Pflege und Migration. Der Umgang des deutschen Wohlfahrtsstaates mit osteuropäischen "Live-In" Pflegekräften in Privathaushalten


Hausarbeit (Hauptseminar), 2017

30 Seiten, Note: 1,3

Annika E. (Autor:in)


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Pflege – eine Begriffsbestimmung
2.1 Der Begriff der Care-Arbeit
2.2 Der Pflegebegriff im deutschen Gesetz

3 Der Wohlfahrtsstaat und die Regulierung der Pflege
3.1 Der deutsche Wohlfahrtsstaat
3.2 Gesetzliche Regulierungen zur Pflege im privaten Raum
3.2.1 Osteuropäische Live-In Pflegekräfte in deutschen Privathaushalten – aktuelle Gesetzgebung
3.2.2 Die Unsichtbarkeit der Live-In-Kräfte im deutschen System
3.2.3 Die Rolle Europas bei der Beschäftigung migrantischer Pflegekräfte
3.3 Fazit

4 Gesellschaftliche Hintergründe für einen transnationalen Care-Arbeitsmarkt
4.1 Die Erwerbstätigkeit der Frau
4.2 Illegale Pflegekräfte als Antwort auf die Kostenfrage
4.3 Fazit

5 Lösungsansätze im Umgang mit Schwarzarbeit
5.1 Die Zentrale für Auslands- und Fachvermittlung als gescheiterter Versuch
5.2 Was machen andere europäische Länder anders?
5.2.1 Schweden
5.2.2 Österreich
5.3 Chancen für die deutsche Pflegepolitik
5.4 Soziale Bürgerrechte zur Anerkennung und Honorierung von Care-Arbeit

6 Fazit

7 Literatur

Abstract:

Experten schätzen, dass bis 300.000 osteuropäische Pflegekräfte illegal in deutschen Privathaushalten arbeiten. Der Artikel fragt nach dem Umgang des deutschen Wohlfahrtsstaates mit dieser Problematik. Zunächst wird die häusliche Pflegearbeit in die wissenschaftliche Debatte um Care-Arbeit eingeordnet. Hieran schließt sich die Verortung Deutschlands in die Typologie der Wohlfahrtsstaaten nach Gøsta Esping-Andersen an, bevor die aktuelle nationale und europäische Gesetzeslage zu migrantischen Arbeitskräften im häuslichen Raum innerhalb Deutschlands dargestellt wird. Im Anschluss werden Ursachen für die überwiegend illegale Beschäftigung migrantischer Pflegekräfte beleuchtet. Nach einer Darstellung ausgewählter Aspekte der schwedischen und österreichischen Pflegepolitik sowie der Debatte um soziale Bürgerrechte wird nach dem Potenzial dieser für die deutsche Politik gefragt. Der Artikel will den aktuellen Stand häuslicher Pflegedienstleistungen und Handlungsbedarf auf politischer Ebene aufzeigen.

Schlagworte:

Care-Arbeit, Wohlfahrtsstaat, Pflege-/Sozialpolitik, Pflegenotstand, Erwerbstätigkeit der Frau, demographischer Wandel, transnationale Migration, osteuropäische Pflegekräfte

1 Einleitung

Mit „Magda macht das schon“, einer 10-teiligen Sitcom über eine polnische Altenpflegerin in einem deutschen Privathaushalt, erzielte der Privatsender RTL Anfang 2017 Bestquoten beim Publikum. Taff begegnet die junge, ungelernte Polin Magda der bettlägerigen alten Waltraud, die nach einem Unfall im Haushalt ihrer Tochter gepflegt wird. Madga scheut keine Herausforderung, die die körperliche Arbeit mit sich bringt und setzt sich wie selbstverständlich noch für die Lösung familiärer Probleme aufgrund der neuen Situation ein. Trotz der offensiven zur Schau Stellung gängiger Vorurteile, von denen nur einige entkräftet, andere sogar bestärkt werden, sieht die polnische „Zeit“-Autorin Karolina Kuszyk, großes Potenzial in der Serie. Denn „Magda [gibt] den vielen ausländischen Frauen, die hierzulande hart und meistens unterbezahlt im Sozialsektor arbeiten, ein Gesicht.“ (Kuszyk 2017).

