Rezeption und Interpretation des Nibelungenliedes im Nationalsozialismus


Bachelorarbeit, 2010

36 Seiten, Note: 2,4

Jana Mussik (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Rezeptionsgeschichte
2.1 Wiederentdeckung ab 1755
2.2 Die „Dolchstoßlegende“
2.3 Die Wegbereiter
2.3.1 Richard Wagner
2.3.2 Fritz Lang

3. Das Nibelungenlied im Nationalsozialismus
3.1 Lyrik
3.1.1 Hans Henning von Grote
3.1.2 Wilhelm von Scholz
3.2 Literatur
3.2.1 J. D. Blaßmann
3.2.2 Hans F. K. Günther
3.3 Politik

4. Das Nibelungenlied als Nationalepos
4.1 Zweifel am Epos
4.2 Missbrauch

5. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Uns ist in alten m ӕ ren wunders vil geseit“[1] – mit diesen Worten eröffnet sich die ruhmreiche Welt der Nibelungen. Das Werk der 39 Aventiuren, gegliedert in die Handlungen um Siegfried und Kriemhilds Rache, mit den drei „Burgondenkönigen als Hauptfiguren“[2] entstand ca. 1200. Das Geheimnis um den Autor konnte bis heute nicht geklärt werden.

Siegfried und sein Bad im Drachenblut, die beinahe unbesiegbare Brünhild, der Hort der Nibelungen – mehr Stichworte sind im kollektiven Gedächtnis der Generationen nach den Weltkriegen und auch nach der deutschen Wiedervereinigung meistens nicht mehr übrig. In frühen Grundschulzeiten kurz angesprochen, begegnet das Nibelungenlied [3] auch dem Interessier­ten erst wieder im Studium der älteren deutschen Literatur. Die wenigsten wissen mehr um die Gestalt des Siegfried, der aus Xanten kam, den Streit der stolzen Königinnen Brünhild und Kriemhild oder die Liebe Gunthers zu einer Frau, die eigentlich nicht für ihn bestimmt sein wollte. Doch dies sah vor einiger Zeit noch ganz anders aus. Tatsächlich zählte das NL zu den populärsten Werken Deutschlands. Es handelt von Liebe, Heldentum, Verrat und Gier – berühmte Motive, wie sie in vielen großen Geschichten vorkommen. Im Laufe der Jahrhunderte veränderte sich die Bedeutung des Textes ständig, im Mittelalter wohl berühmt, später ganz vergessen, plötzlich wiederentdeckt, stieg sein Stern ab dem 18. Jh. immer im Zusammenhang mit der politischen Situation der Deutschen und obwohl es in den meisten Tagen nie in Hinblick auf seinen literarischen Gehalt behandelt wurde, ist „innerhalb der letzten 200 Jahre […] kein Text so oft rezipiert und dabei mißbraucht worden“[4] wie das NL. Schon frühzeitig wurde es zu einem Symbol für Sehnsucht und nationale Ehre und die absolute Steigerung dessen fand sich letzten Endes im Nationalsozialismus. Mit der Machtergreifung Adolf Hitlers am 30. Januar 1933 veränderten sich nicht nur die politischen Verhältnisse, sondern auch im direkten Bezug die Bedingungen und Intentionen zur Rezep­tion des NL. Doch wie genau sah das aus? Im Rahmen der Arbeit möchte ich mich genau mit dieser Fragestellung auseinandersetzen.

Um die Ausgangssituation der Nationalsozialisten besser nachvollziehen zu können, möchte ich zunächst auf die Rezeptionsgeschichte des NL ab dem Beginn seiner Wiederentdeckung im Jahre 1755 eingehen. Auch die Interpretationen aus der Zeit des 1. Weltkrieges und die damit verbundene „Dolchstoßlegende“ spielen bei der nachfolgenden Rezeption eine große Rolle und sollen die Frage beantworten, inwieweit schon in diesen Tagen die Wege für einen derartigen Missbrauch geebnet wurden. Dabei möchte ich insbesondere auch auf das Bühnen­stück Der Ring des Nibelungen von Richard Wagner und den etwas später entstandenen Film Die Nibelungen von Fritz Lang eingehen.

