 Zuwanderungsmotive der Aussiedler
2.5 Eingliederung: Ein neues Leben in der Bundesrepublik
2.6 Die Einstellung der deutschen Bevölkerung gegenüber Aussiedlern

3. Sucht
3.1 Definition der Begriffe Sucht und Abhängigkeit (stoffgebunden und stoffungebunden)
3.1.1 Definitionen der Begriffe Drogen und Rauschgift
3.1.2 Psychische und physische Abhängigkeit
3.2 Suchttheorien
3.2.1 Soziologische Theorien
3.2.2 Psychoanalytische Ansätze
3.2.3 Lerntheorien
3.3 Die Funktion von Drogen in jugendlichen Subkulturen

4. Junge Spätaussiedler und Suchterkrankungen
4.1 Besteht eine erhöhte Drogenabhängigkeit von Aussiedlerjugendlichen in der BRD?
4.2 Sucht in der ehemaligen Sowjetunion
4.2.1 Alkohol
4.2.2 Illegale Drogen
4.3 Die psychosozialen Folgen der Migration
4.4 Die Bedeutung der Familie
4.5 Die schwierige Lebenssituation in der BRD
4.6 Die besondere Bedeutung von Opiaten (Heroin)
4.6.1 Erläuterung des Opiats Heroin
4.6.2 Heroin- das Hauptproblem junger suchtkranker Aussiedler?
4.7 Drogenabhängige Aussiedler im Strafvollzug
4.8 Junge Spätaussiedlerinnen und Sucht
4.9 Suchtherapie: Motivation, Zugangsbarrieren und Probleme in der Therapieeinrichtung
4.10 Integration: Welche Eingliederungshilfen sind notwendig, um eine gelungene Integration junger Spätaussiedler zu gewährleisten?

5. Zusammenfassung und Fazit

6. Literatur- und Quellenverzeichnis

Anhang

Junge Spätaussiedler - eine neue Problemgruppe der Suchtgefährdung?

1. Einleitung

Das Thema „Junge Spätaussiedler- eine neue Risikogruppe der Suchtproblematik?“ habe ich für meine Diplomarbeit ausgewählt, da mir in meinen beiden studienbegleitenden Praktika - der örtlichen Drogenberatung sowie bei der Bewährungshilfe bei dem LG Siegen - ein deutlich erhöhter Anteil von jugendlichen Russlanddeutschen mit schwerer Suchterkrankung aufgefallen ist. Daraufhin beschloss ich, dieses Problem wissenschaftlich zu erforschen, um zu prüfen, ob mein Eindruck insgesamt der Wahrheit entspricht oder ich rein zufällig vergleichsweise viel Klientel aus der ehemaligen Sowjetunion mit Abhängigkeitserkrankungen beobachten konnte.

In dieser Arbeit soll es um die Frage gehen, ob jugendliche und junge Spätaussiedler einem erhöhten Suchtrisiko ausgesetzt sind und - wenn ja - wie es dazu kommt. Wie gut sind ihre Integrationschancen? Laufen sie Gefahr, ins gesellschaftliche Abseits zu geraten? Welchen besonderen Risikofaktoren sind sie ausgesetzt?

Während meiner Literaturrecherche für dieses Thema traf ich immer wieder auf Studien und Texte, die eine erhöhte Suchtgefährdung von jungen Spätaussiedlern verneinen. Dem gegenüber stand eine beträchtliche Zahl an Autoren, sozialpädagogischen Einrichtungen mit speziell auf russische Aussiedler zugeschnittene Suchtpräventionsprogrammen, sowie spezialisierte Therapieeinrichtungen, deren Mitarbeiter ein erhöhtes Suchtpotential dieses Klientels bestätigen. Ich werde versuchen, beide Seiten in meiner Diplomarbeit zu Wort kommen zu lassen.

Ich möchte noch bemerken, dass ich mich entschlossen habe, den Schwerpunkt auf russlanddeutsche Jugendliche zu legen, da die noch recht neue und daher relativ bescheidene Literatur zu dem Thema „Spätaussiedler und Sucht“ sich vorwiegend mit Aussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion beschäftigt.

Polnische und andere Aussiedler scheinen insgesamt im Suchtbereich weniger auffällig zu sein. Dadurch wird die Fragestellung besonders interessant, was russischsprachige Aussiedlerjugendliche in ihrem Suchtrisiko von anderen Aussiedlergruppen unterscheidet, vorausgesetzt, meine These eines erhöhten Suchtrisikos bestätigt sich im Laufe dieser Arbeit.

Zur Klärung des für das Thema nötige Fachverständnis möchte ich zunächst ausführlich die beiden Themenkomplexe Aussiedler und Sucht einzeln behandeln.

2. Aussiedler

2.1 . Definition der Begriffe Aussiedler und Spätaussiedler

Aussiedler und Spätaussiedler sind Deutsche im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 des Grundgesetzes.

„Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen -Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat“ (Auszug aus dem Artikel 116 GG, 2001, S. 56).

Aussiedler gelten als Vertriebene und sind nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 BFVG (Bundesvertriebenengesetz) Volkszugehörige, die vor dem 8. Mai 1945 ihren Wohnsitz in den ehemaligen deutschen Ostgebieten, in Polen, der ehemaligen Sowjetunion, der ehemaligen Tschechoslowakei sowie Ungarn, Rumänien, Jugoslawien, Danzig, Estland, Lettland, Litauen, Bulgarien, Albanien oder China hatten und diese Länder nach Abschluss der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen bis zum 31.Dezember 1992 verließen.

Spätaussiedler sind nach § 4 der am 1.Januar.1993 in Kraft getretenen Neuregelung des BFVG und im Rahmen des KfbG (Kriegsfolgenbereinigungsgesetz) deutsche Volkszugehörige, welche vor dem 01. Januar 1993 geboren wurden und nach dem 31. Dezember 1992 einen Aufnahmebescheid erhalten haben.

Spätaussiedler müssen, im Gegensatz zu den vor dem 01. Januar 1993 Eingereisten, individuell nachweisen, dass sie als Deutschstämmige in den Herkunftsländern unter Vertreibungsdruck litten.

Von der Regelung ausgenommen sind Deutschstämmige aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Bei ihnen wird weiterhin davon ausgegangenen, dass auch weiterhin eine Fortwirkung der Vertreibungsmaßnahmen besteht. Näheres soll im Folgenden erläutert werden.

Was nicht-deutsche Ehegatten und Kinder betrifft, erhalten diese nach der Einreise die deutsche Staatsangehörigkeit, Ehegatten allerdings nur, wenn die Ehe vor der Einreise schon bereits drei Jahre bestanden hat. Je nach Einstufung gelten sie als Aussiedler, Ehegatte oder Abkömmling, in Bezug auf Rechtsfolgen und Integrationshilfen können das sehr große Unterschiede sein.

Dies gilt nicht zwangsläufig für sonstige Familienmitglieder. Sie sind vom rechtlichen Status her Ausländer (Vgl. DBH-Bildungswerk 2003, Blatt1).

2.2 Zuwanderungsbilanz der Aussiedler in die Bundesrepublik Deutschland

Der Beginn der Zuwanderung von Aussiedlern aus Osteuropa begann 1950. Seitdem sind in die BRD über vier Millionen Menschen aus den in 2.1 genannten Ländern immigriert.

Bis Ende der achtziger Jahre gelang die Integration problemlos. Die Zahl der Migranten aus Osteuropa war bis dato auch überschaubar; bis 1987 wanderten jährlich zwischen etwa vier- bis achtzigtausend Menschen in die Bundesrepublik Deutschland ein (außer in den Jahren 1957/1958; über 100.000/Jahr). 1987 sprang die Migration sprunghaft an. Während im Jahr 1987 insgesamt 78.498 einwanderten, waren es 1988 schon 202.645 und im folgenden Jahr 377.055. Dies ist auf die damalige Öffnung Osteuropas zurückzuführen, wodurch die Ausreisebedingungen deutlich vereinfacht wurden. Die meisten Menschen wanderten 1990 (397.067) ein. Danach wendete sich der Trend langsam, aber stetig. Ab dem Jahre 1996 wanderten weniger als 200.000 Aussiedler ein, seit 2000 weniger als 100.000 pro Jahr. Die Verringerung der Zahl ist zum einen sicherlich auf das seit 1993 in Kraft getretene Kriegsfolgenbereinigungsgesetz (siehe 2.1) zurückzuführen, zum anderen auf das Aussiedleraufnahmegesetz von 1990. Nach diesem müssen die Aufnahmeanträge vom Herkunftsland aus gestellt werden. Das hatte besondere Konsequenzen für Aussiedler aus Polen. Diese waren bis dahin häufig mit einem Touristenvisum nach Deutschland gereist und hatten die Anträge hierzulande betrieben. Während im Jahr 1989 noch 250.340 Polen nach Deutschland gesiedelt waren, taten dies im folgenden Jahr nur noch 133.872, 1991 waren es noch 40.129, bis sich die Zahl im Jahre 2002 auf 553 Polen verringerte.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

aus: Siegener Zeitung, Freitag, 21. Januar 2005, S.2

Ein weiterer Grund für den Rückgang der Einwanderungen ist die 1996 eingeführte Prüfung der deutschen Sprachkenntnisse. Da ein Großteil der Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion über kaum oder keine Sprachkenntnisse verfügt, stellt deren Nachweis eine Barriere dar. Daten des Bundesverwaltungsamtes bestätigen, dass 53 Prozent der Antragsteller den Sprachtest nicht bestanden hatten. Eine Anerkennung als Aussiedler ist für sie also ausgeschlossen. Ein Sprachtest wird auch von Abkömmlingen oder Ehegatten verlangt, bestehen sie nicht, erhalten sie den Status eines Ausländers.