Mit dem Format „Magda macht das schon“ greift der Sender ein gesellschaftlich hochaktuelles Thema auf. Die steigende Erwerbstätigkeit der Frau und der demographische Wandel lassen die Pflege der älteren Generation zu einem Problem werden. Insbesondere mit Blick auf die geburtenstarken Jahrgänge zwischen 1955 und 1969 wird der Pflegebedarf in den nächsten Jahrzehnten drastisch steigen. Gleichzeitig gerät das System der intergenerationalen Solidarität durch die veränderten Sozialstrukturen ins Wanken. Dementsprechend steht auch der deutsche Wohlfahrtsstaat vor einer großen Herausforderung. Es stellt sich die Frage, wie die Pflege der älteren Generation in Zukunft sowohl personell als auch finanziell sichergestellt werden kann. Hinzu kommt die normative Dimension der mangelnden Anerkennung der Arbeit im häuslichen Raum, die nach wie vor zu großen Teilen von der Frau geleistet wird.

Experten vermuten, dass bis zu 300.000 osteuropäische Frauen illegal in deutschen Privathaushalten leben, um dort bei der Hausarbeit und der Pflege von Angehörigen zu helfen (Drepper 2016). Warum wählen Betroffene den illegalen Weg, eine private Pflegekraft zu beschäftigen anstatt diese offiziell einzustellen oder den Pflegebedürftigen in einem Heim unterzubringen? Und wie geht der Wohlfahrtsstaat mit dieser Problematik um? Da es sich aufgrund der Illegalität der ausgeführten Tätigkeit um ein schwer zugängliches Forschungsfeld handelt sind an dieser Stelle keine verlässlichen quantitativen Daten verfügbar. Eine umfangreiche qualitative Arbeit liegt mit der Dissertation „Migrant Care Workers aus Polen in der häuslichen Pflege“ von Patrycja Kniejska (2016) vor, die polnische Pflegekräfte, die über Vermittlungsagenturen in deutsche Privathaushalte gekommen sind, beobachtet und interviewt hat. Einen wichtigen Beitrag für den Zusammenhang zwischen Migration und Care-Arbeit liefert Arlie Hochschild in ihrem Aufsatz „Globale Betreuungsketten und emotionaler Mehrwert“ (2000), in dem sie das Konzept der globalen Versorgungsketten etabliert.

Gegenstand dieser Arbeit ist es, die aktuellen staatlichen Regelungen in Deutschland zum Thema Pflege zu untersuchen und anhand empirischer Beispiele mit der Realität zu kontrastieren sowie ein Vergleich der gewonnenen Erkenntnisse mit dem schwedischen Pflegesystem vorzunehmen.

Zu Beginn wird der Begriff der Pflege näher definiert und in den wissenschaftlichen Kontext eingebunden. Im Anschluss daran wird der deutsche Wohlfahrtsstaat mithilfe des Konzeptes von Gøsta Esping-Andersen theoretisch eingeordnet. Hieran anschließend erfolgt die Darstellung aktueller nationaler Regelungen zu Pflegeleistungen im privaten Raum. Ergänzend erfolgt ein kurzer Exkurs über für die Thematik relevante europäische Richtlinien, da in dieser Arbeit migrantische Pflegekräfte aus Osteuropa im Zentrum der Analyse stehen. Im weiteren Verlauf werden Faktoren für den steigenden professionellen Pflegebedarf in der deutschen Gesellschaft dargestellt. Zentrale Aspekte sind hier die veränderte Sozialstruktur durch die zunehmende Erwerbstätigkeit der Frau sowie den demographischen Wandel. Anhand der Rezeption empirischer Studien zu osteuropäischen Pflegekräften wird die aktuelle Situation der Pflege in deutschen Privathaushalten dargestellt und mit den staatlichen Regelungen verglichen. Hieran schließt sich die Darstellung des schwedischen Pflegesystems mit der Frage nach dem Potenzial für Deutschland an. Im abschließenden Fazit werden die gewonnen Erkenntnisse zusammengefasst und ein Ausblick auf weiteren Forschungsbedarf gegeben.