In zweiten Schritt möchte ich gezielt die Rezeption zur Zeit des Nationalsozialismus themati­sieren. Anhand der Interpretationsansätze in der Lyrik lassen sich sehr gut die Rolle Siegfrieds und vor allem die Bedeutungsveränderung der Figur Hagens veranschaulichen. Dabei beziehe ich mich auf die lyrischen Vertreter Hans Henning von Grote und Wilhelm von Scholz. Im Anschluss möchte ich anhand der Texte von J. D. Blaßmann und Hans F. K. Günther zeigen, dass auch in der Literatur immer wieder Bezüge zum NL her­gestellt wurden. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Verwendung des NL in der Politik selbst, spätestens anhand der Rede von Hermann Göring zum 10. Jahrestag der Machtergreifung sollte deutlich werden, was es damit auf sich hat, wenn vom Missbrauch des NL die Rede ist.

Im dritten Teil möchte ich mich dann mit der Frage beschäftigen, inwieweit sich das NL über­haupt zum Nationalepos eignet, zu dem es im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte gemacht wurde. Denn selbst in seiner glanzvollsten Stunde gab es bereits Zweifel an der Tauglichkeit zum Epos. Im letzten Punkt soll noch kurz behandelt werden, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass dieser mittelalterliche Text solchermaßen sinnentstellt und mit derartiger Leichtigkeit für ideologische Zwecke genutzt werden konnte.

Die Arbeit soll die Rezeption einer beispiellosen Zeit darstellen, einer Zeit, die Menschen gleichermaßen heroisierte, wie sie sie verachtete, einer Zeit, in der alles und jeder einem höheren Zweck dienlich zu sein hatten – sogar das NL.

2. Rezeptionsgeschichte

Der Weg des NL durch die Zeit deutscher Geschichte ist einzigartig, es durchquerte sämt­liche Phasen, die ein literarisches Werk nur erfassen kann – von jahrhundertelanger Vergessenheit bis zur größten Popularität. Letzteres ist wohl ohne Zweifel dem National­sozialismus zuzuschreiben. Jedoch lässt sich keineswegs behaupten, die Nationalsozialisten hätten sich ganz gezielt dieses Werk dafür auserkoren, um es zu verbreiten und für ihre Zwecke zu nutzen. Vielmehr war schon eine frühangelegte Verkettung der politischen Ereig­nisse in Deutschland und Europa dafür verantwortlich, die es den Nationalsozialisten so leicht machte, ihre Ziele u.a. auf der Grundlage eines deutschen Epos zu verfolgen.

2.1 Wiederentdeckung ab 1755

Beinahe verschollen, schlummerte das NL in der Bibliothek des Grafen von Hohenems und wurde erst im Juni 1755 vom Lindauer Arzt Jakob Hermann Obereit wiederentdeckt. Er stieß dabei auf die heute weitverbreitete *C-Fassung und schon zwei Jahre später gab es einen ersten Teildruck. 1782 folgte dann eine Gesamtausgabe und diese beiden Ausgaben sollten die Grundlage für die zukünftige Nibelungenrezeption bilden. Es ist noch zu erwähnen, dass das NL auch bis 1755 existierte, jedoch war die Dichtung eher als eine „altdeutsche Curiosi­tät im Bewußtsein einiger weniger“[5] bekannt. Doch schon unmittelbar nach der Entdeckung wurde das Werk bereits historisch bedingt interpretiert. Es galt als heimisch und „Wurzel deutscher Kraft […], als Urkunde deutschen Wesens und Jungbrunnen der Germania […].“[6]