Wie man Tabelle 1 entnehmen kann, migrierten zwar über viele Jahre hinweg deutlich mehr Polen als Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion in die BRD; allerdings wanderten diese in den Jahren seit 1987 in so großer Zahl ein, dass die Zahl der hierzulande zugezogenen Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion fast doppelt so hoch wie die Anzahl der Polen ist (2.167.921 gegenüber 1.444.045). In den Jahren 1989/90 verringerte sich der Anteil der polnischen Einwanderer auf 47 Prozent.

Bis Ende der achtziger Jahre bestand die Zahl der Migranten (wie schon erwähnt) zum größten Teil aus Polen, der Rest setzte sich vorwiegend durch Aussiedler aus Rumänien, der ehem. CSFR und der ehem. Sowjetunion zusammen.

Die Ausreisebedingungen in Rumänien wurden nach dem Sturz und der Hinrichtung des Partei- und Senatschef Nicolaie Ceausescu gelockert. Daraufhin wanderten 1990 111.150 Rumäniendeutsche fluchtartig aus. Die Zahl war schon im folgenden Jahr stark rückläufig (Vgl. Bundesministerium des Innern 2000, S.37). Gleiches gilt für Ungarn und die ehemalige Tschechoslowakei.

Insgesamt stellen die Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion, die sogenannten Russlanddeutschen, mit über 90 Prozent der Einwanderer seit 1993 und über 98 Prozent seit 1997 die dominante Zuwanderungsgruppe überhaupt in der BRD dar. Jährlich verlassen noch immer bis zu 100.000 Menschen die ehemalige Sowjetunion, um in Deutschland zu leben. Die Gründe und Aussiedlungsmotive sollen im Folgenden erläutert werden. Dabei ist der Trend jedoch zunehmend rückläufig (Vgl. Zeitungsartikel SZ, siehe oben).

Anmerkung: In der Statistik ist nicht die große Gruppe der Asylanträge aus den osteuropäischen Ländern enthalten.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Bundesministerium des Innern 2003, S. 6

Bezogen auf die Aussiedler der Sowjetunion - und zwar auf die sogenannten Spätaussiedler - (Erläuterung siehe 2.1) kann man in Tabelle 2 sehen, dass der größte Teil von ihnen aus Kasachstan stammt. Viele Russlanddeutsche lebten hier bis zu ihrer Ausreise, seit sie im Zweiten Weltkrieg von der Krim und aus den ukrainischen Gebieten deportiert wurden. Als zweitgrößtes Aussiedlungsland gilt die russische Föderation, da auch nach Sibirien eine große Zahl Deutscher zwangsumgesiedelt wurden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2: DBH Bildungswerk 2003, Seite 3

Demographische Daten:

Die russischen Aussiedler zeichnen sich durch eine vergleichsweise niedrige Altersstruktur im Vergleich zu den Einheimischen aus. Gegenüber 55.800 Menschen über 25 Jahre stehen 42.684 junge Menschen unter 25. Damit macht diese Altersgruppe beinahe die Hälfte der Bevölkerung aus. Auch Dietz bestätigt den hohen Anteil an Kindern und Jugendlichen. „Unter den im Jahre 2000 zugewanderten Aussiedlern sind 44 Prozent jünger als 25 Jahre, während in der deutschen Bevölkerung dieser Anteil nur 26 Prozent beträgt“ (Dietz 2003, S.20).

Der Anteil der Frauen ist etwas höher als der der männlichen Zugezogenen. (Siehe Tabelle 3) Im Altersbereich von null bis 24 Jahre sind jedoch beinahe genau gleich viele Jugendliche und junge Erwachsene bei beiden Geschlechtern zu beobachten (21.344 männliche und 21.351 weibliche Russlanddeutsche).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 3: DBH Bildungswerk 2003, S. 5

Khuen-Belasi weist darauf hin, dass drei Viertel der einreisenden Spätaussiedlerfamilien binational sind: „In der Regel ist ein Elterteil deutscher Abstammung, ein Elternteil russisch“ (Khuen-Belasi 2003, S. 54).

2.3 Deutsche in Russland und der ehemaligen Sowjetunion

2.3.1 Geschichtliche Entwicklung

Den Versuch, ausländische Fachkräfte für Russland zu gewinnen, machte schon Iwan III im 15. Jahrhundert. Peter I. (1689-1725) wandte sich politisch und wirtschaftlich Europa zu und warb Offiziere, Wissenschaftler, Baumeister sowie Handwerker aus Deutschland an. Ein Teil von ihnen verließ Russland wieder, andere blieben dort und schafften die Grundlage für deutsche Siedlungen in Russland.

Mit Beginn der Regierungsperiode von Zarin Katharina II. (1762-1796) - einer deutschen Prinzessin - änderte sich die russische Ausländerpolitik grundlegend. Die Expansion des Landes Richtung Schwarzes Meer und Balkan erforderte auch dessen wirtschaftliche Erschließung. Nach europäischen Vorbildern (etwa den britischen Kolonien in Nordamerika) sollte damit der Wohlstand des gesamten Landes steigen. Diesen Aufschwung erhoffte die Zarin mittels ausländischer Arbeitskräfte zu erzielen. Denn persönlich freie Siedler gab es in Russland kaum, die meisten waren an die Leibeigenschaft ihrer Grundherren gebunden. Daher war es notwendig, Siedler aus dem Ausland anzuwerben.

Um eine Umsiedlung nach Russland attraktiv zu machen, erließ Katharina II. am 22. Juli 1763 ein Einladungsmanifest, indem ein Leben in Russland mit Privilegien verbunden war. Diese waren: Religionsfreiheit, Befreiung vom Militär- und Zivildienst, Steuerfreiheit von bis zu 30 Jahren, Selbstverwaltung und staatliche Unterstützung bei der Umsiedlung (Vgl. Bundesministerium des Inneren 2002, S. 16). Das Manifest wurde an mehreren europäischen Höfen verbreitet. Besonderen Anklang fand es in den Landesteilen, die am Meisten unter dem Siebenjährigen Krieg (1756- 1763) zu leiden hatten. Hessen, Nordbayern, Nordbaden und die Rheinprovinz.

In den folgenden Jahren wanderten zwischen 23000 und 29000 Menschen aus Deutschland sowie auch einige Franzosen, Holländer und Schweden nach Russland aus. Einige der Einwanderer wurden in der Nähe von Petersburg angesiedelt, der Großteil reiste jedoch zur Gründung der Kolonien in den Wolgasteppen in die Nähe des Städtchens Saratow. Jeder Kolonist erhielt mit seiner Familie 30 Hektar Land. Der größte Teil der Siedler waren, wie im Einladungsmanifest versprochen, freie Bauern und zu keinerlei Abgabe verpflichtet. Einige Kolonien waren jedoch von Gründern beauftragt, die im Dienst von Landesherren standen. Die dort lebenden Landwirte mussten zehn Prozent ihrer Erträge an diese abgeben, weshalb sie zum Teil mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten. 1779 jedoch wurden alle Kolonien dem Fürsorgekomitee für Ausländer unterworfen. Insgesamt wurden 104 Kolonien gebildet, die zum Teil allerdings durch Überfälle von Nomaden vernichtet wurden.

