Sportsucht und der mediale Einfluss im Kraftsport


Masterarbeit, 2017

97 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Einleitung

2 Verhaltenssucht

3 Sportsucht
3.1 Definition der Sportsucht
3.2 Primäre Sportsucht
3.3 Sekundäre Sportsucht
3.4 Offizielle Zuordnung und Symptome der Sportsucht

4 Entstehung der Sportsucht
4.1 Volition High
4.2 Flowhypothese
4.3 Runner’s High
4.4 Mehrdimensionale Erklärungsmodelle

5 Sportsucht im Kraftsport

6 Die Rolle von sozialen Medien

7 Methode
7.1 Untersuchungsplanung
7.2 Untersuchungsdurchführung

8 Ergebnisse
8.1 Untersuchungsteilnehmer
8.2. Reliabilitätsanalysen und deskriptive Statistiken der einzelnen Dimensionen
8.2.1 Trainingsziel
8.2.2 Psychische Stabilisierung
8.2.3 Selbstwertbedrohung
8.2.4 Vermeidungsmotive
8.2.5 Eskalation der Ziele
8.2.6 Supplements
8.2.7 Soziale Medien
8.2.8 Core Self-Evaluations Scale
8.2.9 Cronbachs Alpha aller Dimensionen
8.3 Hypothesen
8.3.1 Unterschiedshypothesenpaar zur Erfassung eines signifikanten Unterschieds von Gruppe 1 und Gruppe 2
8.3.2 Unterschiedshypothesenpaare der einzelnen Dimensionen

9 Ergebnisse und Auswertung der t-Tests
9.1 Trainingsziel
9.2 Psychische Stabilisierung
9.3 Selbstwertbedrohung
9.4 Vermeidungsmotive
9.5 Eskalation der Ziele
9.6 Supplements
9.7 Core Self-Evaluation Scale

10 Diskussion
10.1 Diskussion der einzelnen Dimensionen
10.1.1 Trainingsziel
10.1.2 Psychische Stabilisierung
10.1.3 Selbstwertbedrohung
10.1.4 Vermeidungsmotive
10.1.5 Eskalation der Ziele
10.1.6 Supplements
10.1.7 Core Self-Evaluations Scale
10.2 Fazit der Diskussion

11 Zusammenfassung

12 Literaturverzeichnis

Anhang

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1. Prozessmodell der Entstehung von Lauf- und Ausdauersucht (Schack, 2000, S. 139)

Abbildung 2. Häufigkeitsverteilung der Geschlechter.

Abbildung 3. Häufigkeitsverteilung der Geburtenjahrgänge.

Abbildung 4. Häufigkeitsverteilung der Trainingsjahre.

Abbildung 5. Häufigkeitsverteilung der Trainingseinheiten pro Woche.

Abbildung 6. Häufigkeitsverteilung der Stunden pro Trainingseinheit.

Abbildung 7. Häufigkeitsverteilung der Einteilung in die Krafttrainingstypen.

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1. Deskriptive Statistik der Dimension Trainingsziel.

Tabelle 2. Deskriptive Statistik der Dimension Psychische Stabilisierung.

Tabelle 3. Deskriptive Statistik der Dimension Selbstwertbedrohung.

Tabelle 4. Deskriptive Statistik der Dimension Vermeidungsmotive.

Tabelle 5. Deskriptive Statistik der Dimension Eskalation der Ziele.

Tabelle 6. Deskriptive Statistik der Dimension Supplements.

Tabelle 7. Deskriptive Statistik der Dimension Soziale Medien.

Tabelle 8. Deskriptive Statistik der Dimension Core Self-Evaluations Scale.

Tabelle 9. Cronbachs Alpha aller Dimensionen.

Tabelle 10. Statistik des t-Tests zur Dimension Trainingsziel.

Tabelle 11. T-Test bei unabhängigen Stichproben für die Dimension Trainingsziel.

Tabelle 12. Statistik des t-Tests zur Dimension Psychische Stabilisierung.

Tabelle 13. T-Test bei unabhängigen Stichproben für die Dimension Psychische Stabilisierung.

Tabelle 14. Statistik des t-Tests zur Dimension Selbstwertbedrohung.

Tabelle 15. T-Test bei unabhängigen Stichproben für die Dimension Selbstwertbedrohung.

Tabelle 16. Statistik des t-Tests zur Dimension Vermeidungsmotive.

Tabelle 17. T-Test bei unabhängigen Stichproben für die Dimension Vermeidungsmotive.

Tabelle 18.Statistik des t-Tests zur Dimension Eskalation der Ziele.

Tabelle 19. T-Test bei unabhängigen Stichproben für die Dimension Eskalation der Ziele.

Tabelle 20. Statistik des t-Tests zur Dimension Supplements.

Tabelle 21. T-Test bei unabhängigen Stichproben für die Dimension Supplements.

Tabelle 22. Statistik des t-Tests zur Dimension Core Self-Evaluations Scale.

Tabelle 23. T-Test bei unabhängigen Stichproben für die Dimension Core Self-Evaluations Scale.

1 Einleitung

Der Tag beginnt mit einem gesunden Frühstück und einem Proteinshake. Währenddessen werden erst einmal die Social-Media-Kanäle nach den neuesten Beiträgen der Körperidole durchforstet. Die Absprache mit dem Trainingspartner1, dass das Fitnessstudio heute am frühen Nachmittag besucht wird, wurde gestern schon getroffen. Die besten Geräte sind am Abend nämlich immer besetzt.

Beim Training wird dann alles gegeben, um die Muskeln zum Wachsen anzuregen. Natürlich wird diese Gelegenheit genutzt, um ein Foto auf den eigenen Instagram Account hochzuladen. Direkt nach dem Workout folgt der nächste Proteinshake. Alle Mahlzeiten, Shakes und Snacks werden mit Hilfe einer Fitness App auf dem Handy dokumentiert, um die optimale Nährstoffzufuhr zu gewährleisten. Abends werden auf Youtube Fitnessvideos der Idole angesehen und der eigene Instagram Beitrag des heutigen Tages noch einmal auf Likes geprüft. Kurz vor dem Schlafengehen folgt dann der dritte und letzte Proteinshake zusammen mit einer Hand voll Erkältungsmedikamenten, um die Krankheitserscheinungen, die sich im Laufe des Tages bemerkbar gemacht haben, zu unterdrücken. Bloß nicht krank werden, denn der morgige Tag muss genau so ablaufen wie heute.

Inwieweit ist eine solche Einstellung zum Sport noch gesund? Hat eine solche Person einfach andere Prioritäten in ihrem Leben gesetzt oder weist ein solches Verhalten auf das Krankheitsbild Sportsucht hin? Menschen, die unter Sportsucht leiden, setzen ihr Training an erste Stelle in ihrem Leben. Sie vernachlässigen Freunde und Familie, setzen ihre Gesundheit aufs Spiel und richten ihren Tagesablauf komplett auf ihr Training aus. Alles nur, um keine Einheit ausfallen lassen zu müssen. Die Symptomatik der Sportsucht wird im Theorieteil ausführlich erklärt, mögliche Ursachen für den Ausbruch dieser Krankheit erläutert und Einblick in ein Entstehungsmodell gegeben. Im Anschluss werden parallele Strukturen im Kraftsport aufgezeigt, die verdeutlichen, dass Sportsucht auch hier ein Thema sein kann.

In dieser Masterarbeit wird außerdem mit Hilfe eines Fragebogens, der auf Grundlagen der erarbeiteten Theorie sowie bereits bestehenden Messinstrumenten erstellt wurde, eine quantitative Untersuchung durchgeführt. Diese soll Aufschluss darüber geben, ob Sportsucht ein Phänomen im Kraftsport darstellt. Dabei fällt es schwer, genau zu sagen, wann eine Person wirklich sportsüchtig, gefährdet oder ungefährdet ist. Der Fragebogen fragt so mehrere Dimensionen ab, die eine Sucht indizieren und kann Probanden so auf hohe und niedrige Ausprägungen überprüfen. Ein Schwerpunkt dieser Arbeit zielt darauf ab, zu untersuchen, ob Sozialen Medien ein Faktor bei der Entstehung von Sportsucht sind. Hierfür werden Probanden in zwei Gruppen, mit niedrigen und hohen Ausprägung in der Dimension Soziale Medien, eingeteilt. Im Anschluss werden diese Gruppen auf Unterschiede hinsichtlich der Höhe ihrer Ausprägungen in den anderen Dimensionen überprüft. Soziale Netzwerke wie Youtube, Instagram und Facebook werden immer häufiger genutzt, um Bilder und Videos von Körperidolen zu konsumieren oder das eigene Training mit Freunden und anderen Fitnessbegeisterten zu teilen. Die Frage, die dabei aufkommt, ist, ob und inwieweit dieses recht neue Verhalten einen Einfluss auf die Entwicklung von Sportsucht aufweist.

