Handlungsorientierter Unterricht an berufsbildenden Schulen aus der Perspektive von Schülerinnen und Schülern


Bachelorarbeit, 2015

40 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Handeln und Denken

3. Verschiedene Definitionen Handlungsorientierten Unterrichts
3.1 Definition nach Jank/Meyer
3.2 Definition nach Gudjons
3.3 Definition nach Tramm
3.4 Definition nach Bauer
3.5 Zusammenfassung

4. Theoretische Begründungen Handlungsorientierten Unterrichts
4.1 Sozialisationstheoretische Begründung
4.2 Lerntheoretische Begründung (Lern- und Kognitationspsychologie)
4.3 Schulpädagogische Begründung

5. Ausgewählte Merkmale Handlungsorientierten Unterrichts
5.1 Interessenorientierung/Schülerorientierung
5.2 Selbsttätigkeit und Führung
5.3 Ganzheitlichkeit/Verknüpfung von Kopf- und Handarbeit
5.4 Einübung in solidarisches Handeln/soziales Lernen
5.5 Produktorientierung

6. Handlungsorientierter Unterricht in der Berufsschule
6.1 Handlungskompetenz
6.2 Das Lernfeldkonzept

7. Planung und Durchführung der empirischen Untersuchung
7.1 Fragestellung
7.2 Erhebungsinstrument der Untersuchung
7.3 Beschreibung der Stichprobe und des Untersuchungsverlaufs
7.4 Auswertungsverfahren

8. Ergebnisse und Interpretation der empirischen Untersuchung
8.1 Bewertung der Schülerinnen und Schüler zum Merkmal der Interessenorientierung/Schülerorientierung
8.2 Bewertung der Schülerinnen und Schüler zum Merkmal der Selbsttätigkeit und Führung
8.3 Bewertung der Schülerinnen und Schüler zum Merkmal der Ganzheitlichkeit
8.4 Bewertung der Schülerinnen und Schüler zum Merkmal der Einübung in solidarisches Handeln/soziales Lernen
8.5 Bewertung der Schülerinnen und Schüler zum Merkmal der Produktorientierung

9. Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

Anhang: Ausgewerteter Schülerfragebogen mit Anschreiben

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Handlungsfelder, Lernfelder, Lernsituationen

Abbildung 2: Säulendiagramm Schülerorientierung/Interessenorientierung

Abbildung 3: Säulendiagramm Selbsttätigkeit und Führung

Abbildung 4: Säulendiagramm Ganzheitlichkeit

Abbildung 5: Säulendiagramm Solidarisches Handeln/Soziales Lernen

Abbildung 6: Säulendiagramm Produktorientierung

1. Einleitung

Ein Gramm Erfahrung ist besser als eine Tonne Theorie, einfach deswegen, weil jede Theorie nur in der Erfahrung lebendige und der Nachprüfung zugängliche Bedeutung hat. Eine Erfahrung, selbst eine sehr bescheidene Erfahrung kann Theorie in jedem Umfange erzeugen und tragen, aber eine Theorie ohne Bezugnahme auf irgendwelche Erfahrung kann nicht einmal als Theorie bestimmt und klar erfaßt [sic!] werden. Sie wird leicht zu einer bloßen sprachlichen Formel, zu einem Schlagwort, das verwendet wird, um das Denken, das rechte „Theoretisieren“ unnötig und unmöglich zu machen (Dewey, 1983, 193).

Dass traditionelle Unterrichtsmethoden, bei denen Schülerinnen und Schüler rein rezeptiv und nur anhand theoretischer Unterrichtsinhalte lernen, einer modernen Auffassung von Didaktik nicht länger entsprechen, wird seit ungefähr 30 Jahren vermehrt diskutiert. Seit 1996 wird an beruflichen Schulen mithilfe des Lernfeldkonzepts, welches handlungsorientierten Unterricht implementiert, unterrichtet. Doch die didaktischen Grundgedanken handlungsorientierten Unterrichts sind schon sehr viel älter. So forderten bereits die Klassiker der Pädagogik wie Comenius (1592-1670) ein Lernen mit allen Sinnen (vgl. Jank/Meyer, 2011, 319) und die Abkehr von einseitiger geistiger Aktivität in der Schule. Johann-Heinrich Pestalozzi (1746-1827) plädierte in der Übergangszeit ins 19. Jahrhundert für einen ganzheitlichen Bildungsansatz mit Kopf, Herz und Hand (vgl. Pfeiffer, 2013, 45). Entscheidend für das Konzept des handlungsorientierten Unterrichts wie wir es heute kennen, können aber wohl die Überlegungen der Reformpädagogen wie Johannes Langermanns („Handelnder Unterricht“), Adolf Reichwein („Schaffendes Schulvolk“) oder John Dewey („learning by doing“) betrachtet werden (vgl. Jank/Meyer, 2011, 320).

