Methodologischer Individualismus. Begriffsklärung, Entwicklung und Kritik


Hausarbeit, 2016

16 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Hauptströmungen und Begriffsentstellung
2.1 Vertragstheorie
2.2 Klassische Ökonomie
2.3 Neoklassische Theorie und österreichische Schule
2.4 Poppers methodologischer Individualismus
2.5 Austauschtheorie und die Theorie der rationalen Entscheidung

3 Einordnung

4 Kritik
4.1 Kritik am starken methodologischen Individualismus
4.2 Kritik am schwachen methodologischen Individualismus

5 Fazit

6 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Eine der grundlegenden Debatten in den Sozialwissenschaften und der Philosophie ist die zwischen den methodologischen Individualisten und den methodologischen Hölisten. Dabei geht es um zwei gegensätzliche Ansichten.

Der methodologische Holismus unterstellt sozialen Phänomenen (wie etwa Vereinen, Genossenschaften oder Systemen wie dem politischen Apparat) mehr zu sein, als der Zusammenhang ihrer Teile. Ein System funktioniert demnach eigenständig als Ganzes. Kurz: Ein kollektives Phänomen kann nicht durch das Verhalten Einzelner erklärt werden. Typische Vertreter sind unter anderen Systemtheoretiker.

Als Gegenposition dazu fungiert der methodologische Individualismus, dessen Hauptaussage von Hans Lenk wie folgt definiert wird:

"Der Hauptinhalt der These des methodologischen Individualismus ist die Behauptung oder der Anspruch, alles Wissen über soziale Phänomene sei nur aus dem Wissen über Individuelles, d. h. über Dispositionen, Haltungen, Interessen und Verhaltensweisen von Individuen zu begründen, abzuleiten, zu bestätigen oder in entsprechenden individualistischen Begriffen definitorisch zu erfassen." (Lenk 1977: 34)

Der methodologische Individualismus geht also davon aus, dass alle sozialen Phänomene durch das Verhalten Einzelner (durch seine Bestandteile) erklärt werden können. Von Weber in die Soziologie gebracht (Udehn 2002: 485), hatte sich der Begriff zuvor in der Philosophie und Ökonomie etabliert.

Bei dem methodologischen Individualismus handelt es sich jedoch keineswegs um eine einheitliche, feste Position. Ihre Ursprünge, d. h. die ersten Fassungen der Vertragstheorie (siehe Kapitel 2.1), sind bis auf die Antike zurückzuführen und die Position des methodologischen Individualismus hat sich seit dem zu zahlreichen unterschiedlichen Strömungen entwickelt, die sich teilweise überlappen und durchaus individualistische und holistische Elemente in sich vereinen können.

Wie sich zeigen wird, ist dabei ein Trend dazu zu beobachten zunehmend mehr holistische Elemente miteinzubeziehen.

Ziel dieser Hausarbeit soll es sein, die Entwicklung des Individualismus mit seinen wichtigsten Strömungen festzuhalten (Kapitel 2) und diese möglichst sinnvoll zu katalogisieren (Kapitel 3), sowie die wichtigsten Kritikpunkte an dieser Grundposition zu besprechen (Kapitel 4).

Anschließend werden die Ergebnisse in einem Fazit zusammengefasst (Kapitel 5).

2 Hauptströmungen und Begriffsentstehung

In diesem Kapitel wird eine Übersicht über die wichtigsten Vertreter der unterschiedlichen Strömungen des methodologischen Individualismus gegeben. Dabei richte ich mich nach dem Aufsatz von Lars Udehn "The Changing Face of Methodological Individualism" (2002), der bereits einen guten Überblick zu dem Thema gegeben hat, erwähne aber aus Platzgründen nur die wichtigsten Vertreter der mir am wichtigsten erscheinenden Strömungen.

2.1 Vertragstheorie

Seit der Antike vorhanden, um das Aufkommen von gesellschaftlicher Ordnung und von Institutionen zu erklären (Udehn 2002: 480), wurde die Vertragstheorie im lóten und 17ten Jahrhundert von Hobbes, Locke und anderen wieder aufgegriffen (Wulff 2003).