2 Verhaltenssucht

Die Forschung von Süchten hat sich zu Beginn des 20. Jahrhundert fast ausschließlich mit stoffgebundenen Abhängigkeiten sowie ihren Ursachen und Auswirkungen beschäftigt. So wurde zum Ende des 19. Jahrhunderts nur zwischen den vier Suchtarten Trunk-, Morphin, Kokain- und der Spielsucht unterschieden. Mit Ausnahme der Spielsucht wurden Süchte also nur mit der Einnahme von bestimmten Stoffen in Verbindung gebracht. Erst 1954 kam es durch den Psychiater Viktor Emil Freiherr von Gebsattel dazu, den Begriff Sucht neu zu definieren. „Der Begriff der Süchtigkeit reicht weiter als der Begriff der Toxikomanie es abgesteckt hat […] Jede Richtung menschlichen Interesses vermag süchtig zu entarten.“ (Müller, 2013, S. 11). Es hat weitere 30 Jahre gedauert, bis sich dieser Gedanke in Expertenkreisen und in der Wissenschaft schließlich in den 1980er Jahren durchgesetzt hat und es zur eindeutigen Trennung von stoffgebundenen und stoffungebundenen Süchten kam (Grüsser & Thalemann, 2006). In den Jahren zuvor hat die WHO2 ihre Definition des Suchtbegriffs häufig geändert und umformuliert, was immer wieder zu einer Ausdehnung der Bedeutung von nicht stoffgebundenen Suchtformen führte (Schipfer, 2015). Auch die heute gängigen Diagnosemanuale von Abhängigkeiten und Süchten, DSM-53 und ICD-104, formulierten ihre Definitionen von Sucht immer wieder neu (Schipfer, 2015). Unter stoffungebundene Süchte fallen neben der Spielsucht u.a. auch das krankhafte Verhalten der Internetsucht, Kaufsucht, Arbeitssucht, Sexsucht oder auch Sportsucht. Problematisch hierbei ist, dass diese Verhaltenssüchte nach dem DSM-5 und ICD-10 nicht offiziell als Süchte anerkannt sind (Zeeck et al., 2013). Nur die Spielsucht wird in der Kategorie „Substance-Related and Addictive Disorders“ angesiedelt. Als Begründung hierfür steht im DSM-5:

„… groups of repetitive behaviors, which some term behavioral addictions, with the subcategories as “sex addiction,“ “exercise addiction,“ or “shopping addiction,“ are not included because at this time there is insufficient peer-reviewed evidence to establish the diagnostic criteria and course descriptions needed to identify these behaviors as mental disorders“ (American Psychiatric Association, 2015, S. 481).

Spielsucht gilt als Ausnahme, da es mittlerweile genug Studien und Nachweise gibt, die zeigen, dass es beim Glücksspiel zu einer vergleichbaren Ausschüttung von Glückshormonen wie bei dem Konsum von Drogen kommt. Außerdem treten ähnliche negative Begleiterscheinungen bei einer Spielsucht auf wie bei stoffgebundenen Süchten (American Psychiatric Association, 2015). Obwohl Verhaltenssüchte in den Diagnosemanualen nicht als Sucht anerkannt werden, wird ihre Existenz generell nicht verneint und es gibt viele Forscher, die seit Langem vorschlagen, Verhaltenssüchte offiziell anerkennen zu lassen (Schipfer, 2015). Um die Erforschung eines theoretischen Hintergrunds und von Diagnosekriterien haben sich zahlreiche Wissenschaftler bemüht und es überrascht nicht, dass viele dieser Kriterien denen der stoffgebundenen Süchte gleichen oder zumindest stark ähneln (Müller, 2013).

- Es kommt zum sogenannten Craving. Dem unwiderstehlichen Verlangen nach Zufuhr der Droge bzw. der Verhaltensausführung.
- Betroffene erleben eine starke gedankliche Einengung. Das heißt, dass das Problemverhalten einen ständigen gedanklichen Begleiter darstellt.
- Das Verhalten wird unkontrolliert bzw. ungesteuert und zum größten Teil losgelöst von rationalen Erwägungen ausgeführt. Wenn also Nachteile für den Patienten entstehen wie soziale oder auch gesundheitliche Probleme, dann wird das schädliche Verhalten trotzdem fortgesetzt.
- Es lassen sich mit wenigen Einschränkungen Kriterien der Toleranzentwicklung und entzugsähnliche Symptome beobachten. Ein gutes Beispiel hierfür wird von Hollmann und Strüder (1995) geschildert. Sie betreuten einen 20 Jahre alten Laufsüchtigen Sportler, der nach einem Lauferlebnis angab, ein so wunderbares Gefühl, wie er es nie zuvor erlebt hatte, gehabt zu haben. Nachdem dieses Gefühl nach seinem zweiten Lauf ausblieb, erhöhte er die zu laufende Distanz. Dies wiederholte er so häufig, bis seine wöchentliche Laufdistanz 230 km betrug. Er verließ die Schule und kapselte sich von seinem sozialen Umfeld ab, nur damit er genug Zeit zum Laufen hatte, um dieses „wunderschöne Gefühl“ wieder und wieder zu erleben. Durch die Betreuung von Experten und einer systematischen Reduzierung von Ausdauerbelastungen konnte ihm schließlich geholfen werden und sein Verhalten normalisierte sich. Im Anschluss der Therapie hat er sogar sein Abitur nachgeholt. Zu den Symptomen, die einem Entzug gleichkommen, ist noch zu sagen, dass diese keinesfalls mit den enormen körperlichen Auswirkungen eines Heroin- oder Alkoholentzugs gleichzusetzen sind, jedoch nicht außer Acht gelassen werden sollten.

An dieser Stelle sei nicht unerwähnt, dass das hier vorgestellte Konzept der Verhaltenssucht auch kritisiert wird. Ein interessanter Argumentationspunkt ist, dass die eigentlichen Problemverhalten lediglich Ausdruck einer tiefer liegenden psychischen Problematik wie etwa eines verminderten Selbstwertes oder einer Beziehungsstörung sind (Müller, 2013). Es ist wohl nicht abzustreiten, dass gewisse negative Persönlichkeitsmerkmale eine Verhaltenssucht unterstützen können. Dies ist allerdings kein Alleinstellungsmerkmal für Verhaltenssüchte, da auch alkoholsüchtige Personen häufig unter Selbstwert- und Bindungsproblemen leiden (Vierhaus et al., 2012). In dieser Masterarbeit wird nicht verneint, dass Persönlichkeitsmerkmale eine Rolle bei der Entwicklung von Verhaltenssüchten spielen. Der gesamte Vorgang ist allerdings sehr komplex. Nicht ein einzelner Grund, sondern unterschiedlichste Dimensionen können zu einem Ausbruch oder dem langsamen Einschleichen einer Verhaltensabhängigkeit führen. Welche Rolle bestimmte Persönlichkeitsmerkmale bei der Entwicklung von Verhaltenssüchten, in diesem Fall Sportsucht spielen, wird in Kapitel 4.4 und 6 weiter erläutert.