Wie hier aufgezeigt wird, beschäftigt sich die Pädagogik schon seit Jahrhunderten mit ganzheitlichem Lernen und Formen des Lernens, welche nicht nur auf theoretische Wissensvermittlung begrenzt bleiben. Mittlerweile ist Handlungsorientierung sogar ein fester Bestandteil unserer schulischen Berufsbildung und fest im Bildungsauftrag der Berufsschule verankert. Es finden sich in der Literatur unterschiedlichste theoretische Betrachtungsweisen zur Handlungsorientierung. Allerdings entsteht ein wenig das Gefühl, dass die Meinung der Rezipienten handlungsorientierten Unterrichts zu selten Berücksichtigung in der Konzeptionierung, dieser das Schulsystem dominierenden Unterrichtsform, findet. Daher beschäftigt sich diese Arbeit mit der Perspektive von Schülerinnen und Schülern auf handlungsorientierten Unterricht in der beruflichen Bildung. Wie empfinden eigentlich Schüler handlungsorientierten Unterricht und wie fühlen sie sich durch diesen auf ihr (Berufs-) Leben vorbereitet?

Dazu werden zunächst die Verwandtschaft von Handeln und Denken erklärt (Kapitel 2) um einen entscheidenden Grundgedanken der Handlungsorientierung zu erläutern und verständlich zu machen. Im nächsten Abschnitt (Kapitel 3) werden verschiedene gegenwärtige Definitionen handlungsorientierten Unterrichts vorgestellt und die Gemeinsamkeiten dieser Definitionen hervorgehoben. In Kapitel 4 werden drei verschiedene Begründungen handlungsorientierten Unterrichts nach Gudjons beschrieben um zu verdeutlichen warum handlungsorientiert unterrichtet werden sollte. Kapitel 5 beschreibt fünf ausgewählte Merkmale handlungsorientierten Unterrichts, welche im empirischen Teil dieser Arbeit noch zum Tragen kommen. Im sechsten Kapitel wird dann auf Handlungsorientierung in der beruflichen Bildung eingegangen. Es wird erläutert, welche Ziele von der Berufsschule verfolgt werden und wie diese erreicht werden sollen. Das darauf folgende Kapitel (7) beschreibt die im Rahmen dieser Arbeit durchgeführte empirische Untersuchung und erläutert welche Ideen und Überlegungen dieser zugrunde liegen und vorrausgegangen sind. Im achten Abschnitt werden die Ergebnisse der Untersuchung visuell und deskriptiv dargestellt und anschließend analysiert.

2. Handeln und Denken

Um das Konzept der Handlungsorientierung leichter verständlich zu machen, soll hier kurz der Begriff des Handelns und der Zusammenhang von Denken und Handeln erläutert werden. Was bedeutet eigentlich „Handeln“ und welche Ideen begründen diesen Begriff?

