Haben sich Schichten in Deutschland aufgelöst? Ulrich Beck und Rainer Geißler im Vergleich


Essay, 2018

12 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Seit dem 19. Jahrhundert beschäftigen sich Soziologen mit der deutschen Gesellschaftsstruk- tur und der gesellschaftlichen Differenzierung. Der wohl bekannteste von ihnen ist Karl Marx, der die Gesellschaft in zwei Klassen aufteilte - die Bourgeoise und das Proletariat. Mit der Zeit sammelten sich viele Theorien und Denkansätze zur deutschen Sozialstruktur. Der deut- sche Soziologe Ulrich Beck stellte die These auf, dass sich im Zuge der Individualisierung Klassen- und Schichtstrukturen auflösen bzw. sich bereits aufgelöst haben. Diese These sorg- te für viel Aufsehen, sowie Diskussionsmöglichkeiten. Es bildete sich ein Gegenpol von So- ziologen. Einer von ihnen war Rainer Geißler, der die Auflösungsthese ablehnte. In dieser Arbeit soll die Frage beantwortet werden, ob sich Schichten in Deutschland aufgelöst haben oder ob sie weiterhin bestehen.

Im Folgendem soll sich lediglich auf den Begriff der Schicht bezogen werden. Nach Geiger ist die Klasse eine historische Sonderausprägung der Schicht (vgl. Geiger 1962: 197; vgl. Geißler 1994a: 9). Daher wird der Einheitlichkeit halber nur der Begriff der Schicht verwendet. Außerdem bezieht Beck bei seiner Annahme über die Auflösung von sozialen Großgruppen keine genaue Begrifflichkeit mit ein (Burzan 2013: 783).

Nach einer kurzen Vorstellung beider Positionen, wird durch die Suche nach Plausibilität für beide Positionen sich für die zutreffendere Position entschieden und somit die Frage, ob sich Schichten in Deutschland aufgelöst haben oder nicht, beantwortet.

Becks These lautet: Die Ungleichheitsrelationen der Menschen untereinander bleiben stabil, während sich die Lebensbedingungen aller drastisch geändert haben. Aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwungs und der Bildungsexpansion in den 50er bis 70er Jahren kam es zu Niveauverschiebungen. Durch diese Niveauverschiebungen werden „subkulturelle Klassenidentitäten zunehmend weggeschmolzen, ‚ständisch‘ eingefärbte Klassenlagen enttraditionalisiert und Prozesse einer Diversifizierung und Individualisierung von Lebenslagen und Lebenswegen ausgelöst“ (Beck 1983: 36; Hervorh. im Original).

Durch die Verbesserung des Einkommens und der Bildungschancen profitierten alle Schich- ten. Die Niveauverschiebung der materiellen Lebensbedingungen ist besonders den unteren Schichten zugutegekommen, denn durch die Verbesserung der materiellen Lage wurden zum ersten Mal überhaupt einige Konsum- und Entfaltungsmöglichkeiten eröffnet, während obere Schichten lediglich ihren Besitz vermehrten. Selbiges gilt auch für die Bildung (vgl. Beck 1983: 38-39).

Neben den positiven Entwicklungen im Bildungsbereich und Einkommen begünstigen weite- re Prozesse die Individualisierung und Pluralisierung von Lebenslagen und -wegen und die damit einhergehende Auflösung von Schichten. Unter wohlfahrstaatlichen Bedingungen wer- den nicht nur die materiellen Lebensbedingungen verbessert, es werden auch sozialstaatliche Sicherungssysteme ausgebaut, neue Wege für soziale und geografische Mobilität eröffnet und die Arbeitszeit wird verringert. Außerdem wird der Arbeitsmarkt dynamischer und die Konkurrenzbeziehungen werden ausgeweitet (vgl. Beck 1983: 38-40).

Diese Niveauverschiebungen und Verbesserungen der Lebensbedingung fasst Beck unter dem Begriff „Fahrstuhl-Effekt“ zusammen. Durch diese soziokulturellen Entwicklungen steigt die Gesellschaft insgesamt eine Stufe höher (vgl. Beck 1986: 122). Dadurch kommt es zum Weg- schmelzen und Bedeutungsverlust von traditionellen Schichtidentitäten. Zudem bilden sich durch die Enttraditionalisierung aus Schichtstrukturen individuelle Existenzformen mit indi- viduellen Wahlmöglichkeiten aus. Nach Beck sind jetzt alle auch von den gleichen Risiken betroffen (z.B. Risiken vor Arbeitslosigkeit und Naturkatastrophen) (vgl. Beck 1986: 154; vgl. Beck 1995: 188; vgl. Beck 1983: 96).