Unter der Herrschaft Katharina II gelang es Russland, die Türkei in mehreren Feldzügen zu besiegen. Somit sicherte sich Russland die Nordküste des Schwarzen Meeres bis hin zum Dnestr. 1785 trafen die ersten Deutschen zur Kolonialisierung ein, aber auch andere, Griechen, Albaner, Armenier und Slawen wurden dort angesiedelt. Hier wurden den Familien jeweils bis zu 65 Hektar Land bereitgestellt. Haupterzeugnis aller Kolonien war Brotgetreide.

Ab 1804 wurde die Zahl der Kolonisten pro Jahr auf 200 Familien beschränkt. Diese mussten gesund, frei, verheiratet und von Beruf Bauer oder Handwerker sein sowie Ware oder Bargeld im Wert von mindestens 300 Gulden vorweisen können. „ An diese Kriterien hat man sich bei der Auswahl der Kolonisten dann auch gehalten, an die zahlenmäßige Beschränkung nicht immer“ (Bundesministerium des Inneren 2000, S. 17). Ab etwa 1820 war die Ansiedlungsphase abgeschlossen.

Die Gesamtzahl der Deutschen, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den russischen Kolonien niederließ, beziffert sich etwa auf 55.000. Insgesamt wird die Zahl der deutschsprachigen Kolonisten auf etwa 100.000 geschätzt (Vgl. Tröster 2003, S. 18). Zur Erinnerung an ihre deutsche Heimat gaben die Siedler ihren Kolonien Namen wie Landau, Rastatt, München, Worms oder Speyer. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden diese Namen durch russische ersetzt.

Die Kolonien standen zwar außerhalb der allgemeinen Verwaltung, fügten sich jedoch gut in Gesellschaft ein. Während des Krim-Krieges 1853-1856 leisteten die Kolonisten trotz ihrer Befreiung vom Militärdienst freiwillig Fahrdienste, pflegten Verwundete und lieferten große Mengen an Lebensmitteln und Viehfutter für die Armee (Vgl. Bundesministerium des Innern 2000, S. 19). Nach der Kriegsniederlage wurden einige Reformen eingeführt, die unter anderem die Befreiung vom Wehrdienst und ebenso die Selbstverwaltung der Kolonisten aufhob. Problematischer war allerdings die aufsteigende Diskussion über die „Deutsche Frage in Russland“. In den Gebieten Wolhynien, Podolien und Kiew gab es zu Beginn des Jahres 1880 mehrere zehntausend deutsche Kolonisten. Die sogenannten Slawophilen, die sich in ihrer Denkrichtung auf die russische Tradition beriefen, sahen durch die Deutschen eine Gefahr für diese Gebiete durch eine „Germanisierung“ und forderten eine Verdrängung der deutschen Bauern. Das 1887 eingeführte Fremdengesetz entsprach ihrer Forderung, woraufhin tausende Deutsche das Land verließen und nach Übersee auswanderten.

Insgesamt führte die Diskussion zu einer deutschenfeindlichen Stimmung in Russland. Dies wirkte sich auf deutsche Schulen aus, die daraufhin russifiziert wurden. Nach Ausbruch des ersten Weltkrieges wurden 1915 die sogenannten Liquidationsgesetze erlassen, nachdem die Deutschen auf einem Gebiet von 150 Kilometern ihren Grundbesitz verloren und ausgesiedelt wurden. In den folgenden Jahren verließen etwa 200.000 Kolonisten, die zum Teil wirtschaftlich ruiniert waren, die Region Wolhynien. Die Gesetze wurden bis 1917 auf alle deutschen Kolonien im europäischen Teil Russlands sowie in Turkmenistan und Sibirien ausgeweitet, obwohl die Truppen des deutschen Reiches kaum russische Gebiete besetzen konnten „Die Deutschen Russlands wurden als „innerer Feind“ angesehen und bekämpft“ (Bundesministerium des Inneren 2000, S 19).

1921/1922 litten die Kolonisten in der Ukraine und an der Wolga unter einer verheerenden Missernte. Zwar wurde nationale und internationale Hilfe geboten, die für viele Deutsche jedoch zu spät kam. Die Bevölkerung der Wolgakolonien verringerte sich zum einen durch Abwanderung, zum anderen durch Hungertod um 26,5 Prozent (Bundesministerium des Inneren, S.20). Nach der Überwindung einer zweiten Hungersnot 1924 wurde das mittlerweile autonome Gebiet (wurde 1918 durch Lenin anerkannt) der Wolgadeutschen zu einer Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik (ASSR) aufgewertet. Außerdem wurden die Kolonien zu insgesamt acht deutschen Landkreisen zusammengefasst. Zudem war es den Deutschen wieder erlaubt, Deutsch zur Landes- und Unterrichtssprache zu machen. Das Recht, deutsch zu sprechen, war ihnen während der Anfeindungen im Ersten Weltkrieg aberkannt worden. Sie konnten ein Schul- und Bildungssystem aufbauen, sowie Theater und Zeitungen gründen. Sie blieben jedoch nicht gegen staatliche Übergriffe geschützt: zwar wurde nach und nach das gesamte Land von der Regierung enteignet, während aber der Landesdurchschnitt noch bei 57,7 Prozent lag, die ASSR war jedoch bis 1931 schon zu 95 Prozent kollektiviert. „Damit war die Wolgarepublik als erste größere Verwaltungseinheit voll unter Kontrolle“ (Bundesministerium des Inneren 2000, S. 20). Für viele ehemals wohlhabende Bauern hieß das, mit ihren Familien in entlegene Gegenden wie Sibirien und die Trockensteppen Mittelasiens verbannt zu werden. Dieses Schicksal teilten neben Deutschen aus vielen Landesteilen auch hunderttausende Bauern anderer Volkzugehörigkeit. Viele Deutsche versuchten über die Deutsche Botschaft in Moskau ins Deutsche Reich aufgenommen zu werden. Einigen Tausend gelang dies; die deutsche Regierung stand der Aufnahme der Russlanddeutschen jedoch ablehnend gegenüber und begründete dies mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten und der Sorge, die deutsch-sowjetischen Beziehungen zu belasten. Ebenso wurde die Bitte um Aufnahme mit der Begründung verweigert, die deutsche Nationalität sei zweifelhaft.

Die Machtübernahme der NSDAP wirkte sich sehr nachteilig auch für die Deutschen in der UdSSR aus. In verschiedenen Siedlungsgebieten wurden im Jahr 1934 österreichische und deutsche Migranten heimlich in Listen erfasst. Durch diese Listen waren sie besonders leicht zu identifizieren und zu kontrollieren. Wie in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg waren die Deutschen erneut Anfeindungen ausgesetzt; ihnen wurden u.a. Verbindungen zum nationalsozialistischen Regime in Deutschland, Spionage, Propaganda oder Zellenbildung einer sowjetfeindlichen Vereinigung unterstellt. „Fast die gesamte deutsche Intelligenz wurde im Schnellverfahren wegen angeblicher Spionage, illegaler Verbindungen zum Ausland, Propaganda für eine auswärtige Macht usw. zum Tode oder zu Zwangsarbeit verurteilt“ (Tröster 2003, S. 21). Nach dem Überfall der Deutschen 1941 auf die Sowjetunion erfolgte im Verlauf der Stalinischen Säuberung anhand der Listen Verhaftungen und Deportationen der Deutschen in der Sowjetunion. Diese wurden in Arbeitslagern gehalten, die nur wenige überlebten. Allein in der Ukraine wurden 1937/1938 122.237 Deutsche zum Tode verurteilt, 72.783 zu Gefängnis-/Lagerhaft von bis zu 25 Jahren. (Vgl. Bundesministerium des Innern, S. 21). Wie man seit Öffnung der sowjetischen Archive Anfang der neunziger Jahre sicher weiß, waren die Verhafteten unschuldig.

Ab 1938 wurden sämtliche deutsche Landkreise aufgelöst, Schulunterricht musste wieder in russisch oder ukrainisch abgehalten werden. 1941 begann die Deportation der Deutschen von der Insel Krim. Etwa 100.000 Deutsche wurden aus ukrainischen Gebieten nach Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan gebracht. Noch im gleichen Jahr wurde die gesamte deutsche Bevölkerung der Wolgaregion mit der Begründung nach Kasachstan und Sibirien deportiert, für das Deutsche Reich zu spionieren, Anschläge zu planen oder diese zumindest zu unterstützen, kurz, der „aktiven Unterstützung der deutsch-faschistischen Aggressoren“ (Heidebrecht 1998, S.54). Um Blutvergießen zu verhindern, so lautete die Begründung, würden die Deutschen umgesiedelt. Das gesamte Hab und Gut der Familien wurde beschlagnahmt, nur einige Lebensmittel und Kleidungsstücke durften mitgenommen werden. Das ehemalige Gebiet der ASSR wurde unter den anliegenden Gebieten aufgeteilt. „Bis Ende 1941 wurden nach amtlichen Unterlagen 799.459 Personen deportiert, darunter auch Menschen aus Aserbaidschan und Georgien. Es folgten noch etwa 50.000 Deutsche aus anderen Siedlungsgebieten. Die Deportierten durften ihren Aufenthaltsort nicht ohne weiteres verlassen. Die deutsche Bevölkerung westlich des Dnepr war wegen des rasche Vormarsches der deutschen Wehrmacht von Deportationen nicht betroffen.