In Anlehnung an Max Weber versteht Tilmann Grammes das „Handeln“ als menschliches Verhalten mit dem der oder die Handelnde einen subjektiven Sinn verbindet (vgl. Grammes, 1997, 11). Nach Aebli setzt sich das Handeln aus vielen Teilhandlungen zusammen und weist einen „hohen Grad der Bewußtheit [sic!] und Zielgeleitetheit“ (Aebli, 1980, 20) auf. Wenn man also von einer Handlung spricht, ist damit ein subjektiv sinnvolles, zielgerichtetes und bewusst entschiedenes Tun gemeint. Des Weiteren ist die Handlung die Auseinandersetzung der „...personalen Ganzheit mit einer Situation. D.h. dass... physische (physiologische, motorische) und psychische Bestandteile zusammenwirken...“ (Dietrich, 1984, S.58; zit. n. Gudjons, 2008, 47). Hier wird angedeutet, dass Handeln und Denken miteinander verbunden sind und nicht separiert voneinander betrachtet werden können. Denken geht aus dem Handeln hervor ordnet es, wirkt auf dieses zurück und muss sich in ihm bewähren (vgl. Pfahl, 2000, 45). Wenn also eine bewusste, zielgerichtete Handlung vollzogen wird, findet eine gedankliche Überprüfung der Handlung statt; es wird befunden ob die Handlung gut oder schlecht, richtig oder falsch war. Wenn die Handlung das nächste Mal vollzogen wird, fließen diese Gedanken in die Handlung mit ein. Hier wird sich auch zeigen ob die Gedanken hinsichtlich der vollzogenen Handlung sich als richtig oder falsch erweisen. Dies stellt eine Art Kreislauf dar und macht deutlich, warum Denken und Handeln nicht getrennt betrachtet werden sollten. Handeln und Denken können sogar als miteinander verwandt angesehen werden: Sie sind beide strukturschaffend. „Am deutlichsten wird dies, wo wir die äußere, praktische Handlung einfach verinnerlichen und sie vorstellungsmäßig vollziehen“ (Aebli, 1980, 22).

Wie wichtig die Verneinung des Dualismus von Handeln und Denken ist, zeigt die Funktionsweise unseres Gehirns: Es ordnet Informationen zu komplexen Netzwerken. Es finden also Vernetzungen der durch Handlungen erworbenen Kenntnisse und Informationen in die bereits bestehende kognitive Struktur statt. Durch Handlungsprozesse errichten wir ‚kognitive Landkarten‘ auf die wir bei einer zukünftigen ähnlichen Aufgabe leichter zurückgreifen können als auf enzyklopädisch angehäuftes Wissen. Fehlen diese Vernetzungen, welche durch das Zusammenwirken von Denken und Handeln erstellt werden, kommt es zu trägem Wissen. Dieses träge Wissen lässt sich in der Zukunft schwer zur Anwendung bringen, da es zusammenhangslos angehäuft wurde (vgl. Gudjons, 2008, 55 f.).

Um diesem Umstand entgegenzuwirken wird in der beruflichen Bildung ein ‚ganzheitliches Lernen‘ in ‚vollständigen Handlungen‘ gefordert um die Dualität von Denken und Handeln aufzuheben und somit anwendbares Wissen zu schaffen. Doch was sind ‚vollständige Handlungen‘ und was bedeutet ‚ganzheitliches Lernen‘? ‚Vollständige Handlungen‘ lassen sich in die Teilbereiche Planung, Ausführung und Kontrolle unterteilen; diese sollten jedoch untrennbar miteinander verbunden sein und können auch noch weiter ausdifferenziert werden. ‚Ganzheitliches Lernen‘ bedeutet, dass alle drei Lernzielbereiche nach Pestalozzi; der kognitive („Kopf“), der affektive („Herz“) und der psychomotorische („Hand“) angesprochen werden (Vgl. Pfahl, 2000, 47 ff.).

3. Verschiedene Definitionen Handlungsorientierten Unterrichts

3.1 Definition nach Jank/Meyer

Handlungsorientierter Unterricht ist ein ganzheit­licher und schüleraktiver Unterricht, in dem die zwischen dem Lehrer/der Lehrerin und den SchülerInnen vereinbarten Handlungsprodukte die Gestaltung des Unterrichtsprozesses leiten, sodass Kopf- und Handarbeit der SchülerInnen in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander gebracht werden können (Jank/Meyer, 2011, 315).

