Typologische Einordnung der Gemischten Wahlsysteme. Makro- und Mikroeffekte in der vergleichenden Forschung


Hausarbeit, 2018

16 Seiten, Note: 1.7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Die typologische Einordnung der Wahlsysteme
1.1. Mehrheits- und Verhältniswahl
1.2. Typologien zur Einordnung der gemischten Wahlsysteme
1.3. Die Typologie von Shugart und Wattenberg

2. Die Typologie von André Kaiser
2.1. Das Deutsche Bundestagswahlsystem und seine Einordnung
2.2. Die Kritik und Defizite der eindimensionalen Typologien
2.3. Die zweidimensionale Typologie von André Kaiser zur Erfassung von Mikroeffekten

3. Die Erfassung der Mikroeffekte des Deutschen Bundestagwahlsystems anhand der Typologie von Kaiser
3.1. Der Strategieeffekt bei gemischten Wahlsystemen
3.2. Strategisches Handeln im Kontext der Leihstimmenkampagnen bei den Bundestagswahlen von 1972 und

4. Fazit und Schlusswort

Literaturverzeichnis

Einleitung

Die Fachwissenschaftler*innen der Wahl- und Wahlsystemforschung sind sich einig, dass neben vielen weiteren Merkmalen eines demokratischen Verfassungsstaats zwei essen­tielle Bestandteile zu einem jeden zeitgenössischen demokratischen System gehören. Diese sind ein Parlament und ein demokratisches Wahlrecht, die die Repräsen­tation und die Verwirklichung des Willens des Volks zusammen mit weiteren strukturellen Elementen erst ermöglichen und somit die Legitimität und Rechtmäßigkeit des gesamten politischen Systems gewährleisten.

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges fand tatsächlich in fast allen Staaten der Welt eine Parlamentarisierung und die Einführung eines demokratischen Wahlrechts statt, auch wenn nicht in allen Ländern beide Elemente zusammen direkt umgesetzt wurden. In Großbritannien und Belgien beispielsweise wurde das Wahlrecht jeweils nach der Parlamen­tarisierung eingeführt, während in Deutschland und Frankreich beide gleich­zeitig eingeführt wurden.1

Umstritten ist allerdings die typologische Einordnung von Mischwahlsystemen, die die Zusammen­setzung der Parlamente durch die Bestimmung des Wahlsystems festlegen und deren technische Elemente ausschlaggebend für die angestrebte Funktion eines Wahl­systems sind.

Die verfügbaren technischen Elemente lassen sich miteinander in vielfältiger Weise zu zahlreichen unterschiedlichen Typen von Wahlsystemen kombinieren.2

Die demokratischen Systeme unterscheiden sich folglich auch anhand ihrer Wahl­systeme und deren vorgesehenen und erwarteten Funktionsweisen voneinander.

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich explizit mit der typologischen Einordnung der Kategorie der gemischten Wahlsysteme. Die typologische Einordnung dieser Mischwahlsysteme ist insofern relevant, weil erstens zwischen den führenden Vertreter*innen des Fachs kein Konsens über eine einheitliche Einordnung existiert, teilweise erfolgt sogar eine gegensätzliche Einordnung einzelner Systeme.3 Zweitens münden viele Bestrebungen der etablierten Demokratien um eine Reform ihrer Wahl­systeme in der Einführung von Varianten gemischter Wahlsystemen, aber auch die Transit­demokratien wie z.B. in Osteuropa und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion entscheiden sich zunehmend für diese Form von Wahlsystem. Drittens sind die gemischten Wahl­systeme für die Politikwissenschaft und die Vergleichende Lehre von großer Bedeutung, da hier die zahlreichen Effekte der unterschiedlichen Elemente auf der Mikro- und Makroebene hervorragend analysiert werden können. Das deutsche Bundestags­wahlsystem mit der Doppelkandidatur und der Mischung von Selektions­regeln sorgt beispielsweise immer wieder für wissenschaftliche Auseinandersetzungen, was seine Einordnung und Effekte betrifft.