Zentral für die Vertragstheorie ist die Annahme eines "Naturzustandes", der nach Hobbes durchweg pessimistisch beleuchtet wird. Er beschreibt diesen vorgesellschaftlichen Zustand als einen rechtsfreien Raum, der durch die Abwesenheit von Kultur, Kunst, Gesellschaft und jeder Form von industrieller oder agrikultureller Entwicklung gekennzeichnet ist und in dem das Leben der beteiligten Akteure als "solitary, poore, nasty, brutish and short" (Hobbes 1968: 186, zitiert nach: Udehn 2002: 480) beschrieben wird. Demnach ist es nicht verwunderlich, dass die Akteure nach einem Weg suchen, diesen unzumutbaren Zustand aufzulösen und gemeinsam einen gesellschaftlichen Vertrag eingehen (Gesetze und Verhaltensnormen schaffen), der in die Benennung eines Souveräns mit entsprechender Macht und Befugnissen, um das Einhalten der Gesetze zu überwachen, übergeht.

Dieser Ansatz ist insofern ein gutes Beispiel für frühen methodologischen Individualismus, als dass die komplette Gesellschaft mit all ihren Institutionen durch das gemeinsame Bestreben und Einverständnis der einzelnen Akteure erklärt und hergeleitet wird. Die Individuen handeln dabei rational und eigennützig (Udehn 2002: 480f), was einen ersten Verweis zu der Rational-Choice Theorie darstellt, welche später (Kapitel 2.5) näher behandelt wird.

Locke greift die Theorie von Hobbes auf uns arbeitet sie in einigen Punkten aus. So beinhaltet seine Vorstellung von einem Naturzustand ein "Naturrecht", nach dem die

Menschen im Naturzustand gleichgestellt und frei sind (Locke 1690, chapter 2, section 6). Schon im Naturzustand bildet sich das Eigentum und eine primitive, auf Gewalt basierende Rechtsform, welche mit den Ungleichheiten und dem Neid wächst und unerträglich wird, sodass sie auf dauer durch einen Gesellschaftsvertrag ersetzt wird.

Auch hier bleibt die Theorie rein individualistisch, da die Akteure auf Basis ihrer eigenen Vorstellungen die Gesellschaft vollständig formen. Locke räumt den Bürgern dabei größere Rechte bei der Umgestaltung einer illegitimen Regierung ein und ergänzt die Theorie um das Prinzip der Gewaltenteilung (Locke 1823: 167ff).

Vor dem Hintergrund der Konflikte zwischen Parlament und Krone während der Aufklärung mögen die unterschiedlichen Positionen von Hobbes und Locke auf die Ideale des Absolutismus und Liberalismus zurückzuführen sein und seinerzeit vor allem als politische Argumente fungiert haben. Ihr individualistischer Zugang jedoch ist sich sehr ähnlich und dient bis heute als Musterbeispiel für den methodologischen Individualismus, auch wenn die Vertragstheorie in dieser Form größtenteils von anderen Vorstellungen abgelöst wurde und lediglich als Basis weiterer Überlegungen dient (Udehn 2002: 481).

Ein Beispiel für das Wiederaufkommen der Vertragstheorie bildet die "Theorie der Gerechtigkeit" (1971) von John Rawls, welche die Vorstellung vom Naturzustand verändert und viel Kritik erfahren hat. Auf diese wird hier nicht näher eingegangen, da die Positionen von Hobbes und Locke bereits gute Beispiele für einen frühen methodologischen Individualismus abgeben.

2.2 Klassische Ökonomie

Aus der Vertragstheorie entstanden und anfänglich noch weitestgehend mit dem wirtschaftlichen Liberalismus identisch wurde die klassische Ökonomie als Disziplin begründet und hatte Adam Smith und John Stuart Mill als wichtigste Vertreter (Holm 2003).

Neu ist die Ansicht, dass gesellschaftliche Phänomene sich spontan als unintendierte Konsequenzen von intentionalen Handlungen bilden (Udehn 2002: 481) und der vorgesellschaftliche Zustand nicht im Vordergrund steht. Individuen werden als soziokulturelle Wesen betrachtet, "[...] shaped by social institutions and by the history of society" (Udehn 2002: 482).