Schon knapp 50 Jahre nach der Wiederentdeckung wurde es als ein nationales Epos auf­gefasst und sehr gelobt. Wobei zu bedenken ist, dass sich diese Nibelungenbegeisterung zunächst nur auf einen kleinen Kreis beschränkte, eine größere Breitenwirkung gab es der­zeit noch nicht. 1810 definierte Friedrich Heinrich von der Hagen[7] das Stück erstmals als Nationalepos, auch wenn er sich dabei wohl eher auf den ersten Teil des Textes bezog. Doch letztlich sollten es die Romantiker sein, die dem Werk einen neuen Charakter ein­bringen würden. Schon frühzeitig suchten die Deutschen nach einer nationalen Identität, sie litten in der Zeit des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) und noch schmerzlicher unter der folgenden französischen Fremdherrschaft. Die Romantiker sahen in dem Werk eine Rückbesinnung auf die Geschichte der Deutschen im Mittelalter - einer „goldene[n] Zeit“[8] in ihrer Betrachtungsweise und forderten eine vermehrte Aufnahme des Stoffes in den Schul­unterricht. Friedrich Schlegel bezeichnete das NL als ein „Produkt aus poetischer Vorzeit.“[9] Die Deutschen suchten dringend nach einem Identifikationsmuster, so wie es sie auch bei den Griechen oder Franzosen gab. Napoleon hatte den französischen Nationalgedanken im eigenen Land sogar gefördert und so wurde bewusst der Nationalcharakter geschult. Auch die Deutschen machten sich die Nationalerziehung zur nationalpolitischen Aufgabe und so schritt auch die Suche nach einem eigenen Epos fort. Doch welches deutsche Werk ließe sich mit dem französischen Chanson de Roland oder der griechischen Ilias vergleichen? Das NL schien in vielen Punkten zutreffend zu sein und so bekam es einen ganz neuen Stellen­wert. Es wurde mit den Werken Homers, dem absoluten Maßstab für ein Nationalepos, verglichen und auf diese Weise gerechtfertigt und plausibel gemacht. Der Racheakt Kriem­hilds am Hofe von Etzel stellte auf einmal das deutsche Gegenstück zum Kampf um Troja dar und auch Johann Jakob Bodmer[10] bezeichnete es als die „Teutsche Ilias.“[11] Die Begriffe deutsch und germanisch wurden von nun an synonym gebraucht und das Bild der Treue zunehmend propagiert.

Wie selbstverständlich geht das NL dann im 19. Jh. als Nationalepos in die Literatur­geschichte ein. Zum Anfang des Jahrhunderts hielten der Germanist Friedrich Heinrich von der Hagen und der Geograph Johann August Zeune[12] öffentliche NL -Vorlesungen in Berlin, in den Hörsaal „strömten Hunderte.“[13] Das politische Klima brachte es mit sich, dass das Volk in der Vergangenheit und der Dichtung nach der Erfüllung suchten, die sie in ihrer eigenen Zeit so sehr vermissten. Doch stellte sich niemand die Frage, inwieweit sich die Figuren des Werkes überhaupt noch mit „den Deutschen“ vergleichen ließen. Wie viel die mittelalterlichen Helden mit den Menschen der Gegenwart noch gemein hatten, spielte bei der Betrachtung keine Rolle.

Die Vereinnahmung für politische Zwecke zeichnete sich schon frühzeitig ab, Reichskanzler Fürst Bernhard von Bülow (1849-1929) hielt 1909 seine Rede vor dem Reichstag, um die Beziehung zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn darzustellen:

[…] Es gibt keinen Streit um den Vortritt wie zwischen den beiden Königinnen im Nibe­lungenliede; aber die Nibelungentreue wollen wir aus unserem Verhältnis zu Österreich-Ungarn nicht ausschalten […].[14]

Dieser direkte Vergleich machte aus dem NL ein „Hohelied der Treue“ und sollte den kommen­den Jahrzehnten eines der markantesten Schlagworte mit auf den Weg geben.

Wilhelm II. appellierte 1914 an die Nibelungentreue, bevor er deutsche Truppen in den 1. Weltkrieg schickte und auch die Verteidigungslinie der Zeit wurde optimistisch „Siegfried­linie“ genannt.