Deshalb will die vorgelegte Arbeit die Frage beantworten:

Warum ist die zweidimensionale Typologie der gemischten Wahlsysteme von André Kaiser besser als die eindimensionalen Typologien geeignet, die gemischten Wahlsysteme einzuordnen und ihre Mikroeffekte, insbesondere den Strategieeffekt, für die wissenschaftliche Zwecke zu untersuchen? Wie lässt sich diese Annahme empirisch am Beispiel der „Leihstimmenkampagnen“ der deutschen Bundestagswahlen von 1972 bzw. 1982 belegen?

Als Grundlage der nun folgenden Erörterung dient der typologische Vorschlag von André Kaiser, den Kaiser 2002 in einem gleichnamigen Aufsatz in der Zeitschrift für Politik­wissenschaft 12(4) dargelegt hat. Zudem werden weitere Texte und Typologien einbezogen, um einen fundierten Vergleich sowie eine wissenschaftliche Einordnung des Vorschlags von Kaiser zu ermöglichen.

Das erste Kapitel wird die beiden Grundformen der Wahlsysteme, Mehrheits- und Verhältnis­wahlrecht, vorstellen, einschließlich der typologischen Einordnung der Kategorie der gemischten Wahlsysteme nach der Auffassung einiger führender Fachwissenschaftler*innen.

Das zweite Kapitel befasst sich mit der typolo­gischen Einordnung von André Kaiser, die auch scharfe Kritik an den eindimensionalen Typologien ausübt und die seines Erachtens defizitären eindimensionalen Typologien durch die Einführung einer zusätzlichen Dimension ergänzt.

Im Zuge dessen wird das deutsche Bundestagswahlsystem als empirisches Beispiel eines gemischten Wahlsystems analysiert. Abschließend richtet das dritte und letzte Kapitel seinen Fokus auf den durch die Spezifika des deutschen Bundestags­wahlsystems erzeugten Strategieeffekt und auf die Rolle der „Leihstimmenkampagnen“ der SPD und CDU für die FDP bei den Bundestagswahlen von 1972 und 1982.

1. Die typologische Einordnung der Wahlsysteme

Das Wahl­system umfasst in einem weiten Sinne alles, was den Wahlprozess betrifft, das Wahlrecht und die Wahlorganisation, während es in einem engen Sinne lediglich die technischen Verfahren enthält, die die Wähler*innenpräferenzen in Stimmen umwandeln und diese schließlich in Mandate für die Zusammensetzung des Parlaments. Freilich ist der enge Begriff für die wissenschaftliche Erforschung der politischen Auswirkungen von Wahlsystemen und der politischen Debatten über Reformen der Wahl­systeme besser geeignet.4

1.1. Mehrheits- und Verhältniswahl

Grundsätzlich bezwecken die Wahlen in einer Demokratie entweder die Schaffung eines getreuen Abbilds der wahlberechtigten Bevölkerung im Parlament, oder aber die Bildung einer Parlamentsmehrheit, die zu einer handlungsfähigen Regierung führen soll. Auf dieser Grundlage galten die beiden klassischen Grundtypen, die Mehrheits- und die Verhältniswahl, über viele Jahre hinweg als Obergrundformen für alle Wahl­systeme. Staaten bzw. ihre Regierungen entscheiden sich i.d.R. rational für ein Wahl­system, je nachdem, welche Funktionalität sie anstreben, die von den jeweiligen gesellschaftlichen Gegebenheiten abhängt, wie z.B. die ethnische Zusammensetzung des Volks, die ggf. vorhandenen ethnischen Minderheiten und die Verankerung ihrer Rechte im Wahlsystem, die jeweiligen historischen Erfahrungen und der Grad der politischen Stabilität des Landes.