2 Pflege – eine Begriffsbestimmung

Bereits Emile Durkheim als einer der Gründerväter der Soziologie stellte die Bedeutung von Arbeit, insbesondere die Arbeitsteilung, als einen wesentlichen Bestandteil moderner Gesellschaften heraus und betonte die Relevanz dieser Kategorie für die Soziologie (ebd. 1992, 109f.). Während die Arbeitssoziologie sich lange Zeit primär mit der bezahlten Lohnarbeit im Sinne der Produktion beschäftigt hat, trat der private Raum nur langsam und zunächst als Ort der Reproduktion von Arbeitskraft in den Blick (vgl. hierzu auch Jürgens 2008). Heutzutage wird dieser selbst als Arbeitsplatz wahrgenommen. Sowohl die unbezahlte Hausarbeit, die oft durch die Frau verrichtet wird, wie auch die bezahlte Lohnarbeit von Pflegekräften[1], Tagesmüttern oder Putzfrauen stehen im Interesse der Forschung (vgl. hierzu auch Kontos/Walser 1979).

2.1 Der Begriff der Care-Arbeit

Seit den 1990-er Jahren wird in der feministischen Theorie der Begriff der Reproduktionsarbeit schrittweise durch den der Care-Arbeit abgelöst. Caring oder caregiving wird dabei verstanden als „Sorge oder Fürsorge für andere Menschen beziehungsweise deren Pflege“ (Chorus 2013, 33). Hierbei handelt es sich um ein sehr allgemeines Verständnis, da es bisher keine einheitliche Definition dessen gibt, was zu Care-Arbeit zählt. Vielmehr handelt es sich um ein integriertes Konzept, dass verschiedene Tätigkeiten im Bereich der Sorgearbeit vereint (Müller 2016, 29). Die Debatte um Care-Arbeit ist in einem interdisziplinären wissenschaftlichen Rahmen verortet und eint Stränge wie die Forschung zu Geschlechterverhältnissen, sozialer Ungleichheit und Migration.

Entsprechend dem Verständnis fällt auch der Beruf der privaten Pflegekraft in den Bereich der Care-Arbeit. Charakteristisch bei dieser Form der Arbeit ist die zwischenmenschliche Beziehung, die das Verhältnis von Pflegerin und zu pflegender Person kennzeichnet (Chorus 2013, 35f.). In Abgrenzung zu produzierenden Tätigkeiten wird bei der Care-Arbeit betont, dass diese nicht allein auf den objektivierbaren Körper, sondern auch auf die emotionale Anteilnahme ausgerichtet ist (Müller 2016, 52). Entsprechend schwer ist es in diesen Fällen, eine professionelle Distanz aufrecht zu erhalten. Ebenso ist ein asymmetrisches Verhältnis der Beziehung charakteristisch für Care-Arbeit, da sich der Pflegebedürftige zumeist in einer Abhängigkeitssituation zu der Pflegekraft befindet (Chorus 2013, 36). Gleichzeitig trägt die Pflegekraft eine hohe Verantwortung und ist einer mitunter hohen, einseitigen Arbeitsbelastung ausgesetzt (Chorus 2013, 36). Ein weiteres wichtiges Kriterium im Rahmen der Care-Arbeit ist die Zeit. Es besteht ein Zusammenhang zwischen der verfügbaren Zeit und der Qualität der Tätigkeit, da Care-Aufgaben oftmals schwer planbar sind und so ein hohes Maß an Zeit und Flexibilität erfordern (Chorus 2013, 37).

