Selbstbestimmung und Teilhabe von sozial benachteiligten Älteren mit Pflegebedarf. Projektreflexion anhand der Prinzipien der Sozialraumorientierung nach Wolfgang Hinte


Hausarbeit (Hauptseminar), 2018

23 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Hinfuhrung zum Thema

2 Theoretischer Hintergrund
2.1 Begriffsverstandnis von Pflegebedurftigkeit und Multimorbiditat
2.2 Altern im Sozialraum und Quartier
2.3 Prinzipien der Sozialraumorientierung nach Hinte

3 Forschungsprojekt SWuTiQ
3.1 Ausgangslage und Ziel des Forschungsprojektes
3.2 Methodisches Vorgehen und Ergebnisse des Projekts

4 Diskussion

5 Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis

1 Hinfuhrung zum Thema

Die demografische Alterung als zentrales Phanomen des demografischen Wandels fuhrt zu einer wachsenden Zahl an alteren Personen in Deutschland, wodurch auch die Zahl an Pflegebedurftigen, Multimorbiden und anderweitig unterstutzungsbedurftigen Personen stark zunimmt (Hodek u. a., 2009, S. 1188; Naegele, 2009, S. 432; Robert Koch-Institut, 2012, S. 1). Die wachsende Zahl an Pflegebedurftigen und Multimorbiden wirkt sich auf die Inanspruchnahme von Gesundheits- und Versorgungsleistungen aus, was sich auf beste- hende Versorgungsstrukturen auswirkt (Robert Koch-Institut, 2015, S. 435). Hervorzuhe- ben ist dabei die Versorgung von Pflegebedurftigen. Schlieftlich schrumpfen seit einigen Jahren die freien Kapazitaten der Pflegeheime, was sich an der stetig wachsenden Auslas- tung der Heime veranschaulichen lasst (Statistisches Bundesamt, 2017b, S. 22). Gerade deshalb und aufgrund der hohen Kostenintensitat einer stationaren Versorgung, sowie As- pekten bezuglich der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, werden Formen der ambulan- ten Versorgung und damit auch Bemuhungen um den Verbleib im hauslichen Umfeld ver- mehrt angewandt und erforscht (Falk & Wolter, 2018, S. 143; Heusinger u. a., 2017, S. 439 f)

Die vorliegende Arbeit wird vor dem Hintergrund dieser Entwicklung das Projekt „Selbstbe- stimmt Wohnen und Teilhaben im Quartier“ (SWuTiQ) naher betrachten und reflektieren. Grundlage fur die Reflexion bilden die funf Prinzipien des Fachkonzept Sozialraumorientie- rung nach Hinte. Die leitende Fragestellung wird dabei sein, inwieweit bei dem Projekt SWuTiQ die Prinzipen der Sozialraumorientierung nach Hinte angewandt werden.

Die vorliegende Arbeit wird sich nicht mit verschiedenen Begrifflichkeiten innerhalb der Ge- meinwesenarbeit, wie beispielsweise dem Stadtteilmanagement oder dem Quartiersma- nagement, beschaftigen. Vielmehr ist das Ziel der Arbeit ein Problemverstandnis fur die Ausgangslage des Projektes SWuTiQ zu erlangen und anschlieftend nach der Vorstellung des Projektes dieses anhand der funf Prinzipien zu reflektieren. Die genannten Begrifflich­keiten, wie auch ahnliche Bezeichnungen, werden dabei aufter Acht gelassen.

Die Arbeit wird wie folgt aufgebaut: zunachst werden die Begriffe Pflegebedurftigkeit und Multimorbiditat naher betrachtet. Ebenso werden das Altern im Sozialraum, sowie die damit einhergehenden Herausforderungen und Besonderheiten thematisiert. Abschlieften wird das erste Kapitel mit der Darstellung der funf Prinzipien nach Hinte, die das Kernelement des Fachkonzepts der Sozialraumorientierung bilden. Daraufhin wird das Projekt SWuTiQ ausfuhrlich vorgestellt, wobei der Fokus auf dem methodischen Vorgehen des Projektes liegt. Daraufhin wird das Projekt SWuTiQ anhand der funf Prinzipien der Sozialraumorien­tierung reflektiert und diskutiert.