Diese beiden reinen Formen der Wahlsysteme sind zwar in einigen Ländern zu finden, wie beispielsweise die Mehrheitswahl des britischen Unterhauses, jedoch etablieren sich seit Beginn des Reformschubs Anfang der 90er Jahre zunehmend eine Reihe von (gemischten) Wahlsystemen in vielen Regionen der Welt,5 die weder klar zum Mehrheits- noch klar zum Verhältniswahlrecht zählen6, beispielsweise in Bolivien, Japan, Italien, Neuseeland und Venezuela. Die Kombination dieser Mischformen bezweckt es, möglichst die jeweiligen Vorteile der Mehrheits- und der Verhältniswahl in einem System zu kombinieren.7

1.2. Typologien zur Einordnung der gemischten Wahlsysteme

Es herrscht, wie bereits erwähnt, unter Fachwissenschaftler*innen keine Einigung hinsichtlich einer einheitlichen Konzeption zur Einordnung der gemischten Wahl­systeme. Diese Uneinigkeit liegt hauptsächlich an den extrem großen Variationen der Wahl­systeme in dieser Kategorie, die sich weltweit voneinander unterscheiden, was selbst die renommierten Wahlsystemforscher*innen vor eine Herausforderung stellt.

Philip Manow und Thomas Zittel haben sich an diese Problematik einer Definition heran­gewagt und veröffentlichten in einem gemeinsamen Aufsatz die folgende, sehr allgemeine Definition der Mischwahlsysteme:

„Mischwahlsysteme kombinieren zwei wahlsystemische Komponenten, von denen unterschiedliche Anreize auf Akteurshandeln ausgehen. In der ersten Komponente herrscht die Logik der Mehrheitswahl, da Kandidaten in Einerwahlkreisen nach dem Majorzprinzip gewählt werden. In der zweiten Komponente herrscht die Logik der Verhältniswahl, da Kandidaten auf Parteilisten nach dem Proporzprinzip gewählt werden. Darüber hinaus unter­scheiden sich Mischwahlsysteme in weiteren Punkten.“8

Allgemein lassen sich die typologischen Klassifikationen der gemischten Wahlsysteme in zwei Obertypen unterteilen:

- Die traditionellen Einordnungen mit einer dichotomisch angelegten Outputdimension (Makroebene); d.h. es findet eine Gegenüberstellung und Unterscheidung von Mehrheits- und Verhältniswahlsystemen statt.9
- Die typologischen Einordnungen auf Grundlage zweier Ordnungsdimensionen, der Input- und der Outputdimension, mit Augenmerk sowohl auf der Mikro- und der Makroebene und ihrer Effekte.10

Dahingehend verwenden beispielsweise Louis Massicotte und André Blais, zwei führende Wahlforschungswissenschaftler, in ihrer typologischen Einordnung den Begriff „gemischte Wahlsysteme“ als Oberbegriff für all diejenigen Wahlsysteme, die die Selektionsregeln der Mehrheits- und Verhältniswahl in Kombination nutzen.11

Dem zweiten Obertyp entsprechend ordnet der Politologe Dieter Nohlen nur die parallelen Wahlsysteme (in der deutschen Literatur auch als „Grabenwahlsysteme“ bezeichnet) als gemischte Wahlsysteme ein, d.h. er kategorisiert ein System nur dann als gemischtes Wahlsystem, wenn die beiden Selektionsregeln der Mehrheits- und Verhältniswahl in diesem System unabhängig voneinander und ohne wechselseitige Anrechnung kombiniert werden.12

1.3. Die Typologie von Shugart und Wattenberg

Ein präziseres eindimensionales Konzept für die Klassifikation der gemischten Wahl­systeme wurde von Shugart und Wattenberg entwickelt. Sie definieren Mischwahl­systeme wie folgt: „As a subset of the broader category of multiple-tier electoral systems. “13