3 Sportsucht

3.1 Definition der Sportsucht

Sportsucht, im Englischen „exercise addiction“, wird als Oberbegriff für jegliche bewegungsbezogene Abhängigkeit genutzt und „kann als Sammlung aller Verhaltensauffälligkeiten aufgefasst werden, in denen Bewegungs- und Sportaktivitäten signifikant mit klinisch relevanten Kriterien der Abhängigkeit oder des Missbrauchs in Verbindung zu bringen sind“ (Breuer & Kleinert, 2009, S. 193). Dass Sportsucht mit einem negativen Verhaltensmuster in Zusammenhang gebracht wird, war nicht immer der Fall. So stellen Glasser (1976) oder Carmack und Martens (1979) Sportsucht als eine positive Sucht da. Hauptsächlich, weil unmittelbare Auswirkungen von positiver Natur sind, z.B. Wohlbefinden und ein gesteigertes Kompetenzerleben. Obwohl diese positiven Merkmale beim häufigen Sporttreiben auftreten können, wird hier der krankhafte Aspekt einer Sucht außer Acht gelassen. Breuer und Kleinert erklären, dass diese positive Auslegung „ganz offensichtlich einem eher alltagssprachlichen Gebrauch des Suchtbegriffs der Aktivitäten einbezieht, die mit individuell starken Motiven oder sehr positiven Erlebnissen verbunden sind. Menschen, die im Sport besonderes Wohlbefinden, Freude, Erfolg, Erregung oder Flow suchen, wären folglich „süchtig“ nach diesen Aktivitäten“ (Breuer & Kleinert, 2009, S. 194). Natürlich ist dieser umgangssprachliche Gebrauch von Sportsucht problematisch und in der Wissenschaft führt er eher zur definitorischen Unschärfe, wenn man den Suchtbegriff mit dem Attribut „positiv“ in Verbindung bringt (Breuer & Kleinert, 2009). Zudem ist es schwierig zu erkennen, ob Personen, die viel Sport treiben, eine krankhafte Sucht haben oder ihr Leben durch den Sport positiv beeinflussen. So kann in bestimmten Entwicklungsphasen einer Sportsucht die Eigenwahrnehmung des Süchtigen stark von seinem sozialen Umfeld abweichen. Verhaltensweisen, die „normale“ Menschen als krankhaft empfinden, erkennt der Süchtige als gesundes Verhalten an. Einige Studien zeigen sogar, dass sich viele Sportler selbst als abhängig bezeichnen, obwohl sie es gar nicht sind. So zeigten Untersuchungen von Ausdauersportlern, dass Probanden das Bedürfnis nach regelmäßigem Sport häufig mit Sucht verwechselten (Rümmele, 1987). Was genau ist nun also Sportsucht und wann ist man sportsüchtig? Als erstes ist zu sagen, dass Sucht niemals von positiver Natur sein kann. Der mögliche negative Charakter von Sportsucht wurde deutlich, als man feststellte, dass einige Sportler Deprivationssymptome5 entwickelten, wenn sie eine unfreiwillige Trainings- oder Wettkampfpause einlegen mussten, z.B. durch Verletzung oder Krankheit (Sachs & Pargman, 1979). Auch Rümmele (1987) konnte viele weitere Feststellungen machen. Es wurde häufig von heftigen Unruhe-Erscheinungen, von Gereiztheit und Aggressivität berichtet, wenn, zumeist verletzungsbedingt, eine Trainingspause eingelegt werden musste. Ärzte, die in Zweifelsfällen „Aktivtherapie“ verschrieben, wurden weiterempfohlen. Außerdem wurden ärztliche Anordnungen oft nicht befolgt (z.B. Trainingspausen wurden nicht eingehalten, Gips wurde zu früh und eigenständig abgenommen). Ein Läufer, bei dem ein Herzklappenfehler festgestellt wurde, widersetzte sich dem Anraten der Ärzte und brach bei einem Rennen tot zusammen. Innerhalb von Familien war der Langlauf manchmal Anlass für Zank und Streit (Rümmele, 1987). Morgan, einer der ersten Wissenschaftler, der Sportsucht und ihre negativen Auswirkungen auf Betroffene untersuchte, stellte Entzugssymptome, Zwanghaftigkeit und Konflikte mit dem sozialen Umfeld als Hauptsymptome einer Sportsucht fest (Breuer & Kleinert, 2009). Des Weiteren lassen sich noch andere Symptomatiken von stoffgebundenen Süchten auf Sportsucht übertragen. Es treten nämlich auch Toleranzentwicklung, nicht intendierter Exzess, Negierung schädlicher Konsequenzen, Zeitaufwand und erfolglose Kontrollversuche auf (Schack, 2000). Trotz dieser zahlreich erforschten Kriterien, wird Sportsucht vom DSM-5 und ICD-10 nicht offiziell als Sucht anerkannt. Sie fällt somit wie andere Verhaltenssüchte in die Kategorie „Störung der Impulskontrolle“ (Schipfer, 2015). Dennoch versuchen viele Experten das zwanghafte Verlangen Sport zu treiben, als eigenständige Sucht in den Diagnosemanualen unterzubringen. Die Ähnlichkeiten mit stoffgebundenen Süchten und die immer besser erforschten Ursachen und Symptomatiken sprechen dafür: „[…] Ein Verhalten, das eine exzessiv Sport treibende Person zeigt und das mit dem beobachteten Verhalten von anderen stoffgebundenen oder stoffungebundenen Süchten gleichzusetzen ist, unter den Begriff der Sportsucht zu fassen“ (Adams, 2009). In dieser Masterarbeit wird ebenfalls der Standpunkt vertreten, dass Sportabhängigkeit6 eine ernstzunehmende Sucht ist und auch als solche anerkannt werden sollte. Ein weiterer Grund, warum Sportsucht nicht als Sucht anerkannt wird, könnte die geringe Ausprägung in der Gesellschaft sein. Obwohl es bereits mehrere diagnostische Methoden gibt, ist es nicht immer eindeutig, ab wann eine Person tatsächlich sportsüchtig ist. So zeigte eine internationale Untersuchung von Hausenblas und Downs, die mit der Exercise-Dependence-Scale-21, einem Fragebogen, der Sportsucht diagnostizieren soll, durchgeführt wurde, dass etwa drei bis 13 Prozent der befragten Sportler an Sportsucht leiden (Breuer & Kleinert, 2009). Vorsichtige Schätzungen der Häufigkeit von primärer Sportsucht zeigen, dass „ca. jeder 100ste Sportler vereinzelte Auffälligkeiten aufweisen könnte, jeder 1.000ste Sportler manifeste Störungsmerkmale besitzen könnte und jeder 10.000ste Sportler behandlungsbedürftig sein dürfte“ (Breuer & Kleinert, 2009, S. 192).

3.2 Primäre Sportsucht

Neben den in Kapitel 3.1 genannten Symptomen ist der allgemeine Fokus auf die sportliche Aktivität sowie die gänzlich intrinsische Motivation zum Sporttreiben für die primäre Sportsucht charakteristisch (Zeeck et al, 2013). Das suchthafte Verhalten steht so oftmals im Zusammenhang mit Angstgefühlen, Depressionen oder Psychosen (Adams, 2009). Einige Wissenschaftler versuchten diese Art der Sportsucht über klare Anzeichen von psychologischer Morbidität7 zu definieren. Sie argumentieren, dass Betroffene wie bei anderen Verhaltenssüchten bestimmte psychologische Eigenschaften aufweisen müssen, um als primär sportsüchtig zu gelten (Breuer & Kleinert, 2009). Schuldgefühle, Angst, Gereiztheit und Depressionen sind hier die meist genannten Faktoren. Obwohl diese psychologischen Eigenschaften eine wichtige Rolle bei der Sportsucht zu spielen scheinen, kann man an ihnen nicht zwangsweise eine Sportsucht ausmachen. Bei einer Untersuchung stellte sich heraus, dass als primär sportsüchtig kategorisierte Frauen nur minimal von der nicht sportsüchtigen Kontrollgruppe bezüglich der psychologischen Morbidität abwichen (Breuer & Kleinert, 2009). Eine Diagnostizierung über die psychologische Morbidität ist also fragwürdig. Zudem kritisieren viele Wissenschaftler, dass es nicht möglich sei, die psychologischen Charakteristika von Sportsüchtigen genau genug bestimmen zu können, um einen solchen Diagnostikansatz geltend zu machen. Einige Forscher gehen noch weiter und behaupten, dass eine alleinstehende Sucht nach Sport, ohne Verbindung mit einer Essstörung, lediglich eine Form von Zwangsneurose sei. Außerdem behaupten sie, dass der klinische Schweregrad und die Ernsthaftigkeit vom psychischen Stress nur gering zu sein scheint, wodurch keine schwerwiegenden negativen Auswirkungen von einer primären Sportsucht hervorgehen können (Schipfer, 2015). Natürlich sind solche Einschätzungen nicht eindeutig und eher subjektiv. Andere Untersuchungen berichten von Einzelfallstudien, bei denen sich die primäre Sportsucht mit deutlichen körperlichen oder psychischen Erkrankungen niedergeschlagen hat, unabhängig von einer begleitenden Essstörung (Adams, 2009). Grade wegen solchen sich widersprechenden Aussagen und weil es insgesamt noch zu wenig wissenschaftliche Untersuchungen gibt, wird die primäre Sportsucht noch nicht als eigenständige Sucht klassifiziert (Adams, 2009).