2 Theoretischer Hintergrund

In diesem Kapitel werden zunachst die Begriffe Pflegebedurftigkeit und Multimorbiditat vor- gestellt. Auch wenn die Multimorbiditat eine eher untergeordnete Rolle fur die vorliegende Arbeit aufweist, ist die begriffliche Auseinandersetzung insofern von Relevanz, da das Vor- liegen von Multimorbiditat die Entstehung von Pflegebedurftigkeit begunstigt. Daruber hin- aus fuhrt Multimorbiditat haufig zu Einschrankungen der Selbststandigkeit und Mobilitat, was die Teilhabe von Betroffenen massiv einschranken kann, wie im Folgenden noch er- sichtlich wird. Im zweiten Unterkapitel werden die Herausforderungen und Besonderheiten des Alterns im Sozialraum und Quartier betrachtet. Das Kapitel wird mit der Vorstellung der funf Prinzipien des Fachkonzeptes der Sozialraumorientierung nach Hinte abschlieften.

2.1 Begriffsverstandnis von Pflegebedurftigkeit und Multimorbiditat

Als pflegebedurftig werden, seit der Einfuhrung des Pflegestarkungsgesetz II, Personen bezeichnet, die eine Einschrankung der Selbststandigkeit aufgrund von gesundheitlich be- dingten Einschrankungen aufweisen und daher auf die personelle Hilfe von anderen Per­sonen angewiesen sind (§14 Abs.1 SGB XI). Pflegebedurftig sind demnach Personen, die Belastungen unterschiedlicher Art nicht selbststandig kompensieren konnen. Der gesetzli- chen Regelung nach muss die Einschrankung der Selbststandigkeit einer Person fur min- destens sechs Monate vorliegen, damit eine Pflegebedurftigkeit durch die Pflegekasse, be- ziehungsweise den Medizinischen Dienst der Krankenkassen, festgestellt wird. (Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V., 2017, S. 4) Die Pflegebedurftigkeit wird in sechs unterschiedliche Module abgebildet: Mobilitat, kommuni- kative und kognitive Fahigkeiten, die Verhaltensweise und psychische Problemlagen, Selbststandigkeit in der Selbstversorgung, Bewaltigung von und Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen und schlussendlich die Gestaltung des Alltags und das Interagieren mit sozialen Kontakten. (Scholkopf, 2016, S. 47)

Im Jahr 2015 gab es in Deutschland 2,9 Millionen Pflegebedurftige. 73% der Pflegebedurf- tigen wurden im hauslichen Umfeld versorgt, wahrend die ubrigen Pflegebedurftigen (27%) in Pflegeheimen versorgt wurden. Von den Pflegebedurftigen die zu Hause versorgt wur­den, haben bei rund zwei Drittel der Personen die Angehorigen die pflegerische Versorgung ubernommen, wahrend bei rund einem Drittel dieser Personengruppe zusatzlich ein ambu- lanter Pflegedienst von Noten war. (Statistisches Bundesamt, 2017a, S. 5) Diese Daten verdeutlichen sehr anschaulich, dass die uberwiegende Mehrheit der Pflegebedurftigen im hauslichen Umfeld versorgt werden und dabei zum groftten Teil auf die Unterstutzung ihrer Angehorigen angewiesen sind. Bereits an dieser Stelle entsteht aufgrund der Datenlage ein erster Eindruck, welchen enormen Stellenwert Maftnahmen haben, die den Verbleib von Pflegebedurftigen im hauslichen Umfeld fordern. Schlieftlich ist dies nicht nur kostengunstiger als vergleichsweise die stationare Versorgung im Pflegeheim (Kemna & Goldmann, 2016, S. 435), sondern wird von den Betroffenen in den meisten Fallen auch bevorzugt gewahlt (Kricheldorff & Oswald, 2015, S. 399).

Der Begriff Multimorbiditat bezeichnet das Vorliegen von zwei oder mehreren chronischen Krankheiten innerhalb einer Person (van den Akker u. a., 1998, S. 369). Auch wenn dieses Verstandnis im fachlichen Diskurs am haufigsten verwendet wird, so existiert derzeit keine Definition von allgemeiner Gultigkeit (Luhmann, 2016, S. 26; Marengoni u. a., 2011, S. 431). Mit zunehmendem Alter nimmt das Risiko und die Pravalenz (Haufigkeit) von Multimorbidi­tat zu (van den Bussche u. a., 2011, S. 6 f), doch uber das konkrete Ausmaft der Haufigkeit von Multimorbiditat in Deutschland lassen sich, aufgrund der unterschiedlichen Zusammen- setzung der Studienpopulationen und der ungleich verwendeten Definitionen von Multimor­biditat, keine Aussagen treffen. Dennoch wird von einer besonders hohen Haufigkeit von Multimorbiditat bei Personen ab 65 oder 70 Jahren gesprochen. (Scheidt-Nave u. a., 2010, S. 442)