Gemäß dieser Definition sind gemischte Wahlsysteme eine Variante von mehrstufigen Systemen; dabei werden die Parlamentssitze in mindestens zwei Verrechnungs­wahlkreisen vergeben.14 Das bedeutet, dass in Einerwahlkreisen eine Personenwahl nach Mehrheitswahlregeln stattfindet, und mindestens in einem anderen Mehrpersonen­wahlkreis eine Listenwahl nach Verhältniswahlregeln.15 Zudem unterscheidet die Typologie von Shugart und Wattenberg zwei Subtypen dieser Mischwahlsysteme. Diese unterscheiden sich darin, ob die Stimmergebnisse und die sich ergebenden Sitzzahlen aus der Kandidaten- und der Listenwahl miteinander kombiniert werden, und falls ja, wie und nach welchen Regeln.16

Diese beiden Kriterien ergeben innerhalb der Kategorie der Mischwahlsysteme mehrere Varianten, die in zwei Subtypen von Mischwahlsystemen eingeordnet werden können:17

1. Gemischte Mehrheitswahlsysteme, auch „mixed-member majoritarian systems“ (MMM) oder mixed-member majoritarian systems with partial compensation“: Hier werden die Sitze parallel, also unabhängig voneinander, nach den Selektionsregeln der Mehrheits- und Verhältniswahl ohne eine wechselseitige Verrechnung vergeben, d.h. die Wähler*innen haben zwei Stimmen, die jeweils in einer Mehrheitswahl und in einer Verhält­niswahl gezählt werden.18 Nach der tabellarischen Einordnung von Shugart und Wattenberg zählen zu diesem Subtyp die Wahlsysteme Japans, Georgiens, Armeniens, Litauens, Mazedoniens, Thailands und der Ukraine.19
2. Gemischte Verhältniswahlsysteme, auch „mixed-member-proportional-systems“ (MMP): Die Wahlsysteme dieses Subtyps haben im Prinzip den gleichen strukturellen Aufbau wie die MMM-Wahlsysteme, mit dem relevanten Unterschied, dass bei der Mandatsvergabe eine Verrechnung beider Selektionsregeln stattfindet.

[...]


1 Jesse/Brettschneider, 1994, S. 176–177.

2 Nohlen, 2002, S. 250.

3 Rose, 2000. Hier wurden von drei führenden Vertretern des Fachs (Louis Massicotte, André Blais, Dieter Nohlen) drei total unterschiedliche Konzepte für die Einordnung der gemischten Wahlsysteme vorgelegt.

4 Nohlen, 2002, S. 237f.

5 Kaiser, 2002, S. 1548.

6 Jesse/Brettschneider, 1994, S. 175.

7 Tiemann, 2006, S. 147.

8 Manow/Zittel, 2008, S. 142.

9 Kaiser, 2002, S. 1554.

10 Kaiser, 2002, S. 1545.

11 Rose, 2000, S. 166.

12 Rose, 2000, S. 5.

13 Shugart/Wattenberg, 2001, S. 10.

14 Kaiser, 2002, S. 1553.

15 Vgl. Shugart/Wattenberg 2005, S. 11.Wieso „vgl.“? ist doch ein normaler Beleg, oder?

16 Kaiser, 2002, S. 1554.

17 Kaiser, 2002, S. 1554.

18 Tiemann, 2006, S. 130.

19 Shugart/Wattenberg, 2005, S. 15.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Typologische Einordnung der Gemischten Wahlsysteme. Makro- und Mikroeffekte in der vergleichenden Forschung
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Otto Suhr Institut)
Veranstaltung
Parteien- und Wahlsysteme
Note
1.7
Autor
Jahr
2018
Seiten
16
Katalognummer
V446039
ISBN (eBook)
9783668841390
ISBN (Buch)
9783668841406
Sprache
Deutsch
Schlagworte
parteien, Systeme, Wahlsystem, Parteisysteme, gemische wahlsysteme, gemischt, typologie, Wahlforschung, wahlsysteme, politische systeme, deutsches wahlsystem, mehrheitswahl, verhältniswahl, leihstimmen, Leihstimmenkampagnen
Arbeit zitieren
Jian Omar (Autor:in), 2018, Typologische Einordnung der Gemischten Wahlsysteme. Makro- und Mikroeffekte in der vergleichenden Forschung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/446039

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