Eine zentrale Weiterentwicklung der Care-Debatte erfolgte im Jahre 2000, durch Mary Daly und Jane Lewis, die das Konzept „social care“ entwickelten. Den Wissenschaftlerinnen zufolge stellt social care eine bedeutende Kategorie zur Analyse von Wohlfahrtsstaaten dar. Sie transferieren damit den empirischen Begriff in ein theoretisches Konzept (Brückner 2010, 51). Im weiteren Verlauf hat sich eine sozialstaatszentrierte Debatte um Care-Arbeit, Geschlechter- und sozialer Gerechtigkeit sowie Migration etabliert. Übergeordnetes Ziel der Care-Debatte ist es, die vielfältige Sorgearbeit als eine gesellschaftlich notwendige Aufgabe von sozialpolitischer Bedeutung sichtbar zu machen und für dessen Anerkennung zu sensibilisieren (Brückner 2010, 45). Die vorliegende Arbeit knüpft, mit dem Fokus auf Deutschland, an diese Diskussion an.

2.2 Der Pflegebegriff im deutschen Gesetz

Um im weiteren Verlauf die gesetzlichen Richtlinien für die Pflege im privaten Raum durch den deutschen Staat zu verstehen, ist es zunächst nötig, den zugrundeliegenden Pflegebegriff vorzustellen. Hierzu dient der folgende Abschnitt.

Pflege umfasst die

„Versorgung und Unterstützung von pflegebedürftigen bzw. hilfebedürftigen Menschen, die aufgrund von Krankheit, Behinderung, Unfall oder anderweitigen dauerhaften oder vorübergehenden Einschränkungen Hilfe bei der Verrichtung von gewöhnlichen wiederkehrenden Aktivitäten des täglichen Lebens benötigen.“ (Preusker 2012, 54).

Diese kann ambulant, teil- oder vollstationär erfolgen und sowohl ehrenamtlich als auch hauptberuflich oder in einer Kombination beider Formen verrichtet werden (Preusker 2012, 55).

Das Verständnis von Pflegebedürftigkeit ist in Deutschland im Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) geregelt. Nach § 14 sind pflegebedürftige Personen jene, „die gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen. Es muss sich um Personen handeln, die körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen nicht selbständig kompensieren oder bewältigen können.“ (ebd.).

Finanzielle Unterstützung sowie Sachleistungen zur Bewältigung der Pflege einer betroffenen Person im häuslichen Rahmen werden nach Prüfung der Pflegebedürftigkeit durch den medizinischen Dienst der Krankenkassen erbracht (Preusker 2012, 58). Bei der Prüfung erfolgt eine Kategorisierung der Pflegebedürftigkeit in eine von drei Stufen. Entsprechend werden finanzielle Unterstützung gezahlt und Sachleistungen durch die Pflegekasse bewilligt. Die Pflegekasse ist der Träger der Pflegeversicherung, einer verpflichtenden Sozialversicherung, in der jedes Mitglied einer Krankenkasse versichert ist (Preusker 2012, 60). Sie dient der Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit und ist Teil des Solidaritätsprinzips der gesetzlichen Krankenkasse. Wichtig zu bemerken ist an dieser Stelle, dass es sich bei der Pflegeversicherung nicht um eine Vollversicherung handelt. Entsprechend werden Beträge für ambulante oder stationäre Pflege oder Hilfsmittel nur bis zu einer bestimmten Höhe übernommen.