Doch die Niederlage und der Versailler Vertrag lasteten schwer auf dem deutschen Gemüt, an einen Nationalgedanken war in Zeiten der Lähmung erstmal nicht zu denken. Jedoch lässt sich bereits hier unschwer erkennen, dass das Werk von Anfang an nie als literarisches Werk, sondern immer unter dem Aspekt der zeitpolitischen Situation betrachtet und sinnent­stellt wurde.

2.2 Die „Dolchstoßlegende“

Einer der populärsten Begriffe ab der Zeit nach dem 1. Weltkrieg bildete die sogenannte „Dolchstoßlegende“. Aus den Aufzeichnungen Paul von Hindenburgs geht folgender Eintrag hervor:

1919 schrieb ich in meinem Vermächtnis an das deutsche Volk: Wir waren am Ende. Wie Siegfried unter dem Speerwurf des grimmigen Hagen, so stürzte unsere ermattete Front; vergebens hatten sie versucht, aus dem versiegenden Quell der heimatlichen Kraft neues Leben zu trinken.[15]

Diese kurzen Worte bildeten den Grundriss zur „Dolchstoßlegende“, die sich auf den Mord­anschlag Hagens an Siegfried bezieht.

Nach dem 1. Weltkrieg entwickelten sich schnell vage Vermutungen darüber, wer für die Niederlage verantwortlich gemacht werden sollte. Es hieß, die Deutschen wären ihrem ei­genen Land in den Rücken gefallen, sie hätten ihre Truppen verraten, vor dem Feind kapituliert und letzten Endes den Versailler Vertrag unterschrieben. Nur so hätte Deutsch­land zusammenbrechen können und sogar viele Historiker der Zeit erklärten die Niederlage mit Hilfe des politischen Mythos. Denn so konnte das Bild aufrechterhalten werden, die Deutschen wären letzten Endes doch die Stärkeren gewesen und unterlagen lediglich den Tücken aus den eigenen Reihen. Schuldig waren dementsprechend die Linken bzw. die Sozial­demokratie. Diese für die Rechten überaus günstigen Umstände wurden sofort dementsprechend aufgegriffen und für eigene Zwecke genutzt. Sie propagierten die Ab­schaffung der Demokratie.

1925 fand dann der sogenannte „Dolchstoßprozess“ statt, doch die Schuld der Linken konnte dabei nicht festgestellt werden. Dennoch nutzten die Nationalsozialisten die Bekanntheit des Schlagwortes für sich, entwickelten es zur Kampfparole gegen die aktuelle Regierungsform und suggerierten dem Volk, die nationalsozialistische Ideologie sei für das Land geeigneter.

Doch wie wurde aus dem Speer Hagens auf einmal ein Dolch? Im NL heißt es:

Dô spranc er hin widere/ da er den gêr dâ vant.

er sach nâch einem bilde/ an des küenén gewant.[16]

Den gêr im gein dem herzen/ stecken er dô lie.[17]

Hindenburg blieb noch bei der literarisch vorgegebenen Waffe, im Gegensatz zu seinen Nachfolgern. Zum einen könnten sprachliche Ursachen dahinterstecken. Im deutschen Sprachgebrauch wurde das Wort Speer immer mehr vom Dolch abgelöst. Der Dolch war bekannter und konnte so für Propagandazwecke besser genutzt werden. Zum andern kann mit einem Dolch eindeutiger die Hinterlistigkeit der Tat veranschaulicht werden und das Volk konnte sich das Bild eines heimtückisch Gemordeten besser vorstellen. Der Dolch als ver­steckte Waffe lässt sich bis zum letzten Augenblick einfacher vor dem Opfer verbergen und so wird auch die Feigheit des Mörders gut zum Ausdruck gebracht. Mit einem Dolch wird vielleicht eher der Bezug zur Realität hergestellt, als mit dem Speer, den man auch schon in diesen Tagen eher im Zeitalter des Mittelalters verorten würde.

„Dolchstoßlegende“, „Kriegsschuldige“, „Novemberverbrecher“ – alles Schlagworte, um das Volk von der eigentlichen Niederlage abzulenken, die Soldaten als kämpferisch gefallene Helden darzustellen und eine neue Regierung zu rechtfertigen. So ist zu bemerken, dass die „Dolchstoßlegende“ auch im Dritten Reich eine enorme Rolle spielte.