Diese Wechselwirkung zwischen von Individuen geformter Gesellschaft und der Gesellschaft, welche das Individuum formt, wurde oft wegen seiner Widersprüchlichkeit kritisiert (siehe Kapitel 4).

Dieser Ansatz wird von Lars Udehn als institutioneller Individualismus bezeichnet, gerade wegen des Einflusses, der den sozialen Institutionen zugesprochen wird (Udehn 2002: 482).

Während Udehn in Adam Smith einen typischen Vertreter des institutioneilen Individualismus sieht, bildet Mill, innerhalb der klassischen Ökonomie, einen Gegensatz, der mehr individualistische Elemente aufweist.

Mill argumentierte, dass die kausale Erklärung, der Regelmäßigkeiten, nach denen soziale Phänomene geformt werden, psychologisch erfolgen muss (Udehn 2002: 482). Der Psychologismus bildete weiterhin noch einen Streitpunkt in der Debatte um den Individualismus.

Mills Position wird auch als psychologischer Individualismus bezeichnet (Agassi 1960, zitiert nach: Udehn 2002: 482).

Bereits hier ist auffällig, dass mit der weiteren Ausarbeitung des methodologischen Individualismus zunehmend holistischere Elemente mit einbezogen werden und neue Kritikpunkte an der Position entstehen.

2.3 Neoklassische Theorie und österreichische Schule

In den 1870ern startete die neoklassische Ökonomie und erklärte ökonomische Phänomene durch die subjektiven Erwägungen des Einzelnen (Udehn 2002: 482). Innerhalb der Neoklassik gab es zahlreiche mehr oder weniger individualistische Strömungen. Die Individualistischste, nach Udehn (2002: 482), war die "Theory of general equilibrium" oder das allgemeine Gleichgewichtsmodell, dass von Leon Walras entwickelt und von Kenneth Arrow und Gerald Debreu zu dem Arrow- Debreu-Gleichgewichtsmodell weiterentwickelt wurde.

Demnach handeln Individuen (hier Konsumenten und Produzenten) rational. Während Walras versuchte die Theorie von allen institutioneilen Einflüssen und sozialen Beziehungen zu befreien und die Ökonomie als "[...] natural science of things, where isolated individuals respond to impersonal prices" (Udehn 2002: 482f) zu deklarieren, entwickelten Arrow und Debreu einen eigenen Zugang in dem alle Aktionen von Individuen, als von drei Variablen abhängig betrachtet werden:

a. ) die Psyche des Individuums
b. ) die physische Umgebung des Individuums
c. ) die Aktionen anderer Individuen

Dabei wird das Verhalten einer Gruppe als Aggregation des Verhaltens der Individuen verstanden und soziale Institutionen tauchen demnach nur als endogene Variablen auf (Udehn 2002: 483).

Dieser Ansatz ist psychologistisch, da hier alles Gesellschaftliche auf die natürliche Umgebung und die Psyche des Individuums (der Individuen) reduziert wird, und lehnt gleichzeitig alles Holistische oder Institutionalistische ab - eines der besten Beispiele für einen "starken" methodologischen Individualismus.

Als Teil der Neoklassik, wenn auch weit ab vom Mainstream, wird die Österreichische Schule btrachtet (Udehn 2002: 484).

Der Begriff des Gleichgewichts spielte bei der österreichischen Schule keine so große Bedeutung, da die Ökonomie hier als Prozess gesehen wurde, der nie ein Gleichgewicht erreicht (Udehn 2002: 484).

Als Begründer der österreichischen Schule gilt Carl Menger, welcher versuchte die Ökonomie auf ihre einfachsten Bestandteile zu reduzieren. Sein "Atomismus" hatte zur Aufgabe die Gesetzesmäßigkeiten zu finden, welche menschliches Handeln strukturieren, um ökonomische Phänomene verständlich zu machen (Udehn 2002: 484; Menger 1963: 92). Diese individualistische Herangehensweise ergänzte er mit einer ebenso individualistischen Erklärung sozialer Institutionen. Nach Menger entstehen soziale Institutionen (wie Familien, Staaten, Währungen etc.) auf natürlichem Wege als "[...] the unintendet end-result of a sequenze of actions, which are often intentional and rational in themselves" (Udehn 2002: 484). Somit können komplexe soziale Phänomene ausschließlich durch ihre Einzelteile, die Handlungen von Individuen, erklärt werden.