3.3 Sekundäre Sportsucht

Als sekundär sportsüchtig gelten Personen, die neben einer Essstörung8 auch Symptome einer Sportsucht aufweisen. Besonders Patienten, die unter Anorexia nervosa mit zwanghaft perfektionistischen Persönlichkeitszügen leiden, weisen häufig auch Symptome einer Sportsucht auf (Zeeck & Schlegel, 2012). Betroffene sind generell eher extrinsisch motiviert und geben an, dass sie durch das exzessive Sporttreiben ihre Figur beeinflussen, attraktiver wirken, ihre Stimmung verändern sowie Angst und Angespanntheit loswerden wollen (Zeeck & Schlegel, 2012). Außerdem können Frauen, die Anzeichen einer Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa aufweisen, eine Sportsucht entwickeln, wenn sie mit ihrem Body-Mass-Index oder ihrer Körpergröße unzufrieden sind (Schipfer, 2015). Zudem unterscheiden sich Männer und Frauen auch in der Ausprägung von Sportsucht. So treiben Männer, die unter sekundärer Sportsucht leiden, häufiger Sport, um sich einen muskulösen Körper anzueignen, während Frauen den Sport nutzen, um einen schlanken Körper zu erlangen (Schipfer, 2015). Außerdem scheinen Frauen, die eine Essstörung aufweisen, generell eher Symptome einer Sportsucht zu entwickeln als Männer (Schipfer, 2015). Die Autoren dieser Studie zeigten außerdem, dass Männer tendenziell eher eine primäre Sportsucht und Frauen eine sekundäre Sportsucht entwickeln würden. Allerdings ist diese Annahme auch kritisch zu betrachten. Adams (2009) erwähnt, dass das verwendete Messinstrument dieser Studie nicht unbedingt dafür geeignet sei, geschlechtsspezifische Unterschiede zu erforschen.

Kommt zu einer vorhandenen Essstörung eine sekundäre Sportsucht hinzu, kann es zu einer Verschlimmerung der ursprünglichen Krankheit kommen. Personen, die unter Anorexia nervosa leiden, setzen den Körper durch das hinzukommende Sportpensum zusätzlichem Stress aus. Der erhöhte Energieumsatz kann so das Abmagern weiter unterstützen, was eine Verschlechterung des Zustands nach sich zieht. Auch bei Bulimie Patienten führt das Auftreten einer sekundären Sportsucht häufig zur Verschlechterung des Zustands. Betroffene können den Gebrauch von Abführmitteln und Erbrechen für die Gewichtskontrolle durch exzessives Sporttreiben komplett ersetzen. Interessant hierbei ist, dass die Veränderung im Verhalten in den Augen der Angehörigen wie eine Verbesserung der Krankheit aussehen kann (Adams, 2009).

3.4 Offizielle Zuordnung und Symptome der Sportsucht

Versucht man Sportsucht in den Diagnostik Manualen DSM-5 und ICD-10 zu finden, stellt man fest, dass sie zwar erwähnt wird, jedoch nicht den Süchten zugeordnet wird. Offiziell fällt sie wie viele andere Verhaltenssüchte unter die Kategorie „Störungen der Impulskontrolle“ (Grüsser und Thalemann, 2006). Tatsächlich ist es schwierig, genau zu sagen, ob es sich bei der Sportsucht um eine Verhaltenssucht, Zwangsneurose oder Impulskontrollstörung handelt. Während manche Wissenschaftler argumentieren, dass Sportsucht nur die Begleiterscheinung einer Esssucht ist und nicht autark auftreten kann, ist in den Augen von anderen Wissenschaftlern die Sportsucht deutlich als Verhaltenssucht zu definieren. Im folgenden Abschnitt wird gezeigt, warum die Einordnung von Sportsucht als Verhaltenssucht sinnig ist. Hierfür werden die eben erwähnten Krankheitsbilder kurz vorgestellt.

Von einer Impulskontrollstörung spricht man, wenn die betroffene Person nicht mehr in der Lage ist, einem Trieb, einem Impuls oder der Versuchung eine Tätigkeit auszuführen, widerstehen kann, obwohl diese für sie selbst oder andere schädigende Konsequenzen nach sich zieht. Betroffene bauen vor dem Ausführen der Tätigkeit eine zunehmende innere Spannung auf, bis diese unerträglich wird und sie ihrem Drang nachgehen. Wird diesem Impuls nun nachgegangen, fühlen sich die Betroffenen erleichtert und es verschafft ihnen eine Form von Befriedigung. Nach Tätigkeitsausführung kann es jedoch zu Selbstvorwürfen, Reue und Schuldgefühlen kommen. Außerdem werden die Tätigkeiten wiederholt und ohne vernünftige Motivation ausgeführt. Beispiele für diese Krankheit sind: Kleptomanie, Pyromanie oder Kaufzwang (Schipfer, 2015). Dass eine genaue Zuordnung schwer fällt, ist anhand der Hypersexualität zu sehen. Während das DSM-5 diese Krankheit als Impulskontrollstörung aufnimmt, lehnt das ICD-10 diese ab (Grüsser und Thalemann, 2006). Es ist nicht bekannt, was genau die Ursachen einer Impulskontrollstörung sein könnten. Die Ähnlichkeit von Sportsucht und Impulskontrollstörung sind gravierend und zusammen mit der Abwesenheit eines süchtig machenden Stoffes wohl der Grund, warum Verhaltenssüchte wie die Sportsucht als „Störung der Impulskontrolle“ klassifiziert werden.

Da der immens starke Drang exzessiven Sport zu betreiben auch als Zwang wahrgenommen werden kann, sollte die Einordnung als Zwangsstörung auch in Betracht gezogen werden. Im DSM-5 unter „Obsessive-Compulsive and Related-Disorders“ eingeordnet, befasst sie sich mit krankhaftem Verhalten wie dem Messie-Syndrom, Trichotillomanie9 oder der Body Dysmorphic Disorder10. Betroffene fühlen sich dazu gezwungen, bestimmte Verhaltensweisen oder gedankliche Handlungen (z.B. Zahlenfolgen zu vervollständigen) ständig zu wiederholen. Dieses Verhalten soll dazu führen, dass befürchtete Situationen nicht auftreten, um ein Unwohlsein zu verhindern. Die ausgeführten Tätigkeiten stehen dabei jedoch in keinem realistischen Bezug zu dem, was ausgeglichen oder verhindert werden soll (Schipfer, 2015). Bei einer Befragung konnte ein Proband nicht einmal in der Abgeschiedenheit seines eigenen Gartens sein Hemd zum Sonnen ausziehen, da er unter dem Adonis-Komplex litt. Er war der festen Überzeugung, dass ein Flugzeug vorbeifliegen könnte und möglicherweise jemand auf ihn herunterschauen würde (Pope et al, 2001). Meist wissen die Betroffenen, dass ihre Handlungen unlogisch sind und ihr Leben negativ beeinflussen. Ohne Therapie sind sie jedoch nicht in der Lage, ihr Denken und Handeln zu verändern. Zwangsstörungen werden wie Impulskontrollstörungen nicht durch Drogen ausgelöst. Ihre Ursachen sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht vollständig erforscht (Schipfer, 2015). Obwohl viele Faktoren der Zwangsstörung auf Sportsucht zutreffen, gibt es einen Aspekt, der deutlich gegen diese Zuordnung spricht. Bei einer Zwangsstörung müssen die ausgelösten Tätigkeiten als quälend oder unangenehm empfunden werden und sie müssen sich auf unangenehme Weise wiederholen (Schipfer, 2015). Das ist bei einer Sportsucht nicht der Fall. Betroffene fühlen sich wohl und es kann sogar zu einem euphorischen Zustand wie z.B. dem Runner‘s High kommen. Personen, die unter einer Sportsucht leiden, versuchen außerdem nicht befürchteten Situationen vorzubeugen oder durch ihr Verhalten zu verhindern (Grüsser & Thalemann, 2006).

Der Zuordnungsvorschlag, den mittlerweile viele Wissenschaftler machen und den diese Masterarbeit unterstützt, ist der einer Verhaltenssucht. Diese Einschätzung unterstützen viele Studien besonders aufgrund der starken Ähnlichkeit, den die Sportsucht mit einer stoffgebundenen Suchterkrankung hat (Schipfer, 2015). Wie in Kapitel 2 beschrieben, ist das auch der Fall bei den Verhaltenssüchten.