Das vollständige Bild der Heimtücke findet sich schließlich 1940 in Hitlers Mein Kampf, der die mittelalterliche Vorlage „sicher nicht mehr ganz in Erinnerung hatte“:[18]

Wer damals nicht mitkämpfte, das waren die parlamentarischen Strauchdiebe, dieses ge­samte politisierende Parteigesindel. Im Gegenteil, während wir in der Überzeugung kämpften, daß nur ein siegreicher Ausgang des Krieges allein auch dieses Südtirol dem deutschen Volkstum erhalten würde, haben die Mäuler dieser Ephialtesse gegen diesen Sieg so lange gehetzt und gewühlt, bis endlich der kämpfende Siegfried dem hinterhäl­tigen Dolchstoß erlag.[19]

Siegfried wurde nun Sinnbild des deutschen Volkes und Hitler bezog sich selbst in die Riege der Erdolchten mit ein. So verschmolzen Mythos und Geschichte und die Legende vom Dolchstoß wird für Hitler bis zum Ende Vorwand, jeglichen Widerstand, auch im eigenen Land, aufs Brutalste niederzuschlagen.

2.3 Die Wegbereiter

Im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts gab es zahlreiche Nibelungenrezeptionen, die sich in verschiedensten Stilrichtungen und Medien etablierten. Diese seien jedoch „eher quanti­tativ, statt qualitativ“[20] zu beurteilen.

Obwohl es schon diverse politische Bezüge gegeben hat, erfreute sich das NL noch nicht allzu großer Popularität in der Bevölkerung. Diese Lage veränderte sich jedoch zutiefst mit den „Leuchttürmen“[21] der Zeit, wie sie Ehrismann bezeichnet – Friedrich Hebbel (1813-1863) und Richard Wagner. Hebbels Drama Die Nibelungen von Anfang der 1860er Jahre „wird bis heute […] vielfach ideologisch vereinnahmt“[22] auf deutschen Bühnen gespielt. Doch auch durch das Medium Film sollte das NL einen neuen Glanzpunkt erreichen. Inwieweit diese Rezeptionen als nationalsozialistisch oder rassistisch beurteilt werden können, soll nun an den Beispielen Richard Wagner und Fritz Lang betrachtet werden.

2.3.1 Richard Wagner

Der Komponist Richard Wagner, 1813 in Leipzig geboren und 1883 in Venedig verstorben, hatte viel zum nationalen und auch internationalen Wert deutscher Bühnenstücke beigetra­gen. Doch keines seiner Werke beschäftigte ihn so lange, wie Der Ring des Nibelungen. Ab 1848 brauchte es mehr als 26 Jahre,[23] bis er die Tetralogie, bestehend aus den Einzel­stücken Das Rheingold, Die Walküre, Siegfried und Götterdämmerung fertiggestellt hatte. Dieses, wie Wagner es nannte, „Bühnenfestspiel“ sollte einen absoluten Bruch mit der Oper darstellen.

Beim Verfassen des Stückes ging es ihm nicht um eine originalgetreue Wiedergabe des mittelalterlichen Werkes, sondern viel mehr „um die Erschaffung eines neuen Mythos.“[24] Da­für jedoch war ihm das NL als Quelle und Vorlage nicht ausreichend. „ Ich muß nach Ihren altnordischen Edda-Dichtungen greifen, die sind viel tiefsinniger als unsere mittelalter­lichen[25], äußerte Wagner und gibt dabei nur einen Ausschnitt dessen an, woran er sich abseits des NL orientierte. Neben der Edda spielten u. a. auch noch Die Klage, die Vol­sunga - Saga oder die Wilkina- und Niflunga-Saga eine wichtige Rolle für seine Umsetzung des Nibelungenstoffes. Das NL sei ihm zu „zeit- und milieugebunden“[26] gewesen, daher diente es letztlich nur als Reservoir von Handlungen, Personen, Konstellationen oder Moti­ven. Gemeinsamkeiten liegen im Grunde nur im Teil der Götterdämmerung und der Haupthandlung um Siegfried, Hagen und Brünnhilde, wie sie sich bei Wagner schreibt. An­sonsten unterscheidet sich das Stück grundlegend.