3 Der Wohlfahrtsstaat und die Regulierung der Pflege

Bevor im weiteren Verlauf gesetzliche Regelungen zur Pflege im häuslichen Raum vorgestellt werden, wird zunächst das Prinzip des deutschen Wohlfahrtsstaates dargelegt. Hierzu wird auf das Konzept des dänischen Politikwissenschaftlers und Soziologen Gøsta Esping-Andersen zurückgegriffen. Esping-Andersen unterscheidet drei Typen von Sozialstaaten – den liberal-angelsächsischen, den konservativ-kontinentaleuropäisch und dem sozialdemokratisch-skandinavisch Wohlfahrtsstaat – und schreibt ihnen jeweils unterschiedliche Eigenschaften zu (Esping-Andersen 1990, 26f.) Die Unterscheidung erfolgt dabei anhand des Verhältnisses von Staat und Markt in der Bereitstellung von sozialen Leistungen sowie der Qualität der Leistungen und die Wirkung der Sozialpolitik auf soziale Schichtung und gesellschaftliche Machtverteilung (Oschmiansky & Kühl 2006). Gefasst wurde dieses unter dem Begriff der Dekommodifizierung – dem Maß mit dem sozialstaatliche Sicherungen den Gesellschaftsmitgliedern ein Leben frei von Arbeit ermöglichen (Esping-Andersen 1990, 23).

3.1 Der deutsche Wohlfahrtsstaat

Deutschland klassifiziert Esping-Andersen als einen konservativ-kontinental-europäisch Wohlfahrtsstaat (Esping-Andersen 1990, 27). Dieser Typus eines Wohlfahrtsstaates kann auch als korporatistisch bezeichnet werden. Er kennzeichnet sich dem Soziologen nach durch den Erhalt von Statusunterschieden ebenso wie durch den Fokus auf das klassische Familienbild (Esping-Andersen 1990, 27). Soziale Absicherung ist insbesondere an Lohnarbeit gebunden, wodurch die Versorgung von Personen, die nicht im Erwerbsleben steht, nicht ausgebaut ist (Esping-Andersen 1990, 27). Dies betrifft vor allem Frauen, die häufig in der unbezahlten, häuslichen Versorgung der Familie tätig sind. Entsprechend zielt diese Art der Sozialpolitik nicht auf die Verringerung von Statusunterschieden ab (Haberkern 2009, 63). Das Verständnis der klassischen Familie wird dabei geprägt durch das Bild des männlichen Familienernährers, welches steuerlich begünstigt wird (Haberkern 2009, 64). Entsprechend wird hiermit eine klare geschlechtliche Arbeitsteilung begünstigt. Des Weiteren greifen staatliche Unterstützungen in Bezug auf die Familie erst, wenn innerfamiliäre Ressourcen ausgeschöpft sind (Esping-Andersen 1990, 27). Die Umverteilung von Sozialleistungen klassifiziert Esping-Andersen als gering (1990, 27). Geprägt wurde dieses Modell durch die katholische Kirche, nach der Unterstützung zunächst in der Familie und dem sozialen Umfeld und zuletzt im Staat gesucht werden soll (Haberkern 2009, 64).

An dieser Stelle ist zu beachten, dass die Definition des dänischen Politikwissenschaftlers zwar nach wie vor die geläufigste ist, um Wohlfahrtsstaaten miteinander zu vergleichen, diese aber gleichzeitig aus dem Jahre 1990 stammt. Entsprechend finden gesellschaftliche Diskussionen und staatliche Neuausrichtungen der letzten 25 Jahre keinen Eingang in dieses Modell. Kritik kommt insbesondere von feministischen Studien sowie der historisch-vergleichenden Familienforschung. Eine Klassifizierung von Wohlfahrtsstaaten ohne Berücksichtigung von nationalen Familienstrukturen und deren staatlicher Unterstützung sowie dessen Potenzial für die weibliche Erwerbstätigkeit sei nicht ausreichend (Blome et al. 2008, 36). 1999 entwickelt Esping-Andersen sein Modell weiter und klassifiziert Deutschland als ein familialistisches Wohlfahrtsregime (Waldhausen 2012, 142). Dabei wird der Familie ein Großteil der Verantwortung für Wohlfahrtsleistungen zugeordnet. Die Familie würde bei der Pflegefunktion zwar unterstützt, es gäbe aber keine ernstzunehmenden Möglichkeiten, die Verantwortung abzugeben (Waldhausen 2012, 142). Die aktuelle staatliche Ausrichtung in Deutschland in Bezug auf pflegerische Tätigkeiten im häuslichen Raum wird im nächsten Abschnitt aufgegriffen.