Nach dieser Definition von Werner Jank und Hilbert Meyer soll der Lernprozess in Zusammenarbeit mit den Lernenden gestaltet werden. Die Schülerinnen und Schüler sollen aktiv, nicht nur rezeptiv-passiv am Unterricht und dessen Ablauf teilhaben und können bzw. sollen ihre eigenen Interessen in den Unterricht einbringen. Auch stehen nicht mehr die traditionellen Lernziele im Vordergrund sondern gemeinsam vereinbarte Handlungsprodukte (müssen nicht materiell sein), von denen her sich der Unterricht strukturiert. Denken und Tun sollen in ein sinnvolles, sich ergänzendes Verhältnis zueinander gebracht werden und damit eine hierarchisierende Über- und Unterordnung von Kopf- und Handarbeit aufheben. Es handelt sich bei handlungsorientiertem Unterricht ausdrücklich nicht um ein didaktisches Modell sondern um ein Unterrichtskonzept. Weiter bezeichnen Jank und Meyer einen Unterricht als handlungsorientiert, „in dem die Schülerinnen und Schüler nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit den Händen und Füßen, mit dem Herzen und allen Sinnen lernen können.“ (ebd., S.315). Dies zeigt, dass handlungsorientierter Unterricht auch die emotionale Ebene ansprechen sollte um ein hohes Maß an Sinn und Bedeutung des Lerngegenstands bei den Schülerinnen und Schüler zu erzeugen. Dadurch kann eine Identifikation zum Unterrichtsinhalt hergestellt werden und so auch z.B. störende Nebentätigkeiten der Schülerinnen und Schüler unterbunden werden.

3.2 Definition nach Gudjons

Für Herbert Gudjons „stellt der Handlungsorientierte [sic!] Unterricht ein Element – das Handeln der Schüler und Schülerinnen als Grundlage für Lernprozesse – begrifflich in den Mittelpunkt.“ (Gudjons, 1997, 110). Weiter führt er aus, dass es das Ziel des handlungsorientierten Unterrichts sei, durch den handelnden Umgang und die aktive Auseinandersetzung der Schüler mit der sie umgebenden gesellschaftlichen Wirklichkeit, Handlungs- und Erfahrungsspielräume zu schaffen und somit die Trennung von Leben und Schule wieder ein Stück aufzuheben (vgl. ebd., 109). Auch Gudjons hält handlungsorientierten Unterricht für ein Unterrichtskonzept, welches „[...] ein bestimmtes methodisches Element jeder „großen“ Didaktik anspricht: den handelnden, schüleraktiven Umgang mit Themen, genauer: mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit.“(ebd., 109). Dabei geht es ihm nicht primär um eine Auswahl lebensnaher Unterrichtsinhalte, sondern um eine handelnde Auseinandersetzung mit diesen. Insgesamt versucht Gudjons handlungsorientierten Unterricht nicht als in sich geschlossene Theorie zu begründen, sondern probiert in seinem Buch „Handlungsorientiert lehren und lernen“ aus verschiedenen wissenschaftlichen Fachrichtungen Argumente zusammenzutragen um den handlungsorientierten Unterricht zu konstituieren (vgl. Gudjons, 2008, 7).

3.3 Definition nach Tramm

Für Tade Tramm ist „Handlungsorientierung [...] weitgehend eher eine auf verschiedenen Ebenen wirksame Idee als eine in sich geschlossene, bis hin zur technologischen Anwendung hin ausgearbeitete Theorie“ (Tramm, 1994, 39).

Er betrachtet handlungsorientierten Unterricht vor allem als Überwindung des Dualismus von Denken und Handeln, welchen er als tief verankert in der abendländischen Gesellschaft betrachtet. Dualismus ist für ihn eine philosophische Grundposition die Theorie und Praxis voneinander separiert und in ein eindeutiges Hierarchieverhältnis stellt (vgl. ebd., 39). Als Konsequenzen des dualistischen Denkens nennt er die Isolation der Themen von den Handlungen und Erfahrungen, durch welche sie begründet sind: Die fachsystematische Gliederung der Unterrichtsinhalte und die Dominanz der Methode des handlungsfernen Anschauungsunterrichts, der die Tätigkeit der Sinne aus ihrer lebenspraktischen Implikation löst. Damit wird die Tätigkeit der Sinne isoliert und zum Selbstzweck degradiert (vgl. ebd., 43 f.).