In seiner Interpretation handelt es sich nicht mehr um ein Helden- oder Nibelungen-, sondern um ein „philosophisches Wotan-Drama über eigenständiges Handeln.“[27] Die Akteure sind Götter und Halbgötter. Dieser mythische Raum, der Raum der Götter, weist auch auf die skandinavische Orientierung hin. Das Christentum soll im Werk keine Rolle spielen, es ist vollkommen im Götterglauben zu verorten. Dies verändert den Gesamtrahmen natürlich un­gemein. Im Fokus steht nicht die Geschichte selbst, sondern der „reine Mensch.“[28] Die Liste der Unterschiede zum NL ist lang. So ist Siegfried ein Enkel Wotans, Brünnhilde dessen Tochter. Die Meerfrauen werden zu Rheintöchtern und Gunthers Schwester heißt nicht Kriemhild, sondern Gutrune. Bei dieser knappen Auswahl möchte ich es belassen.

Eine interessante Rolle für die nachfolgende Rezeption des Stückes der Nationalsozialisten spielte die Figur der Brünnhilde. Sie wurde zum Ideal eines heroischen Frauenbildes. Eine Frau, die nur den einen Mann akzeptiert, der sie im gleichberechtigten Kampf besiegt. „[…] Beweist sich nicht in dieser Frauengestalt das Germanentum noch viel deutlicher, als in einem strahlenden Siegfried[?]“[29] Diese These von der Gleichwertigkeit zwischen Männern und Frauen fand vor allem bei völkischen und nationalsozialistischen Ideologinnen großen Anklang. Die Frau als heldische Frau, als Kampfgenossin des Mannes.

Himmler interpretierte die Frauenrolle ein wenig anders, der Mann sollte führen, die Frau geführt werden.[30] Allerdings sah auch er einen Wert in der Brünnhilde und verstand es, die­sen auch zu propagieren. Es war ihm schon länger ein Dorn im Auge, dass zu viele der „arischen Männer“ eine als rassisch minderwertig geltende Frau heirateten. Auch Siegfried beging in seinen Augen diesen Frevel. Anstatt die ihm ebenbürtige, für ihn bestimmte und rassisch hochwertige Brünhild zu ehelichen, entscheidet er sich für die schwächere, minder­wertige Frau. Solch ein Verrat konnte nur mit dem Untergang Siegfrieds und der Nibelungen bestraft werden. Diese Auffassung sollte nun die sich schon länger im Gespräch befindlichen Ehevermittlungen rechtfertigen. Interessanterweise nimmt der stets unfehlbare Siegfried an dieser Stelle die Rolle des Verräters ein, der seinen Tod verdient hatte. Der sonst so zuver­lässige, unfehlbare „Sonnen-Siegfried“ scheint in dieser Hinsicht vergessen.

Auch Hitler muss sich durch die Interpretation Wagners in seiner Ideologie bestätigt und be­stärkt gefühlt haben. Er war ein großer Anhänger Wagners und Verehrer des Ringes. Ein Jude Hagen, der Siegfried ermordet, konnte nur allzu gut zur Rechtfertigung der Judenver­folgung genutzt werden.

Doch finden sich im Stücke selbst rassistische Anspielungen? In manch einer Abhandlung zu dieser Thematik lassen sich immer wieder die Worte finden, die antisemitische Haltung Wagners sei allgemein bekannt gewesen und das Stück würde eindeutig einen judenfeind­lichen Unterton enthalten. „Aus Alberich, Mime und Hagen mach[e] Wagner ein Geschlecht von Nibelungen-Juden, und zwar als Karikatur jüdischen Wesens.“[31] Rudolf Kreis benennt dabei die Eigenschaften egoistisch, intrigant, geldgierig und gefährlich. Hagen wäre nur auf den Besitz des Ringes und die damit verbundene Weltherrschaft aus – er sei „das mißratene Kind […].“[32] In diesem Fall hätte dieser autonome, selbstbestimmte Charakter nichts mehr mit der so viel beschworenen Nibelungentreue zu tun.