Ab Oktober 1941 wurde zuerst nur Männer, dann auch kinderlose Frauen und später auch Frauen ohne Säuglinge zur Arbeitsarmee einberufen. Die Trupps wurden zum Bau von Industrieanlagen, Bahnlinien, Kanälen und im Bergbau eingesetzt (Vgl. Bundesministerium des Innern 2000, S. 21). Die damalige Anzahl der deutschen Arbeitarmisten wird auf etwa 100.000 geschätzt.

Die Deutschen in der Ukraine hatten unterdessen mit der Auflösung von Schulen, Kirchen und Kultureinrichtungen zu kämpfen. Selbst ihr Land wurde unter anderen Dorfeinwohnern aufgeteilt. In der Verwaltungssprache waren sie Volksdeutsche und standen unter dem Schutz des Deutschen Reiches.

Die deutschen Truppen mussten im Herbst 1943 zurückweichen, woraufhin die Umsiedlung der deutschen Bewohner der Ukraine von der deutschen Regierung vorgenommen wurde. Die meisten der Flüchtlinge kamen ins polnische Wartheland, zur „Germanisierung“ dieses Landes (Vgl. Bundesministerium des Innern 2000, S.22). Sie wurden später in den Häusern vertriebener Polen untergebracht und eingebürgert. Nach Kriegsende wurde die Einbürgerung 1955 durch das „Gesetz zur Regelung der Staatsangehörigkeit“ von Deutschland anerkannt.

Ein Großteil der Russlanddeutschen wurde bei Kriegsende jedoch gewaltsam auf Befehl von Stalin in die Sowjetunion zurückgebracht. Viele Familien wurden dabei getrennt; es starb ein großer Teil der Menschen während der Rücktransporte. Ebenso wie die Arbeitsarmisten hatten sie bis Ende 1955 Schwerstarbeit zu leisten. Sie galten als „Heimverräter“. Etwa 1,5 Millionen Russlanddeutsche jeder Altersgruppe befanden sich in den Arbeitslagern. Auch diejenigen die sich nicht in Gefangenschaft befanden, waren „Bürger zweiter Klasse und hatten keinerlei Rechte“(Heidebrecht 1998, S.56). Im September des Jahres 1955 verhandelte Konrad Adenauer um die Freilassung der Kriegsgefangenen. Daraufhin erließ die sowjetische Regierung das Dekret „Über die Aufhebung der Beschränkungen in der Rechtsstellung der Deutschen und ihrer Familienangehörigen, die sich in den Sondersiedlungen befinden.“ Sie durften nicht zurück in ihre Vertreibungsorte und erhielten keinen Anspruch auf ihre Habe oder eine Entschädigung.

Das Verbot der Rückkehr sowie die Deportationen führten zu einer völlig neuen Verteilung der Deutschen in der Sowjetunion: Während noch 1926 31,8 Prozent in der Ukraine lebten, 54,6 Prozent auf der Krim und den anderen europäischen Teilen des Landes, in Sibirien 6,6 und in Kasachstan 4,1 Prozent, lebten im Jahre 1979 nur noch 1,8 Prozent Russlanddeutsche in der Ukraine, im europäischen Teil der Sowjetunion siedelten 18,6 Prozent, in Sibirien 23,8 Prozent sowie 46,5 Prozent in Kasachstan. Die Zahl der in Mittelasien lebenden Deutschen war von 0,8 Prozent auf 9,3 Prozent gestiegen (Vgl. Bundesministerium des Innern 2000, S.22). Die meisten Deutschen wählten Kasachstan als Siedlungsort, „wo das Klima wenigstens annähernd so war wie in der Ukraine oder auf der Krim“ (Heidebrecht 1998, S. 56). Durch die räumliche Verteilung der Deutschen in der Sowjetunion stand einer Russifizierung nichts mehr im Wege. Im Laufe der nächsten Jahrzehnte lebten die meisten sozial integriert oder sogar assimiliert. Die Möglichkeiten für Deutsche stiegen seit den sechziger Jahren erheblich, einen Beruf zu erlernen und nicht, wie bisher, vorwiegend schlecht bezahlte und ungelernte Tätigkeiten auszuüben. Auch die Zahl der ausgeübten akademischen Berufe stiegen kontinuierlich. Dies geschah u.a. unter dem Druck der Bundesrepublik Deutschland, die mehr Rechte für die in Russland lebenden Deutschen erwirkte. Ab 1957 bestand wieder die Möglichkeit, die deutsche Sprache in der Schule zu erlernen. Allerdings weist Heidebrecht darauf hin, dass hier weder genügend qualifizierte Lehrkräfte noch die benötigten Unterrichtsmaterialien zur Verfügung standen (Heidebrecht 1998, S. 57). „Unter diesen Bedingungen ging die deutsche Sprachkompetenz verloren und die Kultur der deutschen Minderheit geriet in Vergessenheit bzw. stagnierte auf dem status quo der Vorkriegszeit“ (Dietz; Roll 1998, S. 23). Somit wurde die Russifizierung vorangetrieben. Weniger als die Hälfte aller in der Sowjetunion lebenden Deutschen betrachtete im Jahr 1979 noch Deutsch als ihre Muttersprache (Vgl. Bundesministerium des Innern 2000, S. 22). Seitdem wurden jedoch auch die Gründung deutscher Zeitungen, Musikensembles und Theater wieder gestattet. Das Recht, in ihre früheren Siedlungsgebiete zurückzukehren, blieb ihnen jedoch weiterhin untersagt. Die Anschuldigungen der Kollaboration, zwar durch das Dekret 1964 offiziell zurückgenommen, wirkten ebenfalls noch nach.

Der Wunsch, die Sowjetunion zu verlassen, bestand weiter und wurde durch die zunehmende Verbreitung deutscher Medien lauter. In den achtziger Jahren entstanden zahlreiche Autonomiebewegungen. Zeitungsberichte zu tabuisierten Themen wurden veröffentlicht, Delegationen zu Verhandlungen mit der Regierung gebildet, die Probleme der deutschen Volksgruppen öffentlich gemacht und Lösungswege formuliert. „Die personelle Zusammensetzung zeigte, dass die Bewegung alle Regionen des Landes sowie alle Altersgruppen und sozialen Schichten erfasst hatte“ (Bundesministerium des Innern 2000, S. 24). Letztendlich aber unterschrieb 1991 Boris Jelzin gemeinsam mit Helmut Kohl eine gemeinsame Erklärung: „Russland bekannte sich darin zur „Wiederherstellung der Republik der Deutschen in den traditionellen Siedlungsgebieten ihrer Vorfahren an der Wolga“ sowie zur Schaffung und Förderung von nationalen Bezirken für die Deutschen in ihren gegenwärtigen Siedlungsgebieten“ (Bundesministerium des Innern 2000, S.25). Jedoch betrieb die UdSSR eine hinhaltende Politik, die versprochene Wolgarepublik kam nach offizieller Absage nicht zustande. Dies führte zu einer Verstärkung des Ausreisewunsches. Wie viele Russlanddeutsche in den folgenden Jahren das Land verließen, ist den Zahlen in 2.2 zu entnehmen. Die Sowjetunion existierte bis 1991.

(Siehe hierzu auch Anhang 3)

2.3.2 Soziokultureller Hintergrund der Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion

Die Lebenssituation in den Herkunftsländern hat die Entwicklung der Aussiedlerjugendlichen maßgeblich geprägt und beeinflusst deutlich ihre Integrationschancen in der Bundesrepublik. Diese Lebensbedingungen sollen im Folgenden vorgestellt werden.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion begannen einige Staaten wie etwa Kirgisien oder Kasachstan, die jeweilige Sprache als Staatssprache einzuführen und die russische Sprache allmählich zu ersetzen. Die Deutschen waren verunsichert, hatten Angst um ihre Karriere- und Bildungschancen, zumal die führenden Positionen von Einheimischen besetzt wurden. Besonders in Kasachstan waren viele Deutsche von den (erneut) aufkommenden Ungleichheiten stark betroffen. Die Nachfolgestaaten, ausnahmslos Vielvölkerstaaten, betrieben also eine nationalstaatliche Politik (Vgl. Dietz 1997, S.21).