Zwar werden Schichtstrukturen aufgelöst, jedoch bestehen soziale Ungleichheiten weiterhin, d.h. es bildet sich eine schichtlose Gesellschaft aus, in der es aber nach wie vor soziale Ungleichheiten gibt, die im Vergleich zu früher sogar verschärfter sein können (vgl. Beck 1986: 143; vgl. Beck 1995: 190).

Den Gegenpol zu Becks Auflösungstheorie der Schichten stellt Rainer Geißler dar. Nach Geißler haben Individualisierung, Pluralisierung und Entstrukturierung zwar stattgefunden, allerdings gibt es weiterhin schichttypische Unterschiede in den Lebenschancen, sodass sich soziale Schichten verändert haben, „aber sie haben sich keinesfalls aufgelöst“ (Geißler 1994c: V).

Das Fortbestehen von Schichtstrukturen lässt sich nach Geißler besonders an den beiden tradi- tionellen Schichtkriterien Beruf und Bildung verdeutlichen, da Lebenschancen nach wie vor abhängig von diesen beiden Kriterien sind. Somit bleiben schichttypische Chancenunterschie- de bestehen und es findet keine Auflösung der Schichten statt (vgl. Geißler 1994a: 19-20; vgl. Geißler: 1996: 324).

Den „Fahrstuhl-Effekt“ findet Geißler irreführend, denn die Gesellschaft wurde nicht wie Beck annimmt eine Stufe höher gefahren, sondern die unterschiedlichen Schichten haben auch unterschiedlich viele Stufen nach oben genommen. Für die unteren Schichten hat sich die Lage sogar verschärft, denn diese haben von dem „Fahrstuhl-Effekt“ größtenteils nichts gemerkt (vgl. Geißler 1996: 327).

Neben den schichtspezifischen Unterschieden bezüglich der Bildungschancen sieht Geißler fortbestehende schichtspezifische Unterschiede in den Chancen auf politische Teilhabe. Au- ßerdem lassen sich Zusammenhänge zwischen Schicht und Kriminalität feststellen (vgl. Geiß- ler 1996: 328-331).

Geißler streitet Individualisierung und zunehmende Vielfalt von Lebenswegen nicht ab. Ent- gegengesetzt zu Beck ist Geißler der Auffassung, dass traditionelle Schichtstrukturen sich trotz der genannten Modernisierungsprozesse nicht aufgelöst haben. Weiterhin werden Lebenschancen durch bestehende vertikale Ungleichheiten bezüglich der Ressourcenverteilung und Lebensbedingungen begrenzt (vgl. Geißler 1996: 331-332).

Nach dem beide Positionen kurz vorgestellt wurden, wird jetzt - unteranderem mit Hilfe em- pirischer Daten - die Frage beantwortet, ob sich die Schichten in Deutschland aufgelöst haben oder nicht.