3.2 Gesetzliche Regulierungen zur Pflege im privaten Raum

Erst im Jahr 1995 wurde altersbegründete Hilfe- und Pflegebedarf als allgemeines Risiko anerkannt und durch die Gründung der Pflegeversicherung sozial abgesichert (Haberkern 2009, 65). Der Einführung ging eine mehr als 20-jährige Diskussion, bei der Akteure mit verschiedensten Interessen mitwirkten, voraus (Müller 2016, 115). Die Pflegeversicherung ist die jüngste der fünf Säulen der Sozialversicherung. Der wohlfahrtsstaatliche Fokus auf die traditionelle Familie kommt auch in der gesetzlichen Regelung zum Thema Versorgung von Pflegebedürftigen zum Ausdruck. Im Sozialgesetzbuch XI (SGB XI) wird der Pflege im häuslichen Raum der Vorrang gegenüber stationären Pflegeeinrichtungen gegeben. Im § 3 SGB XI formuliert der Gesetzgeber

„Die Pflegeversicherung soll mit ihren Leistungen vorrangig die häusliche Pflege und die Pflegebereitschaft der Angehörigen und Nachbarn unterstützen, damit die Pflegebedürftigen möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können. Leistungen der teilstationären Pflege und der Kurzzeitpflege gehen den Leistungen der vollstationären Pflege vor.“ (ebd.)

Um die Bereitschaft der Pflege durch Angehörige zu fördern gilt das Auszahlen von Pflegegeld als anrechnungs- und steuerfreies Einkommen als Anreiz. Ebenso stärken Gesetzesreformen wie Pflegeweiterentwicklungsgesetz und das Pflegezeitgesetz die Position der häuslichen Pflege, unter Umständen mit Unterstützung durch ambulante Dienstleister vor der stationären Versorgung (Waldhausen 2012, 143). Bei Finanzierungsproblemen stationärer Einrichtungen durch den Betroffenen wird zunächst die Unterhaltspflicht durch den Ehepartner sowie Geschwister und Kinder geprüft, bevor der Staat entsprechende Kosten übernimmt (Haberkern 2009, 32). Entsprechende finanzielle Verpflichtungen der Familie sind so weitreichend, dass sie staatlich eingeklagt oder später durch das Einbehalten des Erbes rückwirkend eingefordert werden können (Haberkern 2009, 32).

Durch die Übertragung von Haushalts- und Pflegetätigkeiten an eine Angestellte werden diese Tätigkeiten zu einer Lohnarbeit im häuslichen Raum. Im Weiteren wird der Fokus auf die Regulierungen des Staates in Bezug auf sogenannte Live-In-Kräfte – Pflegekräfte, die rund um die Uhr im Haus der betreuten Person leben – gelegt.

3.2.1 Osteuropäische Live-In Pflegekräfte in deutschen Privathaushalten – aktuelle Gesetzgebung

Den aktuellen Sachstand zur Debatte von 24-Stunden Pflegekräften wird in der Arbeit „24-Stunden-Pflege in Privathaushalten durch Pflegekräfte aus Mittel- und Osteuropa. Rechtslage in ausgewählten EU-Mitgliedsstaaten“ vom Deutschen Bundestag (2016) zusammengefasst.