Dazu kamen seit dem Niedergang der UdSSR eine instabiler werdende ökonomische Situation, die den Jugendlichen wenig Perspektiven eröffnete. Zwar betrachteten über ein Drittel der befragten Jugendlichen einer Studie von Dietz und Roll zufolge den Lebensstandard ihrer Familie als gut bis sehr gut, gleichzeitig muss aber beachtet werden, dass sogar die materiell Bessergestellten noch immer weit unter dem Durchschnitt der BRD lagen (Dietz; Roll 1998, S.25). Dabei war die Situation der Aussiedler in der Regel auf dem Niveau der Einheimischen. Jedoch hat sich die materielle Situation in den Jahren vor der Aussiedlungswelle bei fast allen Familien verschlechtert. „Sehr häufig wird von den Aussiedlern materielle Not im Herkunftsland angegeben. (...) Gleichzeitig gibt es Angaben, es habe fast nichts zu essen gegeben“ (Masumbuku 1995, S.113f). Dietz und Roll berichten von einer hohen Inflationsrate, Kurzarbeit, teilweise über Monate nicht ausbezahlte Löhne sowie einer Kürzung öffentlicher Leistungen (Dietz; Roll 1998, S.25). Verbunden damit ist ein aus den Lebensverhältnissen resultierender Werteverlust besonders unter den Jüngeren, womit teilweise auch der steigende Konsum von Alkohol und Drogen sowie eine erhöhte Hinwendung zu Glaubensgemeinschaften und Sekten zu erklären ist.

Höhere Bildung ist zudem in der ehemaligen UdSSR nicht zwangsläufig mit höheren Verdienstchancen gleichzusetzen. Daher treten heutzutage eine steigende Zahl Jugendlicher früher ins Berufsleben ein, teilweise, ohne eine entsprechende Berufsausbildung absolviert zu haben. Auch bei einer abgeschlossenen Ausbildung arbeiten etwa die Hälfte der Hochschulabsolventen in einem fachfremden Beruf (Vgl. Argumenty i fakty Nr. 9, in: Dietz 1997, S.25). Folgende Merkmale skizzieren einen entstehenden Arbeitskräftemarkt für Jugendliche in der ehemaligen UdSSR: „niedriges Qualifikationsniveau, niedriger Arbeitslohn, manuelle Arbeit, sporadische Beschäftigung, begrenzte Berufsauswahl, schlechte Arbeitsbedingungen, ´horizontale` Mobilität und Teilbeschäftigung“ (Slepzow 1993, zitiert nach Dietz 1997, S.26). Zudem bildet sich ein illegaler Markt für Waffen und Drogen sowie eine Reihe halblegaler Tätigkeiten, die den Jugendlichen ohne berufliche Perspektiven die Chancen auf ein hohes Einkommen ermöglichen. Insgesamt hat auch das vormals gute Bildungswesen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion stark an Ansehen verloren.

Bezüglich der deutschen Sprache wird diese, wenn überhaupt, vorwiegend als Fremdsprache erlernt. Den muttersprachlichen Deutschunterricht haben nur die Wenigsten erlebt. Wie schon im vorangehenden Kapitel erwähnt, fehlten die nötigen Mittel für einen qualifizierten Sprachunterricht. Zudem sinkt durch die steigende Zahl der aussiedelnden Deutschen der Bedarf. „Bereits seit Jahrzehnten ist in der vormaligen Sowjetunion absehbar, dass die deutsche Bevölkerung die deutschen Sprachkenntnisse verliert. „(...)Die deutsche Sprache ist heute in den Nachfolgestaaten der UdSSR eine ´Großelternsprache`, die nur in wenigen deutschen Familien im privaten Bereich verwendet wird“ (Dietz 1997, S. 27). Ausbildung und Schule wurden in der Regel in Russisch absolviert.

Die Sprache schlägt sich auch im Grad der Assimilation an das Herkunftsland nieder. Je geringer diese ausfällt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, bei der Einreise deutsche Sprachkenntnisse zu besitzen. Auch die Beibehaltung bestimmter ´deutscher` Werte und Traditionen führt zu leichterem Einleben in die Ankunftsgesellschaft. Dabei sind die Jüngeren in der Regel im Nachteil, da ihr Anpassungsgrad an das Herkunftsland üblicherweise hoch ist und sie kaum oder keine deutschen Sprachkenntnisse mitbringen. Häufig tragen sie auch russische Namen. „Diese offensichtliche Fremdheit (...) trägt (...) wesentlich dazu bei, dass Einheimische Russlanddeutsche als Russen wahrnehmen und bezeichnen“ (Tröster 2003, S.111). Dietz und Roll weisen aber darauf hin, dass ein Teil der jugendlichen Aussiedler, besonders diejenigen, die aus den moderneren Teilen der ehemaligen Sowjetunion wie der Ukraine oder Russland stammen, es leichter haben, sich zu integrieren als andere. Viele junge Aussiedler haben die seit den Neunzigern stark modische und kulturelle Orientierung an westlichen Vorbildern erlebt. „Das bedeutet zum einen, dass ein Teil der ausgesiedelten Jugendlichen und ihre Eltern Rollenerwartungen und Werthaltungen haben, die sich bereits an westliche Orientierungen annähern und den Jugendlichen eine Akkulturierung an bundesdeutsche Werte erleichtern“ (Dietz; Roll 1998, S.103). Da jedoch weniger als die Hälfte aller Aussiedler aus Russland oder der Ukraine stammen und zudem viele der Jugendlichen nicht in der Stadt aufwachsen, dürfte die Zahl derjenigen, die sich schon zuvor an westlichen Vorbildern orientieren konnten, eher begrenzt sein.

Eine besondere Rolle spielte auch die Religion. „Im Herkunftsland war die Religion Ausdrucksform ethnisch-kultureller Besonderheiten als Russlanddeutscher wie auch als Faktor für die soziale Integration im Familien- Generations- und Wirtschaftsverband“ (Strobl; Kühnel 2000, S.36). Strobl und Kühnel weisen jedoch daraufhin, dass die Bedeutung der Religion bei den jüngeren Generationen deutlich sinkt. Über die Hälfte der in Deutschland lebenden Aussiedler ist evangelisch.

Die Freizeit verbrachten die Jugendlichen auf Strasse und Hof, wobei öffentliche Plätze als Treffpunkte in der Stadt gelten. Ähnliches Verhalten ist unter jungen Aussiedlern auch hierzulande zu beobachten. Dem gegenüber war die Akzeptanz in der ehemaligen UdSSR deutlich höher, es gab zudem für Jugendgruppen in der Öffentlichkeit weniger Restriktionen. Kommerzielle Angebote waren in der Regel Sportangebote, das Treffen in Cafes oder Kneipen war für die Meisten zu teuer.

Die Familie und der Freundeskreis hatte für die Jugendlichen eine herausragende Bedeutung. Das Eintrittsalter in die Ehe sinkt seit den achtziger Jahren kontinuierlich. „Ein Rückzug in die Privatsphäre zeichnet sich ab“ (Dietz 1997, S. 28). 78,7 Prozent gaben als liebste Freizeitbeschäftigung das Treffen von Freunden an (Dietz; Roll 1998, S.113.). Innerhalb der Nachbarschaft bestanden engere Kontakte als in Deutschland. Auch der geringe persönliche Kontakt zu Arbeitskollegen stößt nach der Migration in die BRD auf Enttäuschung. Unangemeldete, spontane Besuche waren in der ehemaligen UdSSR üblich. Die Gepflogenheiten der Kontaktaufnahme hierzulande verunsichern die Eingereisten und erzeugen Verhaltensunsicherheit. Auch werden ab einem bestimmten Punkt der Kontaktaufnahme die soziokulturellen Differenzen deutlich. Einige von Tröster befragte Russlanddeutsche berichten, „dass das Wissen, von den Einheimischen wegen der unterschiedlichen Lebenserfahrung nicht verstanden zu werden, ihre Kontaktfreudigkeit und -bereitschaft trotz generell vorhandenem Interaktionswunsch beeinträchtigt“ (Tröster 2003, S.108).