Breuer und Kleinert (2003) nennen sieben Punkte, welche das Syndrom der Sportsucht als Verhaltenssucht erläutern:

- Toleranzentwicklung: Betroffene müssen die Intensität und den Umfang ihres Trainings erhöhen, um das bekannte Glücksgefühl zu erlangen. Dies geschieht dann in einem unverhältnismäßigen Ausmaß.
- Entzugssymptome: Es kann zu körperlichen Symptomen, z.B. Schlaf- und Magen-Darm-Störung kommen, aber auch zu psychischen Störungen wie Gereiztheit oder anderen Befindlichkeitsstörungen.
- Intentionalität: Betroffene merken, dass sie die Kontrolle verlieren und fallen in einen Zustand von Hilflosigkeit. Häufig scheint der Sport als unbedingt notwendig wahrgenommen zu werden, um alltägliche Anforderungen zu bewältigen.
- Kontrollverlust: Trotz wahrgenommener negativer Konsequenzen des Sports bleiben Kontrollversuche des Sportsüchtigen erfolglos.
- Aufwand: Sportfreie Zeit wird mit Planung des Sports verbracht. Außerdem nimmt das Thema Sport eine gedankliche Vorherrschaft im Alltag des Patienten ein. Es kommt zur Vernachlässigung anderer relevanter Lebensbereiche.
- Konflikte: Es kommt zum Streit mit dem Partner, der Familie und dem Freundeskreis. Soziale Motive rücken immer mehr in den Hintergrund und suchtgebundene Motive in den Vordergrund.
- Kontinuität: Sportsüchtige setzen ihr Training auch bei Verletzungen fort und ignorieren die Warnungen von Ärzten oder Mitmenschen. Schädliche Konsequenzen werden nicht ernst genommen und ausgeblendet.

Zum ersten Mal wurde 2013 eine Verhaltenssucht, die Spielsucht, in derselben Kategorie wie stoffgebundene Süchte im Diagnosemanual DSM-5 geführt. Obwohl sie innerhalb dieser Kategorie noch einen gesonderten Status hat, ist dies ein wichtiger Schritt dahingehend, dass andere stoffungebundene Süchte in der Zukunft auch offiziell als Verhaltenssüchte klassifiziert und dementsprechend in den Diagnosemanualen aufgenommen werden.

4 Entstehung der Sportsucht

Obwohl schon viele Aspekte der Sportsucht erforscht sind, ist es bis heute unklar, welche Faktoren für einen Ausbruch verantwortlich sind. Über die letzten Jahrzehnte sind immer wieder Erklärungsversuche und Modelle entstanden, die beschreiben, wie genau es zu einer Abhängigkeit kommen kann. In diesem Kapitel werden einige Konzepte vorgestellt, die veranschaulichen sollen, welche Ursachen eine Sportsucht haben kann. Hierbei ist es wichtig, zu erwähnen, dass es kein alleiniges richtiges Modell gibt und dass die exakten Umstände, die eine Rolle spielen, bis heute nicht genau ausgemacht wurden. So tauchen einige Faktoren bei unterschiedlichen Erklärungsansätzen immer wieder auf, während andere Faktoren fast gänzlich verschwunden oder revidiert worden sind. Während in den 1970er-1990er Jahren ein enormer Fokus auf physiologische, eindimensionale Hypothesen gelegt wurde, geht man heutzutage davon aus, dass Erklärungsmodelle komplexer sein müssen, um das Phänomen der Sportsucht durchleuchten zu können. So müssen z.B. unterschiedlichste sozio- und psychologische Systemebenen mit einbezogen werden (Stoll et al., 2010). Zunächst werden in diesem Abschnitt dennoch die eindimensionalen Hypothesen und Modelle dargestellt, da sie zum einen zuerst aufgestellt wurden und zum anderen teilweise auch eine Rolle in den mehrdimensionalen Hypothesen spielen, welche danach erklärt werden. Die von mir vorgestellten Erklärungsversuche befassen sich nur mit der primären Sportsucht, die nicht an eine Essstörung gebunden ist. Eine Ursachenerklärung der primären und sekundären Sportsucht würde den Rahmen dieser Arbeit. Außerdem ist die sekundäre Sportsucht stark an der Grundstörung wie z.B. Anorexia nervosa orientiert, wodurch die Erklärung zu sehr von der eigentlichen Thematik abkommen würde.

4.1 Volition High

Schack beschreibt das Volition High als einen Zustand „bei dem Sportler die Erfahrung willkürlicher Steuerung ihrer Aktivitäten und letztendlich ihres Erlebens haben“ (Schack, 2000, S. 130). Dieser Zustand setzt nach einem längerfristig erlebten Kontrollzustand ein, bei dem vorher geplante Ereignisse und Erwartungen tatsächlich eingetroffen sind. Um diesen Zustand zu erreichen, gehört u.a. die erfolgreiche Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten im Handlungsvollzug sowie die Aktivierung von körperlichen und psychischen Ressourcen dazu. Betroffene, die diese positive Kontrollerfahrung machen, zeigen eine verstärkte Fähigkeit ihre selbstgesteckten Ziele zu erreichen und sind in der Lage, mit Stresssituationen besser umgehen zu können (Schack, 2000). Sport scheint im besonderem Maße dafür geeignet zu sein, diesen Zustand zu erreichen. Zum einen aufgrund der kontinuierlichen rhythmischen Belastung im Wechsel mit Momenten der Entlastung, die z.B. beim Ausdauersport (Schwimmen, Laufen, Walking) zu finden sind. Zum anderen wegen des Aspekts, dass die zu laufende oder schwimmende Strecke sowie das Tempo oder die Zeit selbst gewählt werden und diese vorher gesteckten Ziele vom Sporttreibenden meist erreicht werden (Schack, 2000). Dieser Zustand kann als so erfüllend und erstrebenswert wahrgenommen werden, dass Betroffene anfangen, sich auf ihr Trainingsverhalten zu fixieren und es dadurch immer weiter in den Vordergrund rückt. Dementsprechend rücken andere wichtige Aspekte ihres Lebens in den Hintergrund und werden durch ein erhöhtes Trainingspensum ersetzt. Es ist nicht geklärt inwieweit das Volition High mit verantwortlich für den Ausbruch einer Sportsucht ist und welche Rolle es genau einnimmt.

4.2 Flowhypothese

Die Flowhypothese ähnelt dem Volition High. Der Sportler versucht sich über einen längeren Zeitraum in einem angestrebten Kontrollzustand zu befinden (Schack, 2000). Des Weiteren beschreibt Csikszentmihalyi den Flow Zustand wie folgt:

„Im Flow-Zustand folgt Handlung auf Handlung, und zwar nach einer inneren Logik, welche kein bewusstes Eingreifen von Seiten des Handelnden zu erfordern scheint. Er erlebt den Prozess als ein einheitliches Fließen von einem Augenblick zum nächsten, wobei er Meister seines Handelns ist und kaum eine Trennung zwischen sich und der Umwelt, zwischen Stimulus und Reaktion, oder zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verspürt (…)“

(Csikszentmihalyi, 1985, S. 59). Dieser Zustand ist genau wie das Gefühl vom Volition High so angenehm, dass er von den Sportlern immer wieder erreicht werden möchte, was letztendlich Züge einer Sucht annehmen kann. Hinzu kommt, dass der Flow Zustand und das Volition High häufig durch die Ausschüttung körpereigener Glückshormone begleitet wird, den β-Endorphinen (Schack, 2000). Beide Zustände könnten als Faktoren angesehen werden, die eine Rolle bei der Entwicklung einer Suchterkrankung führen. Dass es sich hierbei jedoch nicht um eindeutige Sucht- oder Abhängigkeitsindikatoren handelt, zeigt eine Studie, die feststellte, dass Triathleten während eines Wettkampfs willentlich das Hochgefühl des Flow Zustands unterdrücken. Dadurch sind sie in der Lage, ihr Tempo zu drosseln und zu regulieren. Somit wird verhindert, dass sie ihre Kraft schon früh im Rennen aufbrauchen, wodurch Nachteile im späteren Verlauf auftreten würden (Schack, 2000).