Im Zuge der Auseinandersetzung mit Multimorbiditat und im Hinblick auf die im weiteren Verlauf noch vorgestellten Projekte, kann die Frage aufgeworfen werden, inwieweit sich die Multimorbiditat bei den Betroffenen auswirkt. Zur Beantwortung dieser Frage lassen sich Studienergebnisse zur Lebensqualitat bei Multimorbiditat im Alter heranziehen. Demnach auftert sich die Multimorbiditat in den meisten Fallen hinsichtlich von Schmerzen und an- deren korperlichen Beschwerden (Hodek u. a., 2009, S. 1194 f). Des Weiteren werden auch die Mobilitat und verschiedene Alltagstatigkeiten durch die Multimorbiditat eingeschrankt. Dabei ist zu betonen, dass aus der Studie klar hervorgeht, dass nicht das Alter der Proban- den fur die Einschrankungen verantwortlich ist, sondern vielmehr das Vorliegen der Multi­morbiditat. (Hodek u. a., 2009, S. 1194 f) Auch kann sich Multimorbiditat einschrankend auf die Selbststandigkeit und das Hor- und Sehvermogen von Betroffenen auswirken. Weitere funktionelle Einschrankungen die bei Multimorbiditat eintreten konnen sind Appetitlosigkeit und schnell eintretende Erschopfung. (Boeckxstaens u. a., 2015, S. 42; Kadam & Croft, 2007, S. 417; Scheidt-Nave u. a., 2010, S. 441) Wenngleich diese Auflistung keinen An- spruch auf Vollstandigkeit hat, so wird anhand der aufgezahlten Einschrankungen deutlich, dass multimorbide Personen, je nach Schweregrad, mitunter grofte Einschrankungen in ihrer Selbststandigkeit haben. Wie zuvor in der Auseinandersetzung mit dem Begriffsver- standnis von Pflegebedurftigkeit deutlich geworden ist, zahlt das Maft der Selbststandigkeit einer Person zu einer der ausschlaggebenden Kriterien fur das Maft an Pflegebedurftigkeit. So ist es nicht verwunderlich, dass Studien zufolge, das Vorliegen von Multimorbiditat die Entstehung von Pflegebedurftigkeit begunstigt (Fortin u. a., 2007, S. 1016 f; Scheidt-Nave u. a., 2010, S. 441).

2.2 Altern im Sozialraum und Quartier

Mit zunehmendem Alter nimmt das individuelle Lebensumfeld und der Wohnraum „als re- levante soziale Raume eine immer wichtigere Funktion ein“ (Kricheldorff, 2015, S. 17). Da- bei rucken das Wohnumfeld und das Quartier starker in den Blick, als vergleichsweise bei Personen in jungeren Altersgruppen, da mit zunehmendem Alter bisherige bestimmte sozi- alraumliche Kontexte wegfallen. Dazu zahlt beispielsweise der Arbeitsplatz oder der Weg dorthin. In der Folge werden altere Menschen zunehmend auf ihr naheres sozialraumliches Umfeld verwiesen, weshalb dieses zum zentralen Ort der Lebensgestaltung wird. (ebd.) Die Forderung der sozialen Teilhabe, die Partizipation am gesellschaftlichen Leben, wie auch die Aufrechterhaltung der Lebensqualitat bei alteren Menschen, beziehungsweise bei Menschen der hoheren Altersgruppen, sind intuitiv eher dem Fachgebiet der Gerontologie zuzuordnen. Jedoch dominiert mittlerweile nicht mehr die Gerontologie mit ihrem individu- ellen Blickwinkel die Gestaltung von Interventionen und der Entwicklung von Handlungs- konzepten bezuglich der Belange von alteren und auch pflegebedurftigen Menschen, son- dern der sozialraumliche Blickwinkel. Grund hierfur ist die Tatsache, dass der Verbleib im hauslichen Umfeld bei besagter Personengruppe, sowie das Einbinden alterer Menschen in das Gemeinwesen und schlussendlich die Starkung von intergenerationeller Solidaritat im Wohnquartier an Bedeutung gewonnen hat. (Kricheldorff & Oswald, 2015, S. 399)