Die verbreitete Ansicht, dass die Aussiedlerjugendlichen in der Vielzahl unter ethnischen Konflikten zu leiden hatten, kann in der mir vorliegenden Literatur nicht bestätigt werden. Im Gegenteil: Die meisten Jugendlichen berichten von sozialer Integration im Herkunftsland. Unter der Problematik der Ausgrenzunghatten eher Ältere zu leiden, die den Zweiten Weltkrieg und die Auswirkungen auf das Leben in der Sowjetunion selbst miterlebt haben und somit als Faschisten beschimpft wurden. Die Herkunft der Familie spielte bei der Identitätsbildung der Jugendlichen eine geringe bis keine Rolle.

Es muss beachtet werden, dass Aussiedler eine völlig andere Sozialisation erfahren haben als bundesdeutsche Einheimische. „Die Menschen kommen aus einem grundsätzlich anderen System, mit einer stark dirigistisch geprägten Lebensweise, aus einer völlig anderen Sozialisation“ (Heidebrecht 1998, S.61). Daraus resultieren andere internalisierte Werte und Normen, an diesen sie sich nach der Umsiedlung in die BRD zumindest zunächst einmal orientieren. Dabei stellen die Eingereisten häufig fest, dass die Unterschiede zur Bevölkerung im Ankunftsland größer sind als zunächst erwartet. Dies bezieht sich besonders, wie schon erwähnt, auf Normen und Werte, aber auch beim Vergleich von Umgangsformen und Traditionen, bis hin zu Charaktereigenschaften und sozialen Beziehungen. Dabei stellen sich die Überlebensstrategien des Herkunftslandes, etwa Unauffälligkeit, Hinnahme von politischer Willkür etwa, in Deutschland als integrationshemmend heraus. „Neben der (...) fehlenden Durchsetzungsfähigkeit und Eigeninitiative ist der Eingliederungserfolg Russlanddeutscher (...) vor allem gefährdet durch deren Angst vor freier Meinungsäußerung und Selbstbehauptung (Tröster 2003, S. 106). Zudem waren im Herkunftsland Kreativität und Selbständigkeit keine gefragten oder besonders hilfreichen Eigenschaften, zumal das Verhalten im Herkunftsland aufgrund der politischen und ökonomischen Situation eher ein „ treiben lassen, kein Ziel haben “ ( Interview, zitiert nach Tröster 2003, S.106) statt Ehrgeiz und Zielstrebigkeit aufzeigt. Dadurch fehlen die in der Bundesrepublik nötigen sozialen Kompetenzen sowie das Verständnis dafür, dass der Erfolg einer gelungenen sozialen Integration auch maßgeblich von Eigeninitiative abhängt. Dazu muss bemerkt werden, dass dies einen Teil der Aussiedler, bei weitem allerdings nicht alle betrifft.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 4 : Kornischka 1992, S. 82

Die hier aufgeführten Unterschiede und Lebenserfahrungen, verbunden mit Verständigungsschwierigkeiten, machen es für die Eingereisten besonders schwer, sich einzuleben. „ Sich gewöhnen, das dauert lange. Und man muss sich auch an das gewöhnen, was man nicht versteht. Sonst kann man hier nicht leben“ (zitiert nach Tröster 2003, S. 107).

2.4 Zuwanderungsmotive der Aussiedler

In der Migrationstheorie wird zwischen Push-Faktoren und Pull-Faktoren unterschieden. Die Push-Faktoren sind für die Emigration aus dem Herkunftsland verantwortlich, die Push-Faktoren für die Wahl des Zuwanderungslandes. In diesem Falle sind die Push-Faktoren (ehemalige Sowjetunion) Armut, ethnische Diskriminierung, Trennung von der Familie. Die Pull-Faktoren (BRD) „wirken über ein Nutzen-Kosten-Kalkül: im Zuwanderungsland werden bessere Überlebensbedingungen erwartet“(Dietz 1997, S.30). In den meisten Fällen spielen Push- und Pull-Faktoren zusammen und erzeugen den Migrationswunsch.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 5: Kornischka 1992, S.72

Die Gründe, welche die Russlanddeutschen bisher zur Ausreise bewegt haben und noch immer bewegen, sind vielschichtig. Es muss jedoch gesagt werden, dass eine zwingende Notwendigkeit zur Ausreise, wie sie etwa bei Kriegsflüchtlingen und Verfolgten besteht, hier in der Regel nicht gegeben ist.

Zum einen besteht der Wunsch nach Familienzusammenführung; viele Verwandte leben schon in der Bundesrepublik (die sogenannte Kettenmigration, vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2000, S. 38). Eine Ursache dafür ist die Reparation der Russlanddeutschen ins Deutsche Reich in den Jahren 1943 bis 1945. Wie schon erwähnt, wurden dadurch die Familien auseinandergerissen; während sich Teile der Familien in deutschen Gebieten befand, wurden andere wieder in die Sowjetunion verschleppt und zu Zwangsarbeit verurteilt. Dadurch waren zahlreiche Familien getrennt.

Zum anderen sind in den vorangegangenen Jahre viele in die Bundesrepublik ausgereist; die Ausreise der Verwandten, Freunde und Nachbarn hatte einen Sogeffekt.

Die Eltern hoffen nicht zuletzt darauf, für ihre Kinder bessere Ausbildungsmöglichkeiten zu erhalten. Die Chancen auf eine gute Bildung, das Erlernen der Muttersprache sowie von deutscher Kultur war zuvor in der Regel nicht möglich (siehe 2.3.2).

Insgesamt soll die Umsiedlung in die BRD die allgemeine Lebensqualität verbessern, insbesondere im Hinblick auf die Kinder. Vor allem der wirtschaftliche Niedergang der ehemaligen Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten erzeugten bei einem Großteil der Bevölkerung Armut. Im Vergleich dazu erscheint die Bundesrepublik als ein wirtschaftlich erfolgreiches, politisch stabiles Land, die Probleme hierzulande, etwa Arbeitslosigkeit, erscheinen im Vergleich zu Russland oder Kasachstan als wenig gravierend.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 6: Strobl; Kühnel 2000, S.85

Laut einer Umfrage in den Gebieten Nowosibirsk in Russland und Kustanaj in Kasachstan gaben beinahe die Hälfte der Befragten dort lebenden Deutschen an, dass sich ihr Lebensstandard in den letzten Jahren deutlich verschlechtert habe. Genauso viele waren auf den Lohn eines Nebenerwerbes angewiesen. Zwar waren von Arbeitslosigkeit deutlich weniger Menschen betroffen als in der BRD, häufig war jedoch die Lohnauszahlung unregelmäßig, Kurzarbeit und Zwangsurlaub waren üblich. Ebenso wurden die Infrastruktur und die Kommunikationssysteme kritisiert. Die Deutschen führten in der ehemaligen UdSSR einen der Stammgesellschaft angepassten durchschnittlichen Lebensstandard.

Strobl und Kühnel zitieren eine junge Aussiedlerin, die ihre Erinnerungen an Deutschland schildert:“(...) Das war ein Märchenland in unserer Kindervorstellung(...) Wir haben immer geträumt, wenn wir nach Deutschland kommen, bekommen wir von irgendwo... Wir haben nicht nachgedacht, woher das alles kommen sollte, woher die Mittel kommen sollten. Ich werde ein Haus haben, ein Auto, das die neueste Marke und das Schönste wird. Oft ist es so, dass die Verwandten von Deutschland die Päckchen und die Kataloge schicken. Man versteht absolut nichts von Preisen. Du siehst, dass alles schön und gemütlich ist. Du wählst, was du haben wirst, wenn du eine Möglichkeit, nach Deutschland zu gehen, haben wirst, in Deutschland leben wirst. `Ich werde so ein Haus haben. Ich werde zu Hause diese Stühle und jene Sesseln haben... ´Ich habe so gedacht. Jetzt ist es mir peinlich zu sagen, dass ich solche Vorstellungen gehabt habe “ (zitiert nach Strobl/Kühnel 2000, S.86).

Auch Masumbuku gibt an, dass eine realistische Vorstellung vom Leben in Deutschland in den meisten Fällen nicht gegeben ist (Masumbuku 1995, S.115).

Zwar bestand und besteht die Möglichkeit, realistische Informationen über das Leben und die Probleme der Aussiedler in Deutschland zu erhalten; viele Ausreisewillige lehnten diese jedoch ab; negative Informationsmaterialien könnten den einmal gefassten Entschluss der Ausreise gefährden. Unterstützt wurden sie damit durch in Deutschland lebende Verwandte, „die in vielen Fällen ein geschöntes Bild ihrer Aufnahme in Deutschland zeichnen, um den eigenen Ausreiseentschluss zu rechtfertigen“ (Dietz 1997, S.36). Zusätzlich hatten viele Angst, dass die hohe Zahl der Einwanderer in die BRD dort eine veränderte Aussiedlerpolitik zur Folge haben könnte, welche die fortbestehende Einreisemöglichkeit verwehren könnte. Daher wurden Ausreisen schnell und manchmal überstürzt abgewickelt.