4.3 Runner’s High

Wie bei der Flowhypothese bereits erwähnt, wird das Hochgefühl des erlebten Kontrollzustands mit einer Ausschüttung von β-Endorphinen begleitet. Dies ist ein körpereigenes Opioid, welches in den 70er Jahren entdeckt wurde. Da Forscher 1973 auch Opioidrezeptoren im Gehirn von Säugetieren entdeckten, versuchten Wissenschaftler den zwanghaften Drang nach Sport, in diesem Falle Laufen, mit der Ausschüttung dieses Glückshormons gänzlich zu erklären und nannten den euphorisierenden Zustand Runner’s High (Stoll, 2000). Während die Populärwissenschaft das Runner’s High als häufige Begleiterscheinung von Läufern darstellt, ist das tatsächliche Auftreten dieses von den körpereigenen Opioiden ausgelöste Erlebnis deutlich seltener und zudem schwer festzustellen. Das zeigen auch mehrere Studien, die sich mit der Prävalenz11 des Runner’s High bei Läufern beschäftigten. Die Ergebnisse variierten von neun bis 78 Prozent (Sachs, 1984). Diese enorme Varianz zeigt die Problematik der Identifikation. Der Grund dafür ist die große Auswahl an Möglichkeiten wie das Hochgefühl beschrieben wird. Sachs berichtete von mindestens 27 unterschiedlichen Wortwendungen in der Literatur. Darunter Wörter wie: Stärke, Kraft, Geschwindigkeit, Bewegung ohne Anstrengung, Euphorie, Augenblicke der Perfektion, Anmut. Auf der Grundlage seiner Forschungen entwickelte Sachs seine eigene Definition. Demnach ist das Runner’s High „a euphoric sensation experienced during running, usually unexpected, in which the runner feels a heightened sense of well-being, enhanced appreciation of nature, and transcendence of barriers of time and space” (Sachs, 1984, S. 274). Zusätzlich hat Sachs verschiedene Faktoren untersucht, die Aufschluss darüber geben sollen, wie genau das Runner’s High zu erreichen ist. So müssten Personen, bei denen die linke rationale Gehirnhälfte dominiert, das Hochgefühl schwerer erreichen als Personen, bei denen die rechte kreative Gehirnhälfte dominiert (Sachs, 1984). Ebenso relevant ist der Trainings- bzw. Laufstil von Betroffenen. So kann ein Runner’s High für die eine Person durch ein lang andauerndes, extensives Trainings- und Laufprogramm eintreten und für die andere Person bei einem schnellen und intensivem Programm. Wichtig ist außerdem, dass sich die Person dem Hochgefühl nicht verschließt, sondern es zulassen muss (Sachs, 1984). Dass es bei Ausdauersportarten zu einer erhöhten Konzentration von β-Endorphinen im Blutkreislauf kommt, wurde in mehreren Studien nachgewiesen (Schipfer, 2015). Bei den Probanden kam es zu einem herabgesetzten Schmerzempfinden und einer Veränderung des Gemütszustands. Man nahm an, dass das Absinken des Schmerzempfindens einer der wichtigsten Faktoren sei, der letztendlich das Runner’s High verursacht (Stoll, 2000). Kritik an der Theorie, dass das β-Endorphin ein Mediator für Sportsucht ist, kam in Studien auf, die darlegten, dass es erst bei intensiven Belastungen, die oberhalb von vier mmol/l Laktat im Blut und einer Belastungsdauer von über 60 Minuten zu einer vermehrten β-Endorphinausschüttung kommt. Solch eine hohe Belastung kann allerdings nur von gut trainierten Sportlern absolviert werden, was dazu führen müsste, dass weniger gut trainierte Sportler keine euphorisierenden Wirkungen bei ihren Läufen wahrnehmen können (Schack, 2000). Außerdem wurde festgestellt, dass β-Endorphin zwar chronische Schmerzen mindern kann, jedoch keine akuten Schmerzen, wie sie z.B. beim Marathon auftreten. Ein direktes Hocherlebnis durch ein vermindertes Schmerzempfinden könne so nicht direkt mit dem Laufen verbunden werden. Der letzte wichtige Kritikpunkt ist, dass nicht klar ist, wie oder ob das β-Endorphin im Blut überhaupt in der Lage ist die Blut-Hirn-Schranke12 zu passieren (Stoll, 2000).

4.4 Mehrdimensionale Erklärungsmodelle

Obwohl eindimensionale Erklärungsmodelle in der Sportsucht ihre Daseinsberechtigung haben, gibt es doch viele berechtigte Kritikpunkte. Deswegen können die zuvor vorgestellten Theorien nicht ausreichen, um die Entstehung einer Sportsucht zu erklären. Andere Faktoren wie der Einfluss des sozialen Umfelds oder die Selbstwahrnehmung spielen ebenso eine wichtige Rolle wie physiologische Faktoren. Im folgenden Kapitel wird das Prozessmodell der Entstehung von Lauf- und Ausdauersucht von Schack (2000) nutzen, um die Sportsucht zu beschreiben. Obwohl mehrere multidimensionale Modelle zur Sportsucht existieren, wurde dieses Modell ausgewählt, da es sich mit Prädispositionen und Faktoren der Suchtauslösung beschäftigt. Andere Modelle, wie z.B. das „Model of Participation in Running“ (Sachs und Pragman, 1984), beschäftigen sich zwar mit einem bestimmten Status der Sportsucht, aber nicht damit, wie es zu diesem Status kommt. Multidimensionale Modelle gehen davon aus, dass Sportsucht nicht durch einen alleinigen Faktor wie z.B. das Ausschütten von β-Endorphinen entstehen kann. Vielmehr muss Sportsucht als biopsychosoziales Phänomen angesehen werden. Ein ganzer Komplex aus unterschiedlichen Ebenen spielt eine Rolle für die Entstehung und Aufrechterhaltung vom krankhaften Sporttreiben. Schack identifiziert die folgenden Ebenen:

„Ebene 1: die psychologischen Zustände, die direkt mit dem Laufen entstehen (körperliches Befinden, Veränderungen [sic] Herz-Kreislauf-System, hormonelle Veränderungen u.s.w.).

Ebene 2: die Selbstwahrnehmung und Selbstbewertung seiner Aktivität, aktuelle Genese des Selbst, etwa Streben nach Selbstwertstabilisierung und/ oder -erhöhung, die Bewertung der eigenen Handlungskontrolle.

Ebene 3: die Randbedingungen und Reaktionen des sozialen Umfelds (Laufboom in der Gesellschaft, Freunde, Wettkampfgegner u.s.w., aber auch Streßfaktoren z.B. aus der Sozial- und Arbeitswelt“ (Schack, 2000, S. 135).

Die Randbedingungen zur Entstehung von Laufsucht können sich über jede einzelne Ebene manifestieren. Zur Entstehung einer Sportsucht müssen jedoch auf den anderen Ebenen zumindest stabile, suchtfördernde Randbedingungen für eine weitere Ausprägung von Suchtverhalten vorhanden sein (Schack, 2000).

Bevor nun auf das Prozessmodell eingegangen wird, wird zuerst der Begriff der Sportbindung erklärt, welcher in diesem Modell eine zentrale Rolle spielt. Sportbindung beschreibt eine Phase, bei der sich eine Person dem Sport bereits zugewandt (Sportzuwendung) hat und eine gewisse Selbstverpflichtung auf eine regelmäßige sportliche Betätigung entstanden ist. Des Weiteren entwickeln die Sportler in dieser Phase eine Verbundenheit zur Sportart und zum Sport allgemein (Schack, 2000). Schack kennzeichnet eine gesunde Phase der Sportbindung durch folgende Merkmale:

1. „Das Motiv zum wiederholten Training ist ein wichtiges aber nicht das zentrale Motiv im Leben des Sportlers.
2. Es entstehen keine starken und unkontrollierbaren Entzugssymptome, wenn der Ausdauersport aus objektiven Gründen nicht betrieben werden kann.
3. Die selbstregulierte sportliche Tätigkeit (ausdauerndes Laufen, Triathlon, u.s.w.) und nicht ein damit im Zusammenhand stehendes Flash- oder Higherleben stehen im Mittelpunkt des Trainings/ Wettkampfes (Primärer vs sekundärer Kontrollgewinn)“ (Schack, 2000, S. 131).

Er beschreibt zwei unterschiedliche Ansätze, die erklären sollen, wie ein Sportler ein krankhaft süchtiges Sportverhalten aufbauen kann. Beide Ansätze gehen davon aus, dass der Betroffene eine erfolgreiche Phase der Sportzuwendung gehabt hat.