Der soziale Nahraum gewinnt daher an Bedeutung hinsichtlich individueller Lebensqualitat und dem eigenen Wohlbefinden. Dieser Trend wird insbesondere durch Einschrankungen der Mobilitat verstarkt, was nicht zuletzt verstarkt bei pflegebedurftigen und multimorbiden Menschen zum Tragen kommt. (Kricheldorff, 2015, S. 18) Durch die mit dem zunehmenden Alter einhergehenden Mobilitatseinschrankungen und die daraus resultierende Begrenzung von Aktions- und Handlungsspielraumen, werden der eigene Wohnraum und die angren- zende Nachbarschaft mit zunehmendem Alter immer bedeutsamer. Dies gilt besonders fur die eigenstandige Lebensfuhrung und das individuelle Wohlbefinden. (Scholl, 2010, S. 7) In Bezug auf das jeweilige Quartier geht es nicht zuletzt um die Identifikation von quartiers- bezogenen Einflussen auf das Wohlbefinden. So nimmt die Gestaltung von Bedingungen im Quartier fur ein gutes Leben und Wohnen im Alter, sowie die Identifikation von Moglich- keiten und Grenzen nachbarschaftlicher Netzwerke einen ebenso bedeutsamen Stellen- wert ein. (Kricheldorff & Oswald, 2015, S. 399)

Typische Phanomene des demografischen Wandels, wie die zunehmende Alterung der Ge- sellschaft (Brussig, 2015, S. 299; Robert Koch-Institut, 2015, S. 435; Weigl, Muller, & An- gerer, 2012, S. 283), der Trend zur Singularisierung und Individualisierung und das nach- lassende Unterstutzungspotenzial innerhalb der Familie und dem sozialen Umfeld (Kraus & Kurlemann, 2009, S. 21; Evers u. a., 2011, S. 10), bilden den Ausgangspunkt fur konzeptionelle Uberlegungen und Entwicklungen, wie auch innerhalb des aktuellen Fach- diskurses (Kricheldorff & Oswald, 2015, S. 399). Es geht folglich darum, wie Bedingungen im Sozialraum, in der Gemeinde und im Quartier, so gestaltet werden, damit tragfahige soziale Netzwerke fur gelingendes Alter entstehen konnen. Des Weiteren geht es um die Erhaltung individuell entwickelter Lebensbewaltigungsstrategien und um die jahrelang am selben Ort entwickelten Handlungsroutinen.

Die Bildung von tragfahigen sozialen Netzwerken oder die Erhaltung der entwickelten Le­bensbewaltigungsstrategien kann vor allem bei Personen mit einem niedrigen sozialokono- mischen Status erschwert sein. Schlieftlich haben sozialepidemiologische Forschungen aufgezeigt, dass sich der sozialokonomische Status besonders auf die Morbiditat (Erkran- kungen), die Mortalitat (Sterblichkeit) und auf die Lebenserwartung gunstig oder ungunstig auswirken kann. Der Gesundheitszustand kann „sowohl als Effekt von als auch als Voraus- setzung fur gelungene soziale Teilhabe“ betrachtet werden, wobei sich dieser Zusammen- hang mit zunehmendem Alter noch verstarkt. (Kumpers & Alisch, 2018, S. 601) Menschen mit einem niedrigen sozialokonomischen Status verfugen tendenziell im Durchschnitt uber weniger soziale Kontakte, wodurch sie geringer ausgepragte soziale Netze haben und da- her geringere soziale Unterstutzung erfahren (Weyers u. a., 2008, S. 4 f). Dieses Defizit hinsichtlich der sozialen Vernetzung wirkt sich wiederum negativ auf die Gesundheit der jeweiligen Menschen aus (Vonneilich u. a., 2012, S. 4).