Nach der Schilderung über legale Einstellungsmöglichkeiten über den internationalen Personalservice der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) sowie in- oder ausländische Pflegeagenturen werden entsprechende Beschäftigungsverhältnisse und entsprechende Verpflichtungen für beide Parteien vorgestellt (Deutscher Bundestag 2016, 4ff.). Das Abführen von Sozialabgaben und die Sicherstellung des Versicherungsschutzes ist durch den Arbeitgeber in jedem Fall sicherzustellen (Deutscher Bundestag 2016, 6). Außerdem gelten auch für Beschäftigte aus dem Ausland deutsche Arbeitsrechtsgrundlagen (Deutscher Bundestag 2016, 6f.). Arbeitszeitrechtliche Beschränkungen entfallen jedoch, sofern die Pflegekraft mit den zu Betreuenden in einer häuslichen Gemeinschaft wohnt (Deutscher Bundestag 2016, 7). Die Kosten einer 24-Stunden Pflegekraft werden nur in Teilen von der Pflegekasse getragen, da die Pflegekräfte in den meisten Fällen nicht über einen Vertrag mit den inländischen Pflegekassen verfügen (Deutscher Bundestag 2016, 5). Es wird daher nur der Anteil entsprechend der ermittelten Pflegestufe sowie die finanzielle Unterstützung im Rahmen einer selbst beschafften Pflegehilfe gezahlt (Deutscher Bundestag 2016, 6f.). Weitere anfallende Kosten müssen durch den Pflegebedürftigen selbst getragen werden. Des Weiteren gäbe es keine Kontroll- und Qualitätssicherungssysteme für derartige Beschäftigungsverhältnisse (Deutscher Bundestag 2016, 6).

Im Fazit formuliert die Arbeit, dass es keine klaren rechtlichen Regelungen für diese Art der Beschäftigung gibt und daher in der Praxis „viele dieser Pflegekräfte ohne Rechtsgrundlage und somit ohne Arbeitsschutz, Kranken- oder Sozialversicherung [arbeiten]“ (Deutscher Bundestag 2016, 7). Die Beschäftigung der Pflegekraft als selbstständige Arbeitnehmerin ist eine rechtliche Grauzone, da die grundlegenden Anforderungen einer Selbstständigkeit zumeist nicht erfüllt sind, dieses jedoch von staatlicher Seite nicht kontrolliert wird (Deutscher Bundestag 2016, 7). Außerdem bliebe die Vergütung in den meisten Fällen deutlich hinter dem Mindestlohn und einem Lohn deutscher Arbeitnehmer in derselben Tätigkeit zurück (Deutscher Bundestag 2016, 8). Entsprechend der Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages ist sich der Staat der mangelnden rechtlichen Regulierungen im Bereich der migrantischen häuslichen Pflegekräfte bewusst. Gleichwohl sind im Artikel keine Bemühungen zu erkennen, diesen Zustand zu ändern.

[...]


[1] Da es sich bei häuslichen Pflegekräften überwiegend um Frauen handelt wird in dieser Arbeit die weibliche Bezeichnung für den Bereich dieser Arbeitskraft verwendet und steht stellvertretend auch für das männliche Geschlecht. Bei übergeordneten gesellschaftlichen Bezeichnungen wie z.B. Experten wird die männliche Form synonym für beide Geschlechter angewandt.

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Pflege und Migration. Der Umgang des deutschen Wohlfahrtsstaates mit osteuropäischen "Live-In" Pflegekräften in Privathaushalten
Hochschule
Universität Bielefeld  (Fakultät für Soziologie)
Note
1,3
Autor
Jahr
2017
Seiten
30
Katalognummer
V449813
ISBN (eBook)
9783668835818
ISBN (Buch)
9783668835825
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Migration, Pflege, Live-In, Osteuropa, Osteuropäische Pflegekräfte, Pflegemangel, Wohlfahrtsstaat, Politik, Arbeitsmarkt, Ausbeutung, empirisch, qualitativ, Gøsta Esping-Andersen, illegal, sozialpolitik, carearbeit, frauen, demographischer Wandel, transnationale Migration, schweden, österreich, deutschland, privathaushalt, unsichtbar, unsichtbare pflegearbeit
Arbeit zitieren
Annika E. (Autor:in), 2017, Pflege und Migration. Der Umgang des deutschen Wohlfahrtsstaates mit osteuropäischen "Live-In" Pflegekräften in Privathaushalten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/449813

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