3.4 Definition nach Bauer

Hinrich Bauer bezeichnet handlungsorientierten Unterricht ebenfalls als ein Konzept und nicht als Unterrichtsmethode. Für ihn sind innerhalb dieses Konzepts alle Lehr- und Lernmethoden anwendbar. Der Schwerpunkt liegt jedoch bei schülerzentrierten Unterrichtsformen in denen die Schüleraktivität im Vordergrund steht. Da beim handlungsorientierten Unterricht Theorie über die Lösung komplexer beruflicher Aufgaben erarbeitet wird, sind komplexe, mehrdimensionale, problemhaltige Handlungssituationen, welche an die Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler anknüpfen, Kernpunkte dieses Unterrichts. Weil bei der Bearbeitung dieser komplexen Aufgaben Aspekte unterschiedlicher Unterrichtsfächer berührt werden, führt handlungsorientierter Unterricht zu fächerübergreifenden Unterricht. Theorie und Praxis werden integriert unterrichtet, wobei der Lernprozess im Idealfall nicht unterbrochen werden sollte. Für Bauer sollte der Problemlösungsprozess zielgerichtet und ganzheitlich (unter Einbezug möglichst vieler Sinne) sein und in vollständigen Handlungen erfolgen. Wichtig für ihn sind die Identifikation der Schülerinnen und Schüler mit dem Handlungsziel sowie die selbstverantwortliche Bestimmung der Schülerinnen und Schüler über den Lern- und Arbeitsprozess (Vgl. Bauer, 1996, 9 ff.).

3.5 Zusammenfassung

In diesem Abschnitt wurden durchaus unterschiedliche Theorien zu handlungsorientiertem Unterricht vorgestellt. Handlungsorientierter Unterricht hat viele Ansätze und ist in vielen unterschiedlichen pädagogischen Strömungen beheimatet. Was jedoch alle eint, ist der essentielle Fakt der Verbindung vom Handeln und Denken, die geförderte Selbsttätigkeit der Schülerinnen und Schüler, lebensbezogene und komplexe Aufgabenstellungen, welche eine mehrdimensionale Bearbeitung in vollständigen Handlungen erfordern, sowie die Orientierung an der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler um die Schule wieder näher an das Leben dieser heranzuführen.

4. Theoretische Begründungen Handlungsorientierten Unterrichts

Warum sollte handlungsorientiert unterrichtet werden? Gudjons skizziert in diesem Zusammenhang drei Begründungen für Handlungsorientierten Unterricht:

1. Die sozialisationstheoretische Begründung, die sich auf gravierende Veränderungen in den Bedingungen des Aufwachsens von Jugendlichen und Kindern bezieht.
2. Die lerntheoretische Begründung, die sich als „Konsequenz aus grundlegenden Ergebnissen der Lernforschung “ (Gudjons, 1997, 110) ergibt.
3. Die schulpädagogische Begründung, die als „ Antwort auf die herbe Kritik an der modernen Schule “ (ebd., 110) verstanden werden kann, welche sich z.B. in Entfremdung und fehlender Sinnhaftigkeit der Lernprozesse oder der Trennung von Leben und Schule äußert (vgl. ebd., 110).

4.1 Sozialisationstheoretische Begründung

Durch das Verschwinden der Großfamilie, welche der Kleinfamilie gewichen ist, die Tendenz ‚weg von der Straße‘, moderne Lebenstechniken (Kühltruhe, Zentralheizung, Zweitwagen usw.) ist es zu einer „Verringerung der sinnlich unmittelbaren Erfahrung im tätigen Umgang mit Dingen und Menschen“ (ebd., 111) gekommen. Dadurch kommt es zur Verlagerung von Handlungsmöglichkeiten in ‚pädagogisch organisierte Spezialräume‘ wie z.B. Sportanlagen oder Jugendzentren. Selbstständige Erfahrungsmöglichkeiten werden verringert, im Gegenzug wird Kultur konsumierend angeeignet. Besonders hebt Gudjons die Rolle elektronischer Medien hervor, welche Erfahrungen aus zweiter Hand liefern und Primärerfahrungen damit verdrängen. Die Informationen, die über die elektronischen Medien vermittelt werden, wollen nur noch konsumiert werden, fordern aber zu selten eine kritische Auseinandersetzung bzw. Interpretation ihrer selbst. Durch schnelle Schnittwechsel im Fernsehen sieht er eine Konsumerwartung heranwachsen, welche rasche Unterhaltung und Abwechslung ohne „Reflexions- und Aktivitätsanspruch fördert“ (ebd., 112). Damit werden immer weniger ‚Könnenserfahrungen‘ in dem Sinne gemacht, dass Anstrengung Glück verursachen kann. Er geht davon aus, dass eine Vorstellung und ein Verständnis für die Wirklichkeit nur durch eine aktive Auseinandersetzung mit dieser entwickelt werden können. Nur handelnd können Denkstrukturen aufgebaut werden, der Zugang zur Welt kann nicht über ihre Abbilder geschaffen werden. Hier sollte handlungsorientierter Unterricht ansetzen, um „statt Sekundärerfahrungen – unmittelbare Erfahrungen (mit allen Sinnen), statt Konsumorientierung – Eigentätigkeit und selbstverantwortliches Handeln zu fördern (ebd., 112).