Das Vorliegen von Pflegebedurftigkeit erschwert regelrecht die soziale Teilhabe. Haufig werden von Pflegebedurftigen Wunsche hinsichtlich sozialer Teilhabe formuliert, wie bei- spielsweise „sich im offentlichen Raum zu bewegen, soziale Kontakte zu haben, kulturelle Angebote wahrnehmen zu konnen und insofern uber die Gestaltung des eigenen Lebens zu verfugen“ (Kumpers & Alisch, 2018, S. 604). Die selbstbestimmte soziale Teilhabe ge­staltet sich zusatzlich bei Personen schwierig, die neben der Unterstutzung der Pflegever- sicherung, weitere Dienstleistungen und Angebote nicht bezahlen konnen. Besonders be- troffen sind dabei Personen die uber keine leistungsfahigen sozialen Netzwerke verfugen und keinen Anspruch auf zusatzliche Leistungen nach SGB XII (Sozialhilfe) haben. (ebd.) Ebenso konnen Mobilitatseinschrankungen bei Pflegebedurftigkeit oder dem Vorliegen von Multimorbiditat ohne finanzielle Ressourcen kaum ausgeglichen werden. Zudem kann eine behindertengerechte Wohnung nicht bezogen oder der eigene Wohnraum nicht behinder- tengerecht umgebaut werden. Daran schlieftt sich auch die Problematik bei Wohnungen in mehrstockigen Wohnhausern an, da diese bei Mobilitatseinschrankungen ohne Aufzug nicht erreicht werden konnen. Auch die Nutzung des offentlichen Nahverkehrs kann durch Barrieren und fehlende oder unzureichende Mobilitatshilfen erschwert oder gehemmt sein, wodurch pflegebedurftige und gegebenenfalls auch multimorbide Menschen kaum Moglich- keiten haben, ihren Aufenthaltsort selbstbestimmt zu wahlen. Ebenso der Zugang zu den meisten Formen sozialer Teilhabe wird dabei nahezu unmoglich. (Kumpers, 2012, S. 199 ff) An dieser Stelle muss besonders betont werden, dass insbesondere Menschen mit ei- nem niedrigen sozialokonomischen Status durchschnittlich weitaus haufiger unter Wohn- bedingungen leben, die ihre Moglichkeiten zur sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe ein- schranken, als vergleichsweise zu Menschen mit einem hoheren sozialokonomischen Sta­tus (Bundesministerium fur Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, 2011, S. 27).

2.3 Prinzipien der Sozialraumorientierung nach Hinte

Das Fachkonzept der Sozialraumorientierung, welches maftgeblich von Hinte entwickelt wurde, greift Theoriebestande und Erfahrungen aus der Gemeinwesenarbeit auf und for- muliert diese anschlieftend in Hinblick auf die Erfordernisse im Kontext institutioneller sozi­aler Arbeit im Allgemeinen um (Oehler & Drilling, 2013, S. 30). Der Begriff des Sozialraums wird dabei in doppelter Hinsicht verstanden. Zum einen wird dieser durch die Individuen selbst definiert, da diese stets auf Grundlage ihrer Wahrnehmung, der Bedingungen und Ereignisse im jeweiligen Feldzusammenhang, handeln. Zum anderen wird der Sozialraum von Institutionen als Steuerungsgrofte definiert, wodurch fur ein Wohngebiet entsprechend Personal und finanzielle Mittel kalkuliert und verwendet werden. (Hinte & Treeft, 2014, S. 30) In der Sozialraumorientierung geht es nicht darum, Menschen durch den Einsatz be- stimmter Methoden oder durch padagogische Absichten zu verandern. Vielmehr geht es darum, die Lebenswelten gemeinsam mit den Menschen so zu gestalten, dass diese in prekaren Lebenssituationen eine Unterstutzung zur Lebensbewaltigung darstellen (Hinte, 2006, S. 9). Der Sozialraum, oder das Quartier, wird von den Menschen belebt, genutzt und gestaltet. Dabei machen sie das Beste aus ihren Moglichkeiten, auch unter schwierigen Bedingungen, „aber die Bedingungen selbst ermoglichen manches und verhindern vieles“. (Fehren & Hinte, 2013, S. 17) Aus diesem Grund versucht sozialraumliche Arbeit immer die Lebensbedingungen gemeinsam mit den dort lebenden Menschen und deren Wahrneh­mung und Wunschen zu verandern, anzureichern und neu zu gestalten (ebd.). Dafur gibt das Fachkonzept Sozialraumorientierung die folgenden methodischen Blickrichtungen und Prinzipien zur Hand.