Sowohl Beck als auch Geißler kommen auf die Bildungsexpansion zu sprechen. Beck merkt an, dass sich der Anteil an StudienanfängerInnen aus Arbeiterfamilien zwischen den Jahren 1928 und 1982 vervierfacht habe (vgl. Beck 1986: 128). Das würde somit für den „Fahrstuhl- Effekt“ und die Auflösung der Schichten sprechen, da sich die Bildungschancen angleichen und die Bildung keinen schichtspezifischen Charakter mehr hätte. An dieser Stelle muss ich mich allerdings Geißler anschließen. Der „Fahrstuhl-Effekt“ fand nicht gleichermaßen für alle statt. Manche profitierten mehr, manche weniger. Werden die Daten für die Studienanfänge- rInnen getrennt nach der Herkunftsgruppe betrachtet, so ergibt sich, dass sich die Chancen die Hochschule zu besuchen für untere Schichten verbessert haben, jedoch die Bildungschancen der oberen Schichten umso mehr angestiegen sind (vgl. Geißler 1996: 325; vgl. Schind- ler/Reimer 2010: 636). Somit bestehen weiterhin schichttypische Unterschiede, da Lebens- chancen nach wie vor abhängig von der Herkunft und der möglichen Bildungswege sind. Eine Person, die aus einer Arbeiterfamilie stammt, wird wahrscheinlich einen ähnlichen Beruf wie ihr Vater ausüben und in derselben Schicht verbleiben, sowie eine Person aus einer Arztfami- lie auch wahrscheinlich eine akademische Laufbahn eingehen wird. Das beweisen die Daten zur Selbstrekrutierung: Die Selbstrekrutierungsraten der Facharbeiter seit 1976 liegen stets bei ca. 50% (vgl. Pollak 2016: 210). Außerdem hat sich die Zusammensetzung der Studierenden nach der Bildungsherkunft in den letzten Jahrzehnten zugunsten derer entwickelt, die eine hohe oder gehobene Bildungsherkunft besitzen, während die Anzahl der Studierenden aus bildungsfernen Schichten von 29% auf 9% gesunken ist (vgl. BMBF 2013: 88-90). Das be- deutet, dass Kinder von Akademikereltern nicht nur wahrscheinlicher auch eine akademische Laufbahn anstreben, sondern auch, dass Kinder aus unteren Schichten immer weniger Chan- cen auf eine Hochschulbildung besitzen oder zumindest diese immer weniger wahrnehmen. Dieser Umstand kann auf der einen Seite als der Erfolg der Bildungsexpansion betrachtet werden: Mit der Zeit erhalten alle eine höhere Bildung, sodass die „Verdrängung“ der bil- dungsfremden Schichten aus der Hochschule eine natürliche ist, da es einfach mit der Zeit immer weniger Menschen mit niedriger Bildung gibt. Tatsächlich lässt sich ein derartiger Trend feststellen: Es gibt immer weniger Menschen mit Hauptschulabschlüssen, dafür ist die Zahl der Menschen mit Hochschulreife gestiegen (vgl. BMBF 2010: 37). Doch ist in diesem Zusammenhang nicht zu vernachlässigen, dass sich zwar für alle bessere Bildungschancen ergeben haben, doch erhielt die Oberschicht bessere Chancen, sodass sich die Bildungsun- gleichheiten zwischen Unter- und Oberschicht im Zuge der Bildungsexpansion vergrößert haben (siehe oben). Das würde gegen Beck sprechen, der annimmt, Personen seien komplett individualisiert und herausgelöst aus Schichtstrukturen. Nach wie vor spielen schichtspezifi- sche Chancen der Lebensgestaltung eine Rolle, in diesem Fall sind es die Bildungschancen, die sich nach wie vor ungleich über die Schichten verteilen. Die Zugehörigkeit zu einer ge- sellschaftlichen Großgruppe stellt die Weichen, wie sich das zukünftige Leben gestalten lässt. Auch ist Becks Ansicht bezüglich des gestiegenen Wohlstandes kritisch zu betrachten. Wer- den mit dem gestiegenen Wohlstand auch schichttypische Strukturen aufgelöst? Nur wenn das Einkommen für alle steigen würde bzw. sogar gestiegen ist, bedeutet es nicht automatisch, dass sich Schichtstrukturen dadurch auflösen. Es ist zwar richtig, dass untere Schichten mit dem allgemeinen Anstieg des Wohlstandes profitieren, jedoch ist es fragwürdig, ob sich dadurch auch schichtspezifische Verhaltensmuster aufbrechen lassen. Zwar können sich mitt- lerweile fast alle Haushalte ein Fernsehgerät leisten, jedoch bestehen Unterschiede in der Aus- führung des Fernsehers. Eine Arbeiterfamilie wird nicht den neuesten Fernseher im Wohn- zimmer stehen haben, was sich wahrscheinlich auf die materiellen Einschränkungen zurück- zuführen lässt. Auch können die Präferenzen des Fernsehsenders, sowie die Fernsehdauer nach Schicht variieren. Nur weil zur heutigen Zeit der Großteil der Gesellschaft einen Fernse- her besitzt, heißt es nicht, dass schichttypische Verhaltensweisen, in diesem Fall die Wahl des Fernsehprogramms und die Fernsehdauer, sich aufgelöst haben. Zudem kommen immer wie- der neue Technologien auf den Markt. Selbst wenn jetzt fast jedem Haushalt ein Fernseher zur Verfügung steht, werden neue Technologien eher von oberen Schichten gekauft und ver- wendet, da diese die materiellen Möglichkeiten besitzen, die neuste Technik zu erwerben. Die unteren Schichten können, wenn überhaupt, sich erst mit der Zeit die neusten Technologien leisten. Somit bleibt die schichttypische Benutzung von Technik und Medien bestehen.

Laut Burkart lässt sich wenig Evidenz für die Individualisierung finden (vgl. Burkart 1998: 118). Zudem sei die Überprüfung der Individualisierung erschwert, da sich methodische Prob- leme und zudem widersprüchliche Befunde finden lassen (vgl. Burzan 2008: 91-92). Neben den unschlüssigen Befunden zur Individualisierung steht die Annahme, dass die Indi- vidualisierung nicht alle gleichermaßen traf: Obere Schichten sind mehr individualisiert, denn sie besitzen ein Mehr an materiellen Wohlstand und auch an Bildung. Dadurch sind ihnen

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Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Haben sich Schichten in Deutschland aufgelöst? Ulrich Beck und Rainer Geißler im Vergleich
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen
Note
1,3
Autor
Jahr
2018
Seiten
12
Katalognummer
V446918
ISBN (eBook)
9783668837669
ISBN (Buch)
9783668837676
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schichte, Beck, Geißler
Arbeit zitieren
Kristina Hagen (Autor:in), 2018, Haben sich Schichten in Deutschland aufgelöst? Ulrich Beck und Rainer Geißler im Vergleich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/446918

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