1. Ansatz:

Wenn die Person nun weiterhin Sport betreibt, kommt es zu der bereits beschriebenen Sportbindung. Hier ist es jedoch sehr interessant zu betrachten, welche kulturelle und persönliche Rahmenbedingungen genau dazu führen, dass sich eine Person dem Sport verpflichtet fühlt. In einer Studie wurden 86 Ausdauersportler nach ihren Beweggründen zum Sporttreiben befragt. Dabei konnten vier wesentliche Faktoren ausgemacht werden: Umgang mit negativen Affekten, Erholung, Leistung und Einfluss anderer und der Verbesserung des eigenen Aussehens. Sieht man sich diese Faktoren an, ist direkt zu erkennen, dass „Einfluss anderer und der Verbesserung des eigenen Aussehens“ und besonders „Umgang mit negativen Affekten“ suchtgefährdende Beweggründe darstellen und letztendlich zu einer problematischen Art der Sportbindung führen können (Schack, 2000). Obwohl beide Arten der Sportbindung (gesunde Sportbindung vs. problematische Sportbindung) oberflächlich betrachtet viele Gemeinsamkeiten haben, sind die Ausgangsmotive der Sportler sehr verschieden. Nicht der Sport selbst, sondern der Aufbau von Selbstvertrauen, der Wunsch nach Stimmungsverbesserung, Gewichtsreduktion und der Umgang mit negativen Affekten steht hier im Mittelpunkt (Schack, 2000). Durch solche personellen, psychischen Prädispositionen kann die Phase der Sportbindung als eine suchtsensitive Bindungsphase angesehen werden, welche sich funktional von anderen Bindungstypen unterscheidet (Schack, 2000). Im späteren Verlauf der Suchtphase können nun Entzugssymptome einsetzen, die dadurch begünstigt werden, dass der Betroffene in einen „prerunning-state“ zurückfällt.

„Ein solcher Sportler fühlt sich also nicht nur deshalb schlecht, weil er geplante Laufaktivitäten nicht durchführen kann (und deshalb Entzugserscheinungen hat), sondern auch deshalb, weil er sich wieder so, wie vor Beginn des Lauftrainings fühlt (prerunning-state). Für diesen „Sucht-Durchläufer“ ist kennzeichnend, daß die Bindungsphase qualitativ, nicht klar von den anderen Phasen separiert werden kann“ (Schack,2000, S. 137).

Dieser Ansatz zur Entstehung von Sportsucht macht es sehr deutlich, was für eine Rolle die Eingangsmotive spielen. Falls Betroffene, die solche problematischen Eingangsmotive haben, im Laufe der Sportbindung keine Motivverschiebung in Richtung Entspannung, Geselligkeit, Gesundheit, etc. machen, laufen sie Gefahr, eine Sportsucht zu entwickeln.

2. Ansatz:

Bei diesem Ansatz wird davon ausgegangen, dass der Betroffene eine erfolgreiche positive Bindung an den Sport erlebt hat. Durch bestimmte auslösende Faktoren kippt diese stabile gesunde Phase nun in eine Übergangsphase, die sich immer weiter aufschaukeln und letztendlich in einer Sportsucht enden kann. Solche Auslöser sind generell Lebensumstände, die einen hohes Potential an emotionalem Stress haben (Schack, 2000). Gerne werden hier Ereignisse wie Scheidung, Trennung, Todesfälle, etc. genannt. Obwohl solche Schicksalsschläge sicherlich Einflussfaktoren sein können, gibt es zahlreiche andere und individuell stark abweichende Auslöser, die sehr komplex sein können und schwer auszumachen sind. Bisher liegt noch keine Längsschnittstudie vor, die diesen Sachverhalt genauer untersucht (Zeck et al. 2013). Wird ein Sportler nun so einer Stressphase ausgesetzt, kann das latente Probleme wie z.B. Probleme mit dem Selbstvertrauen aktualisieren. Es kommt dazu, dass die erlangten Kontrollgewinne durch den Sport nun als Mittel dienen, um Stress oder Selbstvertrauensprobleme zu kompensieren. Dies kann über einen längeren Zeitraum dazu führen, dass der Sport zu einem zentralen Mittel der psychischen Stabilisierung wird und es zu einer Fixierung auf spezifische sportliche Aktivitäten kommt (Schack,2000). Wenn nun beispielsweise ein Sportler seine Laufaktivität verringern muss, wird sich das niedrigere Laufpensum als ein neuer selbstwertbedrohender Stressfaktor erweisen. Es kommt immer mehr dazu, dass Vermeidungsmotive (Vermeidung von Entzugserscheinungen, Vermeidung eines geringeren Trainingspensums, Vermeidung sozialer Nähe) den Sinn des Sporttreibens ausmachen. Zusätzlich kommt es durch das Streben nach Selbstwerterhöhung, verbunden mit sozialem Druck, zu einer immer stärker werdenden Eskalation der Ziele und Fixierung auf den Sport. Außerdem scheint in dieser Phase auch das Eindrucksmanagement eine Rolle zu spielen (Schack, 2000). Eindrucksmanagement meint hier das öffentlich Machen und Umsetzen der eigenen Ziele, was häufig durch den subjektiv wahrgenommenen sozialen Druck verstärkt wird. Der Zustand verschlimmert sich umso mehr, wenn z.B. Laufsüchtige feststellen, dass sie ihre ersten Hauptziele (100km in einer Woche absolvieren, 10kg abnehmen, etc.) erreicht haben und ihre Zielsetzung dadurch weiter eskaliert. „Diese Dynamik im Bereich der Zielsetzung wird nun offensichtlich noch durch die neu entstandenen Vermeidungsmotivationen und weitere Bedingungsfaktoren in Richtung Laufsucht ausgelenkt und dort stabilisiert“ (Schack, 2000, S. 138). Weitere stabilisierende Faktoren wie z.B. Entzugserscheinungen können an dieser Stelle hinzukommen. Zu diesem Zeitpunkt brauchen Betroffene bereits professionelle Hilfe, um ihr krankhaftes Verhalten zum Sport wieder in die richtige Bahn zu leiten. Wird nichts unternommen, kann der Sportler im letzten Stadium der Suchtentstehung enden, der Sportsucht (Schack, 2000). Durch den zunehmenden Kontrollgewinn, der sich bei einer gesunden Sportbindung einstellt, kommt es zu einer positiven Entwicklung der mentalen (Selbst-) Kontrolle des Sporttreibenden. Während diese Entwicklung ein sehr positiver Aspekt ist, kann es während der Übergangsphase zu einer Abnahme der mentalen (Selbst-) Kontrolle kommen. Dieser Verlust von Kontrolle wird immer stärker, bis der Betroffene jegliche Kontrolle verloren hat und die Sucht das Verhalten kontrolliert.
Es fällt auf, dass sich dieser Ansatz auch mit der in Kapitel 2 erwähnten allgemeinen Kritik der Sportsucht auseinandersetzt. Die Kritiker behaupten, dass ein Problemverhalten lediglich Ausdruck einer tiefer liegenden psychischen Problematik wie ein verminderter Selbstwert oder einer Beziehungsstörung sei. Jedoch bindet das Prozessmodell genau diese Faktoren mit ein und zeigt einen Zusammenhang auf. Als Zeitangabe, wie lange es dauert bis die Sportsucht bei einer Person ausbricht, lassen sich unterschiedliche Angaben finden. Dabei schwanken sie zwischen vier bis sechs Monaten und zwei Jahren (Schack, 2000). Eine so hohe Varianz tritt auf, da es schwer zu sagen ist, wann genau der Prozess bei einer Person einsetzt und wie weit er bereits fortgeschritten ist.

Abbildung 1 gibt eine Übersicht der zuvor erklärten Phasen und unterschiedlichen Einflussfaktoren, die in der Entstehung von Sportsucht eine Rolle spielen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1. Prozessmodell der Entstehung von Lauf- und Ausdauersucht (Schack, 2000, S. 139)

5 Sportsucht im Kraftsport

Während in den letzten Kapiteln die Sportsucht anhand des Ausdauersports erklärt wurde, wird nun der Fokus auf die Sportsucht bei Kraftsportlern gelegt. Ob und inwiefern das krankhafte Sporttreiben hier ein Thema spielt, wurde in der Forschung erst wenig untersucht. Dennoch soll nun zuerst der theoretische Hintergrund dieses Phänomens durchleuchtet werden.