Russlanddeutsche hatten teilweise in den asiatischen Staaten wie Kirgisien oder Kasachstan mit dem aufkommenden Nationalismus und Verdrängungsdruck zu kämpfen. Unter anderem wurde Kasachisch Staats- und Unterrichtssprache. Die Absage Jelzins an eine in absehbarer Zeit Wiederherstellung der Wolgarepublik sowie „das Scheitern verschiedener Hilfsprojekte der Bundesregierung“ ( Tröster 2003, S 26) ließen die Hoffnung auf ein besseres Leben in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion schwinden und den Wunsch nach Ausreise bestärken.

Insgesamt sind in der Regel mehr als ein Motiv Grund für den Ausreisewunsch, „wobei (...) Untersuchungen nahe legen, dass sich das Hauptgewicht von der Familienzusammenführung hin zu sozialen und ökonomischen Motiven verschoben hat“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2000, S.38).

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich also ein Motivwandel vollzogen. Während in den achtziger Jahren noch der Wunsch „als Deutscher unter Deutschen“ und im Familienverband zu leben sowie ethnische Gründe Vorrang hatten, spielten in den neunziger Jahren viel eher wirtschaftliche Gründe und die Furcht vor ethnischen Konflikten vordergründige Rollen. Zudem hatte die Emigrationswelle einen Sogeffekt.

Die Ausreise aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion wurde in den achtziger Jahren regelrecht behindert. „Oft mussten Aussiedler große Schwierigkeiten überwinden, um ihre Herkunftsländer verlassen zu können“ (Dietz 2003, S. 21). Denn die Behörden verweigerten Ausreisegenehmigungen oder zögerten sie zu lange hinaus. Die „Bestrafung“ für den Ausreisewunsch kostete manche ihren Arbeitsplatz, andere waren Anfeindungen ausgesetzt. In den neunziger Jahren hingegen wurde die Ausreise aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion kaum noch behindert. Allerdings wurde durch Gesetze und Regelungen (siehe 2.2) die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland erheblich erschwert.

Für Kinder und Jugendliche bedeutet die Umsiedelung eine einschneidende Erfahrung. Sie sind gezwungen, die vertraute Umgebung mitsamt Schule und Peer Group zu verlassen. Das wird gerade von Jugendlichen häufig als schmerzhaft empfunden. Die Ausreiseentscheidung wird von der Familie gemeinsam gefasst, wobei die Kinder jedoch häufiger die Rolle der „Mitgenommenen“ innehaben, an der Entscheidung also wenig Anteil hatten und oft lieber nicht emigriert wären. Jedoch darf nach Dietz (2003, S. 22) nicht davon ausgegangen werden, dass viele von den Kindern und Jugendlichen nicht mitkommen wollten. Ein Interviewpartner von Strobl und Kühnel beschreibt seine Teilhabe an der Migrationsentscheidung folgendermaßen: „Ich war 13 Jahre alt, was hat man da schon zu sagen? Ich wusste nicht, wo für mich besser ist - in Deutschland oder in Russland“ (zitiert nach Strobl; Kühnel 2000, S.83) Einige der Interviewpartner bestätigen ihren Anteil an der Entscheidung, einige wenige verneinen dies. Insgesamt aber stimmen Strobl und Kühnel mit Dietz überein, dass die meisten Jugendlichen die Entscheidung der Eltern annehmen und akzeptieren. Zurückkehren aber wollen die wenigsten; nach einer Umfrage des Osteuropa-Instituts konnten sich nur 1,2 Prozent eine Rückkehr vorstellen, 68 Prozent würden lediglich als Besucher in ihre ehemalige Heimat zurückkehren.

Das Osteuropa-Institut in München führte 1995/1996 unter jungen Aussiedlern zu deren Ausreisemotiven eine Befragung durch: Hierbei steht - wie bei den älteren Aussiedlern - mit 40 Prozent die Hoffnung auf materielle Verbesserung an erster Stelle. Mit 26, 9 Prozent folgt der Wunsch nach Familienzusammenführung. 1,2 Prozent wollten nicht ausreisen (Siehe Abbildung 1). Die Hoffnung auf eine verbesserte Nationalitätensituation weist auf die ethnischen Konflikte des Herkunftslandes hin (Vgl. Dietz 1997, S. 32).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1 aus: Dietz 1997, S. 32

2.5 Eingliederung: Ein neues Leben in der Bundesrepublik

Der Weg in die Bundesrepublik führt für die Einwanderer in der Regel über eins von vier Grenzübergangslagern, danach in Durchgangswohnheime oder Landesaufnahmestellen der Bundesländer. Nach einigen Wochen ziehen sie in die Übergangswohnheime in dem Ort, in dem sie ab dann ( zumindest zunächst einmal) leben werden. Dabei lebt der Durchschnitt der Aussiedler dort zwischen mehreren Monaten bis hin zu mehreren Jahren (Vgl. Kornischka 1992, S. 42). Die beengten Wohnverhältnisse wurden während dem Aussiedlungsboom in den neunziger Jahren noch mehr belastet.

Drei Autoren haben sich bereits in den achtziger Jahren mit den drei Phasen der Eingliederung in eine neue Gesellschaft befasst:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 7: Kornischka 1992, S.43

Dabei wird auch die Überidealisierung des „harten Paradieses Bundesrepublik“ (Scholz 1977, zitiert nach Kornischka 1992) deutlich, die durch die ernüchternden Verhältnisse enttäuscht wird. Aussiedler werden in Deutschland mit einem komplexen System konfrontiert.

Aussiedler haben Anspruch auf Eingliederungshilfen, die z.B. vom Bundesvertriebenengesetz und vom Arbeitsförderungsgesetz geregelt sind. Im Bundesvertriebenengesetz wird der Aussiedlerstatus, die Familienzusammenführung, Leistungen bei Krankheit und das Namensrecht sowie die Anerkennung von Zeugnissen und Befähigungsnachweisen geregelt. Diese spielen auch besonders für Jugendliche eine Rolle, etwa bei der Einschulung in einer bundesdeutschen Schule oder für den Beginn einer Ausbildung. Das Arbeitsförderungsgesetz sichert den ankommenden Familien den Lebensunterhalt und ermöglicht einen Sprachkurs. Dabei muss der Leistungsbezieher im Herkunftsland mindestens 150 Tage gearbeitet haben. Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Arbeitsförderungsgesetz können maximal sechs Monate bezogen werden. Zudem werden Ausbildungen, Umschulungen und Fortbildungen gefördert.

Für jugendliche Aussiedler gibt es spezielle Integrationsmaßnahmen. Reicht etwa die Ausbildungsvergütung nicht aus, kann eine Beihilfe erlangt werden. Zudem gibt es Maßnahmen der Benachteiligtenförderung, die sich besonders an junge Aussiedler mit Sprachdefiziten richtet. 1976 wurde von der Bundesregierung ein Eingliederungsprogramm für junge Aussiedler konzipiert, dass sich an junge Aussiedler von 14 bis 27 Jahren richtet, mit dem Ziel, ihnen die Integration zu erleichtern. Gefördert wird nach den sogenannten Garantiefonds. Die Träger der Jugendsozialarbeit sorgen für ein Angebot an Sprachkursen, Beratung und Betreuung, Förderschulen und Nachhilfeunterricht sowie die Bereitstellung von Tagesinternaten und Jugendwohnheimen. Die Gesamtförderdauer beträgt 24 bis 30 Monate. Allerdings wurden die großzügigen Eingliederungshilfen der siebziger und achtziger Jahre seit 1989 schrittweise eingespart. Während die Mittel 1991 noch 510 Millionen DM umfassten, waren es im Jahr 2000 nur noch 152 Millionen DM (Vgl. Bundesministerium des Innern 2000, S. 41). „Da junge Aussiedler aufgrund ihrer Sprachprobleme und ihrer ´Orientierungslosigkeit` in der bundesdeutschen Gesellschaft besonderer Hilfe bedürfen, gefährden die Mittelkürzungen die schulische, berufliche und soziale Integration der jungen Aussiedlergeneration“ (Dietz 1997, S. 53).

Problematisch ist die Beantragung der Eingliederungsleistungen: Die Kenntnis über die Berechtigung der verschiedenen Leistungen fehlt häufig, ebenso wie die Befähigung, aufwändige Beantragungen abzuwickeln. Dabei benötigen viele Aussiedlerjugendliche die Hilfe von Beratungsstellen.