4.2 Lerntheoretische Begründung (Lern- und Kognitationspsychologie)

Gudjons betont die Bedeutung der Herausforderung möglichst vieler Sinne beim Lernen. Für die Entwicklung der intellektuellen Leistungsfähigkeit sind sensorische und motorische Aktivitäten von großer Relevanz. Handlungsorientierter Unterricht fördert viele Sinne und wird damit diesem Anspruch gerecht. Bezugnehmend auf Witzenbacher führt er aus, dass Gedächtnisleistung und Handeln eng miteinander verbunden sind. Wir behalten 20 % von dem, was wir hören, 30 % von dem, was wir sehen, 80 % von dem, was wir selber formulieren und 90 % von dem, was wir selber tun.

Die Aktivierung der Sinne fordert zudem die intrinsische Motivation. Wenn Schülerinnen und Schüler selber etwas herstellen, planen, untersuchen etc. wächst das Interesse und es entsteht Neugier. Auch die Identifikation mit dem eigenen Handeln nimmt zu. Es kann eine subjektive Bedeutsamkeit entstehen, wenn die Tätigkeiten als sinnvoll aufgefasst werden. An dieser Stelle können stark motivierende Kräfte im Sinne intrinsischer Motivation aktiviert werden.

Gudjons weißt auf die Bedeutung der Verschränkung von Denken und Tun im Unterricht hin. Dabei beruft er sich auf Ansätze aus der Kognitionspsychologie nach Aebli. Demnach entwickeln sich Denkstrukturen aus verinnerlichten Handlungen, womit auch zeitgleich der Dualismus von Denken und Handeln überwunden wird. „Denken geht aus dem Handeln hervor, und es trägt – als echtes, d.h. noch nicht dualistisch pervertiertes Denken – noch grundlegende Züge des Handelns, insbesondere seine Zielgerichtetheit und Konstruktivität“ (Aebli, 1980, S.26; zit. n. Gudjons, 1997, 113 f.). Denken kann als Ordnen des Tuns betrachtet werden, da es aus dem Handeln hervorgeht und ordnend auf dieses zurückwirkt. Hier zeigt sich deutlich, dass Handlungsorientierter Unterricht mehr ist als bloße ‚action‘ (vgl. Gudjons, 1997, 114).

4.3 Schulpädagogische Begründung

Durch seine vielfältigen und unterschiedlichen Lehrformen kann Handlungsorientierter Unterricht z.B. besser auf Heterogenität von Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler eingehen als klassischer Frontalunterricht (vgl. Gudjons, 1997, 115). Dies erscheint gerade in der heutigen Didaktikdebatte über individualisierten Unterricht als eine Antwort auf die steigende Heterogenität der Schülerinnen und Schüler als sehr wichtig. Da im Handlungsorientierten Unterricht mit vielen verschiedenen Lehr- und Lernformen unterrichtet wird, kann handlungsorientierter Unterricht alle Sinne der Schülerinnen und Schüler ansprechen und somit jeden Einzelnen individuell erreichen.

Schule findet ihren Sinn u.a. in der Vorbereitung auf die Zukunft. Was ist aber wenn eine sichere Zukunft immer ungewisser wird, wenn die Schülerinnen und Schüler nicht absehen können was das Leben nach der Schule für sie bereit hält? Gudjons spricht hier von der „Sinnkrise der Schule“, die unter anderem damit zusammenhängt, dass Lernen auf Vorrat nicht mehr plausibel gemacht werden kann (vgl. ebd., 114). Antwort auf dieses Dilemma kann der Handlungsorientierte Unterricht sein, weil er die unmittelbare Auseinandersetzung mit der Gegenwart sucht (vgl. ebd., 114) und somit schon im Hier und Jetzt sinnstiftend für das Leben der Schülerinnen und Schüler ist, ohne seine Bedeutung für die Zukunft zu untergraben.