Der soziale Vergleich mit unseren Mitmenschen spielt hier eine wichtige Rolle. Dabei beziehen wir uns besonders auf einzelne Merkmale, unter die vor allem auch die körperliche Attraktivität fällt (Döring, 2013). In Kombination damit, dass uns Medien suggerieren, ein erfolgreicher und attraktiver Mensch müsse auch eine ausgeprägte Muskulatur vorweisen können, trägt dies dazu bei, dass das Selbstvertrauen von Personen, die sich von den Medien beeinflussen lassen, darunter leidet (Pope et al., 2001). Sie fühlen sich dazu gezwungen, mit dem Kraftsport und dem Aufbau eines muskulösen Körpers zu beginnen. Genau das ist, wie im Prozessmodell bereits beschrieben, ein problematisches Einstiegsmotiv für den Sport und könnte ohne eine entsprechende Motivverschiebung zum Entwickeln einer Sportsucht führen. Auch Breuer und Kleinert (2009) unterstützen den Gedanken, dass Sportsucht im Kraftsport eine Rolle spielt. Sie erwähnen, dass nicht nur extreme Laufstrecken ein Indiz von Sportsucht wären. Auch extreme muskuläre Veränderungen durch exzessives Bodybuilding können als Kriterium von Suchtverhalten betrachtet werden. Ein Grund, warum gerade Bodybuilding eine Sportart ist, bei der sich Sportsucht entwickeln kann, ist, dass Sportler ähnlich wie beim Laufsport ein hohes Maß an positiven Kontrollerfahrungen erleben. Kraftsportler und Bodybuilder planen jedes Training einzeln durch, überlegen sich welche Muskelgruppen sie trainieren wollen, mit welchen Übungen das geschehen soll und welches Gewicht wie häufig in wie vielen Sätzen bewegt wird. Ähnlich wie bei dem Laufsport kann hier ein sogenanntes Mastery-Gefühl und unter Umständen auch ein Volition High entstehen (Schack, 2000). Hinzu kommt, dass Kraftsportler sich auch abseits der Trainingseinheiten häufig mit der richtigen Ernährung auseinandersetzen und ihre Mahlzeiten akribisch durchorganisieren. Portionsgröße, Timing (z.B. alle drei Stunden etwas zu essen) und Nährstoffzusammensetzung werden genau geplant und wenn nötig mit Nahrungsergänzungsmitteln optimiert. Knobloch et al. (2000) erwähnen, dass ein solch hohes Ausmaß an Selbstkontrolle in den heutigen oftmals sehr anstrengenden und unüberschaubaren alltäglichen privaten sowie beruflichen Lebensbedingungen kaum zu finden sind. Solche Kontrollgewinne sind jedoch für Sportler, die z.B. durch negative Einstiegsmotive zum Kraftsport gekommen sind, ein wichtiger Faktor, der eine Fixierung auf den Kraftsport nach sich ziehen kann. Bei voranschreitendem Training kommt es außerdem dazu, dass der Sportler immer schwerere Gewichte bewegen kann und die körperlichen Veränderungen von den Mitmenschen meist positiv wahrgenommen werden, was ihn in seinem Verhalten bestätigt und weiter antreibt. Dieser soziale Aspekt spielt im Kraftsport für viele Menschen eine wichtige Rolle. So kann ein Sportler über den Kraftsport und seinem muskulöser werdenden Körper z.B. sein geringes Selbstvertrauen aufbauen und sich dadurch einen höheren sozialen Status erhoffen. Inwieweit solch ein Einstiegsmotiv gesund ist, bleibt zu bezweifeln. Ähnlich wie beim Läufer, der sein Hauptziel erreicht hat (100 km Strecke in einer Woche zu laufen), kann es sein, dass ein Bodybuilder, der sich vorgenommen hat 120 kg beim Bankdrücken zu stemmen, nach dem Erreichen dieses Ziels mit seiner Leistung nicht mehr zufrieden ist und sich direkt ein neues Ziel steckt, was nach und nach zu einer Eskalation der Ziele führen kann. Immer mehr Gewicht muss bewegt und immer mehr Muskelmasse aufgebaut werden (Knobloch et al., 2000). Ein weiterer interessanter Punkt ist, in wie weit das beim Laufen bekannte Runner’s High in einer ähnlichen Form beim Bodybuilding vorkommt.

„The greatest feeling you can get in a gym or the most satisfying feeling you can get in the gym is the pump. Let’s say you train your biceps, blood is rushing in to your muscles and that’s what we call the pump. Your muscles get a really tight feeling like your skin is going to explode any minute and its really tight and it’s like someone is blowing air into your muscle and it just blows up and it feels different, it feels fantastic. It’s as satisfying to me as coming is, you know, as in having sex with a woman and coming. So can you believe how much I am in heaven?” (https://www.youtube.com/watch?v=84cVizR6sPQ).

Der bekannte österreichisch-amerikanische Bodybuilder Arnold Schwarzenegger beschreibt in diesem Zitat ein ekstatisches Hochgefühl, was er beim Kraftsport erlebt. Viele Bodybuilder und Kraftsportler erfahren in ihrer Sportart häufig ein ähnliches Gefühl, obgleich sie es nicht immer so überspitzt beschreiben würden. Obwohl unterschiedliche Studien gemacht wurden, die eine erhöhte β-Endorphin Konzentration nachweisen sollten, konnte diese nicht bestätigt werden (McGowan et al.,1993; Pierce et al.,1993). Trotzdem sollte man diesen Aspekt nicht direkt wieder ignorieren. Zum einen waren die meisten Studien mit einer geringen Teilnehmerzahl und einem realitätsfremden Versuchsaufbau nicht wirklich aussagekräftig. Zum anderen muss das erlebte Hochgefühl nicht unbedingt physiologischer Natur sein. Besonders bei Menschen, die sehr viel Wert auf einen muskulösen Körper legen, kann das Hoch auch eine psychologische Ursache haben. Zusammenhänge könnte man auf die veränderte Optik der Muskulatur durch den „Pump“ oder auch auf einen Schub im Selbstvertrauen zurückführen, welcher durch das Absolvieren eines besonders schweren Satzes oder den Blick in den Spiegel und dem Gefühl anderen Kraftsportlern optisch überlegen zu sein, ausgelöst wird. Um einen genauen Eindruck davon zu bekommen, was genau das Hoch, welches Schwarzenegger mit dem Gefühl eines Orgasmus so überschwänglich beschrieben hat, auslösen kann, sind weitere Untersuchungen und Studien notwendig. Es gibt also einige Punkte, in denen sich Kraft- und Laufsport in Bezug zur Entwicklung einer Sportsucht ähneln. Leider gibt es noch keine relevanten Studien, die Aufschluss über eine mögliche Toleranzentwicklung oder dem Auftreten von Entzugserscheinungen im Kraftsport geben. Durch einen Überblick weiterer Gemeinsamkeiten mit dem Laufsport könnte ein besseres Verständnis von Sportsucht im Kraftsport erlangt werden.

[...]


1 aus Gründen der Lesbarkeit wird im Folgenden nur die männliche Form verwendet.

2 Weltgesundheitsorganisation

3 Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen

4 Internationale Klassifikation psychischer Störungen

5 Ein Zustand ähnlich des Entzugs

6 Aufgrund der unterschiedlichen Auslegung des Suchtbegriffs, die in der Literatur zu finden ist, verwende ich Abhängigkeit und Sucht als Synonym.

7 Bezieht sich hier auf: Stimmungsschwankungen, Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen.

8 Dazu gehören: Magersucht (Anorexia nervosa), Ess-Brech-Sucht (Bulemia nervosa), Fressattacken (Binge Eating Disorder).

9 Das Zwanghafte Verhalten, sich die eigenen Haare auszureißen

10 In der Populärliteratur auch als Adonis-Komplex bekannt. Betroffene haben die Furcht nicht muskulös genug zu sein.

11 Kennzahl der Krankheitshäufigkeit. Sie gibt den Anteil einer ausgewählten Gruppe an, der an einer bestimmten Krankheit leidet.

12 Eine selektiv durchlässige Schranke zwischen Hirnsubstanz und Blutstrom

Ende der Leseprobe aus 97 Seiten

Details

Titel
Sportsucht und der mediale Einfluss im Kraftsport
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel  (Sportwissenschaften)
Veranstaltung
Sportpsychologie
Note
1,7
Autor
Jahr
2017
Seiten
97
Katalognummer
V448278
ISBN (eBook)
9783668837881
ISBN (Buch)
9783668837898
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Adoniskomplex, Sport, Sportpsychologie, Fitness, Kraftsport, Gewichte, Medien, Sportsucht, Training, Supplements, Sucht, Instagram, Youtube, Facebook, Doping, Steroide, Bodybuilding, Instragram
Arbeit zitieren
Ingolf Poßke (Autor:in), 2017, Sportsucht und der mediale Einfluss im Kraftsport, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/448278

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