2.6 Die Einstellung der deutschen Bevölkerung gegenüber Aussiedlern

„Fremdsein muss nicht krank machen, fremd und ausgegrenzt bleiben aber muss krank machen“ (Czycholl 1996, zitiert nach Giest-Warsewa 1998, S.90).

Die sozioökonomischen Variablen, welche die Aussiedler hier in Deutschland vorfinden, beeinflussen maßgeblich den Erfolg der Integration. Dazu gehört auch die Aufnahmebereitschaft im Ankunftsland. „Die Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen, wirkt sich auf den sozialen Integrationserfolg und das Wohlbefinden aus“ (Tröster 2003, S. 114).

Nach einer empirischen Analyse von Irene Tröster möchten sich die Eingereisten sich möglichst schnell und erfolgreich in die Stammgesellschaft integrieren. Darunter zählen die Kontakte zu dieser ebenso wie die Anerkennung als Deutsche sowie der Abbau ethnischer Vorurteile. Dabei „ hängt das Dazugehören nicht allein von uns ab“ (Tröster 2003, S.117).

Jedoch empfinden die Interviewten der Studie die Aufnahmebereitschaft der Deutschen als eher gering. Ihnen wird klar, dass sie in der Gesellschaft der Bundesrepublik nicht willkommen sind. Diese betrachtet Aussiedler nicht als Deutsche, sondern als Russen. Ansonsten werden Aussiedler von den Einheimischen als Wirtschaftsflüchtlinge angesehen. Dies ist auch im täglichen Sprachgebrauch zu beobachten. „Sie bezeichnen sie als „Sozialparasiten“, als „Faulenzer, die nichts schaffen, sondern nur von Sozialhilfe leben wollen“, oder bestenfalls als „Deutsche zweiten Grades“ (Tröster 2003, S.118). Sie stehen also einer Reihe von teilweise verletzenden Vorurteilen gegenüber. „Dies sind Äußerungen wie z.B. „Polen, Russen, Rumänen, Polacken, Ruskis, (...)Polen-Sau, Russen-Schweine, Kanacken, Scheiss-Pollacken und ähnliche teilweise grobe und primitive Ausdrücke“ (Kornischka 1992, S.44).

Eine Umfrage des Allensbach Instituts ergab 1988, dass 38 Prozent der Bundesbürger Aussiedler für Ausländer halten; 61 Prozent bewertete die Einreise negativ (Vgl. Kornischka 1992, S.45). Die Zahlen dürften heutzutage schätzungsweise noch höher sein, da damals die eigentliche Einreisewelle erst begann. Zudem erhöhen die fehlenden Sprachkenntnisse die Ablehnung und behindern Kommunikationsprozesse.

Kossolapow führte schon 1996 drei Gründe für die Unerwünschtheit von Aussiedlern in der Bundesrepublik an:

1) Das Moment der Verdrängung: Aussiedler sind Stein des Anstoßes, weil sie an das Dritte Reich, den Krieg, die Kriegsfolgen und die eigene damit unbewältigte Vergangenheit erinnern (Verdrängung)
2) Das Moment der Verteilung: Aussiedler sind Konkurrenten, weil sie weniger Ansprüche stellen und bereit sind, sich auf Arbeiten unterhalb ihres Qualifikationsniveaus einzustellen (Futterneid)
3) Das Moment der Irritation: Aussiedler verunsichern Einheimische, weil sie Systemgrenzen in gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht durchbrechen. Sie stellen eine bundesrepublikanische Wirklichkeit infrage (Identität)

(Zitiert nach Kornischka 1992, S.48)

Die Missachtung der Russlanddeutschen als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft entbehrt ein Verantwortungsgefühl oder Verpflichtung gegenüber diesen. Viele betrachten die Bemühungen und Eingliederungshilfen um die Aussiedler als zu aufwendig und großzügig. Der Großteil der Deutschen in der Bundesrepublik ist sich der geschichtlichen Zusammenhänge, der Verfolgung und Diskriminierung der deutschen Minderheiten in der ehemaligen UdSSR nicht bewusst. Kornischka weist schon 1992 darauf hin, dass die spezielle Problematik in den Medien viel präsenter sein müsste, um ein Verständnis der deutschen Bevölkerung zu erzielen. „Den meisten Bundesbürgern sind Probleme der Spätaussiedler fremd und sie blicken verständnislos auf die Aussiedlungs- und Bleibemotivation der Spätaussiedler“(Kornischka 1992, S.44). Sie sehen in ihnen nur Fremde. „Die sagen: „Das sind Russen. Was wollen die hier?“ Im Grenzdurchgangslager haben die Leute gerufen: „Was wollt ihr hier.“ So hat man uns hier empfangen. Die wissen halt nicht, was wir alles durchgemacht haben. Wenn die wüssten, die würden sich ganz anders benehmen zu uns. Aber die Leute hier verstehen nicht(...) “ ( zitiert nachTröster 2003, S.122).

Zu beachten ist jedoch, dass Aussiedler vor den neunziger Jahren insgesamt noch deutlich offener empfangen wurden. Erst Ende der achtziger Jahre, als sich die Zahl der jährlich Einreisenden „von äußerlich zunehmend als fremd identifizierbaren Aussiedlern“ (Tröster 2003, S.122) mehr als verdoppelte, steigerte sich auch die Ablehnung.

Aussiedler werden als Konkurrenten angesehen, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt etwa. Eine Studie belegt, dass sich Arbeiter und Facharbeiter durch die Einreise der Aussiedler bedroht fühlen und sich einen Einreisestopp wünschen. Auch haben laut dieser Studie zwei Drittel der einheimischen Deutschen keinerlei Kontakt zu Deutschen aus der ehemaligen UdSSR (Vgl. Nagel 1989, in Kornischka 1992, S.44f.). Eine neuere Studie des Osteuropa-Instituts in München bestätigt dies auch bei Jugendlichen: 28, 9 Prozent gaben an, keinen näheren Kontakt zu gleichaltrigen Aussiedlern zu haben, obwohl die Befragten durch Schule oder Nachbarschaft im Alltag mit Russlanddeutschen aufeinandertreffen. 44 Prozent kannten Aussiedler von der Schule oder Arbeitsstelle her.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Dietz; Roll 1998, S.137

Auch andere Daten belegen, dass Benachteiligungen von Aussiedlern im Alltag seltener in Schule, Ausbildung und Sportvereinen als viel häufiger bei Behörden, in Jugendzentren, Nachbarschaft sowie Polizei und Justiz empfunden werden. Daraus resultiert ein Misstrauen und Ablehnung gegenüber öffentlichen Einrichtungen (Vgl. Bundesministerium des Innern 2000, S.40).

Dietz und Roll weisen darauf hin, dass Jugendliche ebenfalls über die Herkunftsverhältnisse der Aussiedler kaum Bescheid wissen (Vgl. Dietz;Roll 1998, S.138f). Als Grund für die mangelnde Kenntnis und den geringen privaten Kontakt gaben die befragten deutschen Jugendlichen die fehlende Sprachkenntnis und den Rückzug der russlanddeutschen Jugendlichen in ihre Subkultur an. Zudem stellte eine Reihe der jugendlichen Einheimischen fest, dass Aussiedler sich in Sitten und Lebensgewohnheiten, durch die Kleidung und durch die Optik von den Einheimischen unterscheiden. In Bezug auf die Sitten und Lebensgewohnheiten sind damit die Werte gemeint, die im Alltag der Deutschen zum Teil an Bedeutung verloren haben. „Aussiedler werden beispielsweise als freundlich, herzlich, höflich, hilfsbereit, gastfreundlich bescheiden, offen gläubig, fleißig und familiär bezeichnet“ (Dietz, Roll 1998, S. 142). Bis auf einen geringeren Teil der Befragten (17 Prozent) stehen die befragten Jugendlichen Aussiedlern zumindest nicht ablehnend gegenüber, nahezu ein Drittel sehen in den Aussiedlern eine Bereicherung des Lebens.

[...]

Ende der Leseprobe aus 139 Seiten

Details

Titel
Junge Spätaussiedler - eine neue Risikogruppe der Suchtgefährdung?
Hochschule
Universität Siegen
Note
1,3
Autor
Jahr
2005
Seiten
139
Katalognummer
V44983
ISBN (eBook)
9783638424721
Dateigröße
3205 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Junge, Spätaussiedler, Risikogruppe, Suchtgefährdung
Arbeit zitieren
Alice Schürmann (Autor:in), 2005, Junge Spätaussiedler - eine neue Risikogruppe der Suchtgefährdung?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/44983

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