1) Ausgangspunkt jeglicher Arbeit sind die Interessen, beziehungsweise der Wille, der leis- tungsberechtigten Menschen. Von Bedeutung ist dabei der Unterschied zwischen dem Willen und den Wunschen der Menschen. Wahrend der Wille Ausdruck einer Bereit- schaft ist, durch eigene Aktivitat zur Zielerreichung beizutragen, druckt ein Wunsch le- diglich etwas aus, fur dessen Erfullung andere Personen zustandig sind. (Hinte, 2006, S. 9 f) Grundlage jeglicher Arbeit ist immer der Wille oder die Betroffenheit einzelner Menschen oder Gruppierungen und nicht der vermeintliche Bedarf, der von burokrati- schen Instanzen erfasst wurde. Letzteres schlagt sich haufig in formulierten

Zielplanungen nieder, was dem Konzept der Sozialraumorientierung entgegensteht, da Zielformulierungen ausschlieftlich durch die leistungsberechtigten Menschen vorge- nommen werden. Schlieftlich stellen deren Wille und Interessen den Ausgangspunkt jeglicher Arbeit dar. (Fehren & Hinte, 2013, S. 17)

2) „Aktivierende Arbeit hat grundsatzlich Vorrang vor betreuender Tatigkeit: „Soviel Hilfe wie notig und so wenig Hilfe wie m6glich!““ (ebd., S. 17 f). Gemeint ist damit, dass die Fachkrafte so wenig wie moglich ohne die Menschen im Sozialraum tun und gleichzeitig Aktionen fur die Menschen im Sozialraum vermeiden. Vielmehr uberlegen die Fach­krafte gemeinsam mit den Menschen im Sozialraum, was zur Verbesserung ihrer Situ­ation getan werden konnte. Erst zu einem spateren Zeitpunkt bieten die Fachkrafte be- treuende Angebote oder Maftnahmen an. (Hinte, 2012, S. 669) Im Hinblick auf die Wurde der Menschen kann erganzend erwahnt werden, dass diese von Menschen nicht durch die Annahme von Leistungen erhalten wird, sondern durch das Aufbringen eige- ner Krafte, um prekare Lebenssituationen zu meistern, sodass sie ruckblickend sagen konnen: „Das habe ich geschafft!“ (Hinte, 2008, S. 5).

3) „Bei der Gestaltung einer Hilfe spielen personale und sozialraumliche Ressourcen eine wesentliche Rolle“ (Hinte, 2006, S. 9). Dabei liegt der Fokus nicht auf den Defiziten der Menschen, wie bei klassischen Ansatzen der Sozialen Arbeit, sondern auf deren Star- ken. Daruber hinaus stellen Raume, Nachbarschaften, Platze, Straften oder die vorhan- dene Unternehmens- und Dienstleistungsstrukturen wertvolle Ressourcen dar, die durch Vernetzung aktiviert und genutzt werden konnen. (Hinte, 2012, S. 669)

4) Aktivitaten sind immer zielgruppen- und bereichsubergreifend angelegt, sodass unter- schiedlichste Gruppierungen im Sozialraum angesprochen werden, sich daran zu be- teiligen (Fehren & Hinte, 2013, S. 18). An dieser Stelle darf nicht unerwahnt bleiben, dass zielgruppenspezifische Aktionen dadurch nicht ausgeschlossen sind, sondern le- diglich in einem Kontext stattfinden, in dem die bestimmte und definierte Zielgruppe nicht stigmatisiert wird (Hinte, 2012, S. 669). Durch die ubergreifende Orientierung der Aktivitaten werden die klassischen Grenzen der Sozialen Arbeit „in Richtung auf andere Handlungsfelder wie Wohnen, Beschaftigung, Kultur, Gesundheit, Bildung, Verkehr etc. uberschritten“ (Fehren & Hinte, 2013, S. 18).

[...]

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Selbstbestimmung und Teilhabe von sozial benachteiligten Älteren mit Pflegebedarf. Projektreflexion anhand der Prinzipien der Sozialraumorientierung nach Wolfgang Hinte
Hochschule
Duale Hochschule Baden-Württemberg, Stuttgart, früher: Berufsakademie Stuttgart  (Soziale Arbeit)
Veranstaltung
Gemeinwesenarbeit
Note
1,1
Autor
Jahr
2018
Seiten
23
Katalognummer
V444445
ISBN (eBook)
9783668814479
ISBN (Buch)
9783668814486
Sprache
Deutsch
Schlagworte
selbstbestimmung, teilhabe, älteren, pflegebedarf, projektreflexion, prinzipien, sozialraumorientierung, wolfgang, hinte
Arbeit zitieren
Master of Arts Joel Hornberger (Autor:in), 2018, Selbstbestimmung und Teilhabe von sozial benachteiligten Älteren mit Pflegebedarf. Projektreflexion anhand der Prinzipien der Sozialraumorientierung nach Wolfgang Hinte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/444445

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