Der Handlungsorientierte Unterricht weist ein entscheidendes Merkmal auf: Er leitet die Schülerinnen und Schüler zu mehr Selbstverantwortung. Dadurch können die Schülerinnen und Schüler die Fähigkeit zum selbstständigen Arbeiten, zur Teamfähigkeit, Initiative und Verantwortungsfähigkeit erlangen (vgl. ebd., 114). Attribute, die in unserer Gesellschaft mehr denn je gefordert sind und die den Schülerinnen und Schüler gerade bei der vorher erwähnten unsicheren Zukunft eine Hilfe sein könnten.

5. Ausgewählte Merkmale Handlungsorientierten Unterrichts

Handlungsorientierter Unterricht bedient sich vieler Elemente aus ähnlichen Konzepten wie dem entdeckenden und erfahrungsbezogenem Lernen oder dem Offenen Unterricht. Dadurch gewinnt er mehrere Merkmale, die ihn genauer charakterisieren. Ein paar ausgewählte Merkmale sollen hier genauer erläutert werden.

5.1 Interessenorientierung/Schülerorientierung

Zuerst sollte zwischen objektiven und subjektiven Schülerinteressen unterschieden werden. Objektive Schülerinteressen können als situationsunspezifische, überindividuell gültige Bedürfnisstrukturen und Handlungsmotive betrachtet werden. Dem gegenüber stehen die subjektiven Schülerinteressen welche die situationsspezifischen persönlichen Bedürfnisse, Phantasien und Vorstellungen zum Unterricht darstellen. Oft bleiben diese unbewusst, wirken aber dennoch handlungsleitend (vgl. Meyer, 2011, 413). Wichtig ist es, zu beachten, dass Schüler nicht nur positive Interessen an einem Thema haben, sondern auch Abneigung und Vorurteile mit in den Unterricht einbringen. Oft sind sich die Schülerinnen und Schüler ihrer Interessen auch nicht bewusst oder die Interessen werden nicht ausreichend artikuliert bzw. finden in der Klasse wenig Übereinstimmung. Ein weiteres Problem ist, dass von Schülerinnen und Schüler geäußerte Interessen auch destruktiven Charakter aufweisen können. Um Schülerinnen und Schüler dennoch zur Mündigkeit und Selbstständigkeit zu leiten, ist es aber unerlässlich ihre Interessen in den Unterricht einfließen zu lassen und auch zuzulassen, dass sich die Interessen im Laufe des Lernprozesses verschieben (vgl. ebd., 413 f.). Schülerinteressen sollten nicht vorausgesetzt werden, sondern sich im Idealfall anhand einer thematischen Auseinandersetzung ergeben. Deshalb sollte Unterricht auch ein interessenvermittelnder Prozess sein, bei dem Interessen geweckt werden können (vgl. Gudjons, 2008, 80).

Es geht bei der Interessenorientierung nicht ausschließlich darum, die Wünsche und Bedürfnisse der Schüler zu berücksichtigen, sondern es soll vielmehr versucht werden Schülerinnen und Schüler für neue Probleme und Themen zu interessieren und ihnen den Bezug dieser Themen zu ihrer eigenen Erfahrungswelt zu verdeutlichen. Schülerinteressen sind jedoch nicht nur auf ein Thema bezogen sondern weisen immer auch eine personale sowie soziale Dimension auf (vgl. Jank/Meyer, 2011, 316).

5.2 Selbsttätigkeit und Führung

Die Planung und Durchführung handlungsorientierten Unterrichts wird nicht nur vom Lehrer vollzogen, sondern die Schülerinnen und Schüler werden ermutigt Selbstorganisation und Selbstverantwortung zu zeigen (vgl. Gudjons, 2008, 83). Wichtig ist es, die Schülerinnen und Schüler selbst „erkunden, erproben, entdecken, erörtern, planen und verwerfen zu lassen“ (Jank/Meyer, 2011, 316). Auf diese Weise kann es den Schülerinnen und Schüler gelingen, sich handelnd mit ihrer Umwelt auseinanderzusetzen und Erfahrungen zu sammeln. Bauer geht davon aus, dass das Potenzial brauchbarer Ideen der Schülerinnen und Schüler meist unterschätzt wird und im lehrerzentrierten Unterricht zu wenig Nutzung findet (vgl. Bauer, 1996, 10).