Die entgegengesetzte Seite beurteilt Wagner und das Stück ganz anders und Dieter David Scholz wiederspricht der Aussage von Kreis ganz und gar. „Weder der Text, noch auch nur eine einzige von Wagners Äußerungen zum Text geben einen Hinweis darauf, daß Wagner im Ring irgendeine Gestalt als Judenkarikatur habe anlegen wollen.“[33] Von Judenkarikaturen allgemein könne überhaupt nicht die Rede sein, weder bei Mime, Alberich oder Hagen. Scholz schließt auch ein antisemitisches Vernichtungsdenken im Werk aus und stützt sich dabei auf die Gewissheit, dass sich am Ende des Stückes die Reinigung durch Brünnhildes Opfer auf alle bezieht – Juden, wie auch Nichtjuden. Auch Karl Holl spricht sich in seiner Wagnerbetrachtung gegen eine rassistische oder antisemitische Haltung aus. „Gewisse pole­mische Äußerungen Wagners gegen fremde Art und Kunst dürfen seinem mimisch-dramatischen Naturell zu gute gehalten werden.“[34] Er bezeichnet die Gesinnung Wagners als demokratisch und human. Dass seine Denkweisen und Werke später als rassistisch umin­terpretiert wurden, könne ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden und läge allein in der Verantwortung der Nationalsozialisten.

Es ist wohl nicht davon auszugehen, dass sich diese Problematik in nächster Zukunft klären lassen wird und neben dem Ring sollten dafür auch sicher die anderen Werke Wagners in Betracht gezogen werden. Jedoch steht außer Frage, dass das Werk trotz aller Gegen­sprecher zu weltweitem Ruhm gekommen ist. Es gilt als die berühmteste Nibelungen-Dramatisierung und ist eines der wenigen Werke Wagners, die bis heute bekannt geblieben sind.

[...]


[1] Helmut BRACKERT: Das Nibelungenlied. Teil 1. Frankfurt/Main 1992. Für Zitate aus dem Nibelungenlied werde ich mich im Rahmen der Arbeit auf die Ausgabe von Brackert stützen. Hier S. 6, V. 1.

[2] Jürgen BREUER: Das historische Umfeld des Nibelungenliedes in Worms. In: Gerold Bönnen/Volker Gallé: Ein Lied von gestern? Wormser Symposium zur Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes. Beiheft 35. In: Der Wormsgau. Wissenschaftliche Zeitschrift der Stadt Worms und des Altertumsvereins Worms e.V. Hg. v. dems., Stadtarchiv Worms, Worms 1999. Hier S. 17.

[3] Im Folgenden als NL abgekürzt.

[4] Susanne FREMBS: Nibelungenlied und Nationalgedanke nach Neunzehnhundert. Über den Umgang der Deutschen mit ihrem „Nationalepos“. Stuttgart 2001. Hier S. 9.

[5] Helmut BRACKERT: Nibelungenlied und Nationalgedanke. Zur Geschichte einer deutschen Ideologie. In: Mediaevalia litteraria. Festschrift für Helmut de Boor zum 80. Geburtstag. Hg. v. Ursula Hennig/ Herbert Kolb, München 1971, S. 343-364. Hier S. 344.

[6] Ebd.

[7] Der Professor tat sich unter anderem durch seine Nibelungenübersetzung ins Neuhochdeutsche zu Beginn des 19. Jh. hervor.

[8] Susanne FREMBS: Nibelungenlied und Nationalgedanke nach Neunzehnhundert. Über den Umgang der Deutschen mit ihrem „Nationalepos“. Stuttgart 2001. Hier S. 15.

[9] Ebd.