Obwohl der Begriff methodologischer Individualismus erst von Joseph Schumpeter in seinem als Habilitationsschrift erschienenen Werk "Wesen und Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie" (1908) eingeführt wurde, gilt Carl Menger als Pionier des methodologischen Individualismus (Udehn 2002: 484).

Schließlich übertrug Max Weber den Begriff des methodologischen Individualismus auf die Soziologie. Er benutzte den Begriff des "sozialen Handelns", als Hauptgegenstand der Soziologie, welcher eine Handlung beschrieb, die in ihrem vom Handelnden subjektiv gemeinten Sinn, sich an anderen Akteuren orientiert und sie miteinbezieht (Berger 2004). Dieser Einbezug der Handlungen anderer stellt einen Unterschied zur Neoklassik dar (Udehn 2002: 486).

Weber, von Mises und Heyek vertraten den Standpunkt, dass die Soziologie und Ökonomie als kulturelle Wissenschaften auf kulturellen, also subjektiv hergestellten, Phänomenen beruhen. Demnach müsste man, um soziale Institutionen zu beschreiben, die Individuen mit ihren Einstellungen und Glaubenssätzen beschreiben. Somit wurde der methodologische Individualismus zu einer ontologischen These über den grundlegenden Charakter der Gesellschaft. Lars Udehn bezeichnet diesen Vorgang als den "ontologischen Twist" (2002: 487).

Diese Arbeiten hatten alle ein intersubjektives Verständnis von Gesellschaft gemein oder anders ausgedrückt: Sie gingen von kollektiv gültigen Wahrheiten oder geteilten Glaubenssätzen aus. Demnach sind die Deutungen von Mitgliedern gleicher sozialer Gruppen gleich oder ähnlich (Udehn 2002: 487; Blume 2003).

2.4 Poppers methodologischer Individualismus

Eine neue Art des Individualismus bildet der institutioneile Individualismus. Zurückzuführen ist er auf das Bestreben von Karl Popper Institutionalismus und Individualismus zu vereinigen. Popper lehnte den Psychologismus vorwiegend ab und erstellte eine eigene Methode, die sich vor allem auf die Situationslogik und den Institutionalismus stützte (Udehn 2002: 488). Dabei ist die Situationslogik größtenteils mit der Rational-Choice Theorie vereinbar (siehe Kapitel 2.5) und der Institutionalismus besteht in der Annahme, dass die Handlungen von Individuen nicht erklärt werden können, ohne soziale Institutionen einzubeziehen (Popper [1945] 1966: 90 zitiert nach: Udehn 2002: 488).

Dieses Vorhaben trennte die Individualisten in zwei Lager. Die psychologischen Individualisten, die weiterhin am Psychologismus festhielten und deren Hauptvertreter J.W.N. Watkins und die institutioneilen Individualisten, dessen Hauptvertreter Joseph Agassi und Ian c. Jarvie sind (Udehn 2002: 488).

Laut Watkins sollte Soziales aus zwei Faktoren abgeleitet werden:

a. ) Prinzipien, die das Verhalten des Individuums Steuern
b. ) Beschreibungen der Situationen (dabei sind die Institutionen von der Situationsbeschreibung ausgeschlossen und auf die Einstellungen gegenüber anderen Individuen und Dingen reduziert) (Udehn 2002: 488).

[...]

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Methodologischer Individualismus. Begriffsklärung, Entwicklung und Kritik
Hochschule
Universität Bielefeld
Note
1,0
Autor
Jahr
2016
Seiten
16
Katalognummer
V445101
ISBN (eBook)
9783668818507
ISBN (Buch)
9783668818514
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Methodologie, Individualismus, Holismus, Luhmann, Popper, Österreichische Schule, Austauschtheorie, Vertragstheorie, Klassische Ökonomie
Arbeit zitieren
Alexander Reimann (Autor:in), 2016, Methodologischer Individualismus. Begriffsklärung, Entwicklung und Kritik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/445101

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