Allerdings darf die Selbsttätigkeit im Unterricht nicht ausschließlich der Motivation dienen oder zu einem reinen Aktionismus verkommen, da die zu erwerbende Handlungskompetenz der Schülerinnen und Schüler und deren Möglichkeit gelernte Fähigkeiten auf andere Bereiche zu transferieren im Vordergrund stehen. Um diese Entwicklung vollziehen zu können und damit die Schüler zur Mündigkeit anzuleiten, ist die Führung des Lehrers von zentraler Bedeutung. Gudjons sieht die Rolle des Lehrers in diesem Zusammenhang als stark verändert im Vergleich zur traditionellen Lehrerrolle an: Schüler übernehmen einen Teil der Lehrerrolle und der Lehrer gibt ein Stück Macht aus der Hand (vgl. Gudjons, 1997, 116). Allerdings soll dies nicht als Laisser-faire-Stil verstanden werden, bei dem „sich der Lehrer oder die Lehrerin nicht einmal mehr traut, Vorschläge für sinnvolles Arbeiten zu machen oder unfruchtbare Fehlentwicklungen rechtzeitig zu stoppen“ (Gudjons, 2008, 83).

Es wird deutlich, dass die Selbsttätigkeit im Sinne eines reinen Aktionismus nicht zielführend ist und der Lehrer trotz seiner veränderten Rolle auch Führung übernehmen muss. Nur so ist es möglich die Schüler zu Selbsttätigkeit und Selbstverantwortung zu bewegen und damit zur Selbstständigkeit zu geleiten.

5.3 Ganzheitlichkeit/Verknüpfung von Kopf- und Handarbeit

Im handlungsorientierten Unterricht versuchen die Schülerinnen und Schüler unter Einbezug möglichst vieler Sinne gemeinsam etwas zu erarbeiten. Sinnlich-körperliches und geistiges Tun sollen wieder vereinigt werden (vgl. Gudjons, 1997, 115). Oder wie Jank und Meyer es formulieren: Kopf- und Handarbeit sollen wieder in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander gebracht werden (vgl. Jank/Meyer, 2011, 316). Auch eine hierarchische Anordnung von körperlicher und geistiger Tätigkeit wird von Jank und Meyer verneint. Als Handarbeit werden in diesem Sinne alle materiellen mit Hilfe des Körpers ausgeführten Tätigkeiten bezeichnet, mit Kopfarbeit alle geistigen Denkhandlungen (vgl. Jank/Meyer, 2011, 316 f.). Theorie und Praxis werden miteinander verknüpft und theoretische Inhalte nicht losgelöst von der Praxis erarbeitet. Vielmehr sollen geistiges und körperliches Handeln in einer „dynamischen Wechselwirkung“ (Jank/Meyer, 2011, 317) zueinander stehen um den Lehr-Lern-Prozess positiv zu beeinflussen. Nach Gudjons soll die Wirklichkeit nicht nur beredet, sondern handelnd erfahren und verändert bzw. gestaltet werden (vgl. Gudjons, 1997, 115 f.).

Durch die Verknüpfung von Kopf- und Handarbeit wird ein ganzheitlicher Lernprozess der Schülerinnen und Schüler erreicht. Auf diese Weise wird eine Verinnerlichung der Unterrichtsinhalte gefördert und damit ein nachhaltiger Lernerfolg begünstigt.

[...]

Ende der Leseprobe aus 40 Seiten

Details

Titel
Handlungsorientierter Unterricht an berufsbildenden Schulen aus der Perspektive von Schülerinnen und Schülern
Hochschule
Universität Hamburg  (IBW / Institut für Berufs- und Wirtschaftspädagogogik)
Note
1,3
Autor
Jahr
2015
Seiten
40
Katalognummer
V448987
ISBN (eBook)
9783668853676
ISBN (Buch)
9783668853683
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Handlunsorientierung, berufliche Bildung, Schülerperspektive
Arbeit zitieren
Björn Arne Schnurr (Autor:in), 2015, Handlungsorientierter Unterricht an berufsbildenden Schulen aus der Perspektive von Schülerinnen und Schülern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/448987

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