[10] Der Philologe aus der Schweiz lebte von 1698 bis 1783 und gilt als Pionier auf dem Gebiet der mittelhochdeutschen Literatur. Mehr Informationen zu seiner Arbeit finden sich bei Annegret PFALZGRAF: Eine Deutsche Ilias? Homer und das „Nibelungenlied“ bei Johann Jakob Bodmer. Zu den Anfängen der nationalen Nibelungenrezeption im 18. Jahrhundert. Marburg 2003.

[11] BRACKERT: Nibelungenlied und Nationalgedanke. In: Mediaevalia litteraria, S. 345.

[12] Zeune tat sich ebenfalls durch seine Arbeit mit dem NL hervor, ist jedoch eher bekannt, als der Begründer der Blindenanstalt in Berlin.

[13] BRACKERT: Nibelungenlied und Nationalgedanke. In: Mediaevalia litteraria, S. 346.

[14] Wilhelm von MASSOW(Hg.): Fürst Bülows Reden. Bd.5. Leipzig 1914, S. 127f.

[15] Walther HUBATSCH: Hindenburg und der Staat. Aus den Papieren des Generalfeldmarschalls und Reichspräsidenten von 1878-1934. Göttingen u.a. 1966, S. 380.

[16] BRACKERT: Das Nibelungenlied. Teil 1, S. 216, V. 980.

[17] Ebd., S. 216, V. 982.

[18] Otfried EHRISMANN: Das Nibelungenlied, München 2005. Hier S. 102.

[19] Adolf HITLER: Mein Kampf. 2 Bd. in einem Bd., ungekürzt. Ausg. 661.-665. Aufl. Leipzig 1942,

S. 707.

[20] EHRISMANN: Das Nibelungenlied, S. 89.

[21] Ebd.

[22] Ebd.

[23] Vgl. Richard WAGNER: Der Ring des Nibelungen. Hg. v. Egon Voss. Stuttgart 2009. Hier S. 433.

[24] Gudrun SCHWARZ: „Siegfried und Brunhild“ – ein „Herrenmenschenpaar“. Ein Beitrag zur Geschlechtergeschichte. In: Richard Wagner im Dritten Reich. Hg. v. Saul Friedländer/ Jörn Rüsen. München 2000, S. 251-263. Hier S. 251.

[25] WAGNER: Der Ring des Nibelungen, S. 452.

[26] EHRISMANN: Das Nibelungenlied, S. 91.

[27] Ebd.

[28] Bezeichnung nach Wagner selbst.

[29] SCHWARZ: „Siegfried und Brunhild“, S. 253.

[30] Vgl. SCHWARZ: „Siegfried und Brunhild“, S. 255.

[31] Rudolf KREIS: Wer schrieb das Nibelungenlied? Ein Täterprofil. Würzburg 2002. Hier S. 99.

[32] Ebd.

[33] Dieter David SCHOLZ: Richard Wagners Antisemitismus. Jahrhundertgenie im Zwielicht. Berlin 2000. Hier S. 93.

[34] Karl HOLL: Richard Wagner. In: Die großen Deutschen. Deutsche Biographien von Karl dem Großen bis Bert Brecht. Hg. v. Deutscher Bücherbund. Stuttgart 1972, S. 389-408. Hier S. 405.

Ende der Leseprobe aus 36 Seiten

Details

Titel
Rezeption und Interpretation des Nibelungenliedes im Nationalsozialismus
Hochschule
Universität Leipzig  (Geisteswissenschaftliches Institut)
Veranstaltung
Literaturwissenschaft
Note
2,4
Autor
Jahr
2010
Seiten
36
Katalognummer
V444911
ISBN (eBook)
9783668816824
ISBN (Buch)
9783668816831
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nibelungenlied, Nationalsozialismus, Dolchstoßlegende, Fritz Lang, Richard Wagner, Hans Henning von Grote, Wilhelm von Scholz, J. D. Blaßmann, Hans F. K. Günther, Nationalepos, Hagen, Siegfried
Arbeit zitieren
Jana Mussik (Autor:in), 2010, Rezeption und Interpretation des Nibelungenliedes im Nationalsozialismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/444911

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Rezeption und Interpretation des Nibelungenliedes im Nationalsozialismus



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden