Der Schlaf als Erlösung vom Alltag? Die Alltagsflucht in zwei expressionistischen Gedichten von Lola Landau


Hausarbeit, 2018

16 Seiten, Note: 1,0

Simone Kappel (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Interpretation des Gedichts Schlaf
2.1 Sprechsituation und Perspektive des lyrischen Ichs
2.2 Inhalt und Form
2.3 Sprache und stilistische Gestaltung

3 Vergleich mit dem Gedicht Erweckung
3.1 Inhalt und Interpretation
3.2 Realitätsflucht und Ich-Dissoziation

4 Resümee und Ausblick

Literaturverzeichnis

Siglenverzeichnis

1 Einleitung

Der menschliche Schlaf als periodisch eintretender Ruhezustand des Körpers dient der Erholung des Menschen vom Alltag. Beim Schlaf gleitet der Mensch in einen „Zustand der Ruhe und des Sich-Abschließens von der Umwelt unter Herabsetzung oder Aufhebung des Tagesbewusstseins und der willkürlichen Bewegung“[1]. Das Aufheben des Tagesbewusstseins macht es möglich Sorgen und Ängste im Schlaf zu vergessen, sofern diese nicht in Träumen erlebt werden. Zur Regernation des Körpers ist der Schlaf lebensnotwendig und kann nach körperlich schwerer Arbeit als Erlösung empfunden werden. Eine solche Erlösung durch den Schlaf wird im Gedicht Schlaf der deutsch-jüdischen Dichterin Leonore Landau, bekannt unter dem Namen Lola Landau, beschrieben. Das lyrische Ich erfährt während des Einschlafens körperliche Entspannung und löst sich von den Belastungen des Alltags. Als Gegenstück zum Einschlafen wird in Landaus Gedicht Erweckung das Aufwachen aus dem Schlaf thematisiert. Das Aufwachen wird hier als Negativerfahrung dargestellt, da das lyrische Ich gewaltsam in die Realität zurückgeholt wird. Beide Gedichte sind Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit, wobei der Schwerpunkt auf der Interpretation des Gedichtes Schlaf liegt. Im Anschluss werden die Gedichte hinsichtlich der Realitätsflucht, der Ich-Dissoziation und der Intention verglichen, wobei Bezug auf den Expressionismus genommen wird. Anhand der Gedichte soll der Frage nachgegangen werden, ob der Mensch im Schlaf Vollkommenheit und Erfüllung findet.

1993 wurde ein Gedichtband von Hartmut Vollmer mit Lyrik expressionistischer Dichterinnen veröffentlicht um expressionistische Gedichte weiblicher Dichterinnen neu in den Fokus zu rücken. Darin sind unter anderem Gedichte von Lola Landau enthalten. Über ihr Leben und Werk wurde im Jahr 2000 durch den Philo fine arts Verlag eine Monografie von Birgitta Hamann veröffentlicht. Auch Bernadette Rieder widmete sich in ihrer Dissertation dem Werk und den Lebenswegen sechs deutschsprachiger Autorinnen in Israel, darunter Lola Landau. Insgesamt ist die Forschungsliteratur über Lola Landau und ihre Gedichte nicht sehr umfangreich. Neben einem Teilnachlass Lola Landaus im Deutschen Literaturarchiv in Marbach befindet sich ein unveröffentlichter Nachlass im Privatbesitz ihres Sohnes Andreas Marck.

2 Interpretation des Gedichts Schlaf

2.1 Sprechsituation und Perspektive des lyrischen Ichs

Das Gedicht Schlaf erschien erstmal im von Heinrich Eduard Jacob 1924 herausgegebenen Gedichtband „Verse der Lebenden“. Im Gedicht spricht ein lyrisches Ich[2] über sich selbst und beschreibt seinen Körper im Zustand während des Einschlafens aus der Metaperspektive. Der Begriff des lyrischen Ichs wurde entscheidend von Margarete Susmann geprägt „um das ‚redende Ich‘ im Gedicht von dessen Autor in biographischer Hinsicht abzugrenzen“[3] und soll im Folgenden diesem Verständnis unterliegen. Das lyrische Ich bleibt bei der Beschreibung des Körpers ganz bei sich selbst ohne eine weitere Person anzusprechen, wodurch eine Ruhe bei der Leserin und dem Leser entsteht, die zur Situation des Einschlafens passt. Es entsteht der Eindruck, als würde das lyrische Ich die Rolle eines außenstehenden Beobachters einnehmen, da es Dinge beschreibt, die es während des Einschlafens eigentlich nicht an sich selbst sehen kann. Mit geschlossenen Augen beschreibt es wie „[d]as scheue Licht an [s]einer Stirn zerschellt“ (S 3)[4] und Körperteile wie „Mund“ (S 2) und „Stirn“ (S 3) im eigenen Gesicht aussehen. Die Sprecherperspektive nimmt eine distanzierte Perspektive zum menschlichen Körper beim Einschlafen ein. Dieser Abstand macht es möglich den Körper mit einer emotionslosen und sehr biologischen Denkweise zu betrachten wie beispielsweise in Vers fünf: „Die müden Hände starben ab“ (S 5). Dabei wird der Mensch auf seine Körperlichkeit reduziert um dessen Vergänglichkeit bewusst zu machen, was sich besonders in Vers neun „Kein spitzer Weg zerfleischt den armen Fuß“ (S 9) zeigt.

Auffällig ist, dass das lyrische Ich im Laufe des Gedichtes immer distanzierter bei der Beschreibung des eigenen Körpers wird. Zunächst werden in Vers eins bis vier Possessivpronomen wie bei „mein Haupt“ (S 1), „mein Mund“ (S 2), „an meiner Stirn“ (S 3) und „mein Laken“ (S 4) genutzt, um eine enge Verbindung zwischen Körper und Seele zu beschreiben. Unter dem Begriff Seele soll hierbei all das zusammengefasst werden, was den lebenden Menschen neben einem funktionierenden Körper ausmacht. Demzufolge die Psyche eines Menschen, mit dem das lyrische Ich denkt, fühlt und handelt und dessen Sein zu einem Ich formuliert. Ab Strophe drei sind es nur noch „[d]ie [...] Hände“ (S 5), „[a]us losen Fingern“ (S 6), „[d]ie Lippe“ (S 7), „[e]ntleibte Seele“ (S 8) und „de[r] arme[...] Fuß“ (S 9), die auf distanziertere Weise beschrieben werden. Lediglich in Vers zehn steht vor „Augen“ (S 10) noch das Personalpronomen „mein“. Der zunehmende Abstand zum eigenen Körper spiegelt die Situation während des Einschlafens wieder, bei der sich die Seele immer mehr vom einschlafenden Körper löst.

Das Gedicht ist vorwiegend im Präsens, Indikativ und Aktiv geschrieben und macht damit deutlich, dass das Geschehen unmittelbar in diesem Augenblick stattfindet. Lediglich in Vers fünf und zehn wechselt die Zeitform zum Präteritum und hebt diese Verse damit besonders hervor. Die Hände in Vers fünf sind so erschöpft, dass sie vor dem Schlafen, vielleicht schon während der Arbeit „abstarben“, insofern einfach nur noch schlaff herunterhängen ohne etwas tun zu wollen. In Vers zehn wird mit dem Präteritum angedeutet, dass die Augen bereits geschlossen sind, da im nächsten Moment der Schlaf eintritt und somit davon ausgegangen werden kann, dass das lyrische Ich bereits seit einiger Zeit geschlossenen Augen hat.

2.2 Inhalt und Form

Bei dem Titel Schlaf entsteht die Erwartungshaltung, dass es sich im Gedicht um eine Situation während des Schlafens handelt. Stattdessen wird im Gedicht die Zeit vor dem Einschlafen beschrieben. Der Schlaf ist ein Zustand nach dem sich das lyrische ich sehnt, da es dabei „Erlösung“ (S 1) erfährt. Erlösung von einem Alltag, der mit körperlich anstrengender Arbeit verbunden ist, da „[d]ie müden Hände [absterben] [...] vom Tun“ (S 5) und die „losen Finger[...] [...] das singende Gerät“ (S 6) fallenlassen. Mit einem singenden Gerät könnte eine Maschine gemeint sein, die immer wieder die gleichen Töne von sich gibt und Takt und Tempo der Arbeit bestimmt. Die Maschine wird damit zum „Disziplinierungsinstrument im Dienste technischer und ökonomischer Rationalität“[5]. Der Schlaf hingegen ist eine Phase in der das lyrische Ich frei von Sorgen und Ängsten ist, da „[d]ie Lippe [...] nicht [mehr] Flüche, nicht Angstgebet“ (S 7) hervorpressen muss und die „Seele [...] nun eingefaltet ruhn“ (S 8) darf. Im Schlaf ist der Körper vor den Gefahren und Anstrengungen des Alltags geschützt und der Fuß wird von keinem spitzen Weg zerfleischt (Vgl. S 9) Diese Sicherheit und die körperliche Entspannung begleiten das lyrische Ich sobald es im Bett liegt. Im Kontrast dazu ergeht es der Seele anders, da sie zunächst noch beschäftigt ist. Erst die „[e]ntleibte Seele darf [...] ruhn“ (S 8) und findet wie der Körper zuvor Entspannung. Das lyrische Ich erfährt mit dem Einschlafen eine Ich-Dissoziation, worunter eine „Trennung [oder] Zerteilung“[6] des Ichs verstanden wird, denn die Seele „entleibt“, also entfernt sich vom Körper. Die Ich-Dissoziation tritt im Gedicht nur im Schlaf auf und es ist davon auszugehen, dass dieser Zustand beim Aufwachen aufgelöst wird.

Zum Schlafen hat sich das lyrische in einen abgedunkelten Raum begeben in dem „[d]as scheue Licht an [s]einer Stirn zerschellt“ (S 3) und es mit einer weißen Decke zugedeckt ist (Vgl. S 4). Alles was das lyrische Ich am Schlafen hindert, wird beseitigt: „[d]ie Stacheln [der] Augen [werden] aus der Stirn“ (S 10) gerissen und „Qualm und Ruß“ (S 11) wird ausgeatmet. Den Höhepunkt des Gedichts bildet der Moment, in dem das lyrische Ich wirklich einschläft und sich „[h]inüber [...] in den Gletschern blauen Schlafs“ (S 12) begibt.

Ein regelmäßiger Strophenaufbau mit jeweils zwei Versen in den ersten beiden Strophen und jeweils vier Verse in Strophe drei und vier durchziehen das Gedicht. Die damit erzeugte Ordnung passt zur ruhigen Atmosphäre während des Einschlafens. Nur bei „zerfällt“ (S 1) und „zerschellt“ (S 3) umschließt ein Kreuzreim zwei Verse und verbindet damit Strophe eins und zwei, die im Vergleich zu Strophe drei und vier zwei statt vier Verse haben. Die beiden übrigen Verse von Strophe eins und zwei sind reimlos und erhöhen durch das unerwartete Ende des Verses die Spannung bei der Leserin und dem Leser. In Strophe drei spiegelt ein umschließender Reim mit „Tun“ (S 5) und „ruhn“ (S 8) und ein davon eingeschlossener Paarreim mit „Gerät“ (S 6) und „Angstgebet“ (S 7) die inhaltliche Einheit der Strophe wider. In Strophe vier umschließt ein Kreuzreim mit „Fuß“ (S 9) und „Ruß“ (S 11) wieder zwei reimlose Verse und die übrigen Verse sind reimlos. Die Parallele zu Strophe eins und zwei lässt eine geordnete Reimstruktur trotz reimloser Verse im Gedicht erkennen. Diese ästhetische Ordnung als Gestaltungsprinzip vereint den Inhalt der Verse zu einem Ganzen. Ein fünfhebiger Jambus durchzieht viele Verse des Gedicht und fördert die ruhige und gleichmäßige Stimmung des Gedichts. Insgesamt lässt sich eine gewisse Regelmäßigkeit nachweisen und ein Festhalten an traditionellen Reimmustern. Die traditionellen Elemente des Gedichts werden durch die provokante Sprache gebrochen, welche im folgenden Kapitel untersucht werden soll. Erst mit dieser befreit sich das Gedicht von Konventionen und erzielt einen Überraschungseffekt bei der Leserin und dem Leser durch den Kontrast zwischen formalem Aufbau und Inhalt.

2.3 Sprache und stilistische Gestaltung

Das Gedicht weist eine einfache Sprache mit vielen bildhaften sprachlichen Mitteln auf. Neben einer einfachen Syntax sind einige Inversionen wie in Vers drei „[d]as scheue Licht an meiner Stirn zerschellt“ enthalten. Im Gedicht regiert „[g]emäß dem Verständnis der expressionistischen Wortkünstler [...] das Wort den Satz, und nicht umgekehrt“[7] wodurch bereits einzelne Wörter bedeutungstragend sind. So steht das Wort „Erlösung“ (S 1) als erstes Wort in Vers eins elliptisch in der Funktion des Hauptsatzes und wird von einem Nebensatz mit dem einleitenden Wort „da“ (S 1) näher beschrieben. Das Wort steht somit isoliert vor einem Komma und erhält sprachlich und inhaltlich eine herausragende Stellung. Die Erlösung steht für das lyrische Ich als Synonym für Schlaf und ist gleichzeitig Ausgangspunkt für alle weiteren Verse des Gedichts in denen beschrieben wird wie diese eintritt. Die visuell geprägte Sprache des Gedichts bewegt sich im Spannungsfeld zwischen einerseits schönen, harmonischen und sanften Wortfeld und andererseits brutalen, anstößigen und dynamischen Wörtern. So erzeugen Ausdrücke wie „Erlösung“ (S 1) „Schlaf“ (S 1), „Schneefeld“ (S 4), „singend[...]“ (S 6), „ruhn“ (S 8), „süß[...]“( S 11), „Gletscher[...]“ (S 12) und „blau[...]“ (S 12) eine beruhigende, idyllische Atmosphäre, die den Wörtern „zerfällt“ (S 1), „rot“ (S 2), „zerschellt“ (S 3), „starr“ (S 4), „eingescharrt“ (S 4), „starben ab“ (S 5), „Flüche“ (S 7), „Angstgebet“ (S 7), „[e]ntleibt“ (S 8), „zerfleischt“ (S 9), „Stacheln“ (S 10), reißen (Vgl. S 10), „Röcheln“ (S 11), „Qualm“ (S 11) und „Ruß“ (S 11) gegenüberstehen. Diese hinterlassen eine beängstigende, düstere Stimmung bei der eine gewisse Nähe zum Tod hergestellt wird, da man „Haupt“ (S 1) mit Enthauptung, „starr“ (S 4) mit Leichenstarre oder „Röcheln“ (S 11) mit Ersticken in den Kontext des Gedichtes assoziieren könnte. Die Anspielung auf den Tod macht deutlich, dass auch der Tod für den Menschen eine Erlösung sein kann.

Die kontrastierende Sprache spiegelt den ambivalenten Zustand des lyrischen Ichs vor dem Einschlafen wieder. Alles Grausame, Eklige, und Beängstigende, das den Alltag des lyrischen Ichs ausfüllt, darf es im Schlaf hinter sich lassen und kehrt dabei in eine idyllische, sorgenlose Welt ein. Der Zeitpunkt vor dem Einschlafen ist der Moment, an dem das Schöne das Schlechte ablöst, was sich daran zeigt, dass das Gedicht mit dem idyllischen Bild „Gletschern blauen Schlafs“ (S 12) endet.

Das Bild des zerfallenen Hauptes in Vers eins zeigt unter Verwendung einer kühlen und sachlichen Sprache die komplette innerliche und äußerliche Entspannung. Äußerlich fällt jede Anspannung vom Gesicht des lyrischen Ichs und gleichzeitig kann es sich von allen störenden Gedanken lösen. Der Mund des lyrischen Ichs wird in Vers zwei mit einem roten Zündholz verglichen, das im Raum immer dunkler wird. Die Farbsymbolik der Farbe Rot spiegelt die Lebenskraft und Aktivität des lyrischen Ichs wider, die nun beim Schlafen in den Hintergrund rückt, da das Feuer immer schwächer wird, von der Dunkelheit des Raumes überdeckt wird und schließlich verglimmt. In Vers drei wird ebenfalls die Dunkelheit des Raumes und damit die Einkehr in den Schlaf geschildert. Die Personifikation „[d]as scheue Licht [...] zerschellt“ (S 3) veranschaulicht die Situation, bei der nur wenig Licht in den Raum dringt, sehr lebendig. Die Ähnlichkeit zu einer Leiche wird in Vers vier mit dem starren Daliegen und in weißen Laken eingescharrt (Vgl. S 4) erzeugt. „[I]m Schneefeld meiner Laken“ (S 4) lässt auf eine weiße Decke, ein weißes Bettlaken und Kissen schließen und beschreibt das Liegen des lyrischen Ichs sehr harmonisch, da auch in einem weiten Schneefeld alles ruhig und verlassen ist. Gleichzeitig verschwimmen alle Körperteile des lyrischen Ichs und Arme und Beine sind unter der Decke nicht mehr abgrenzbar, was die Bedeutungslosigkeit dieser im Schlaf verdeutlicht. Auch wenn hier nur das bewegungslose Ruhen mit einer weißen Zudecke des lyrischen Ichs beschrieben wird, bleibt der Gedanke an eine Tote oder einen Toten. Die Anspielung zum Tod macht bewusst, dass der Körper im Schlaf oder im Tod, anders als im Alltag, keinen Nutzen erfüllen muss. In diesem Vers zeigt sich das Nebeneinander der beiden kontrastierten Wortfelder und damit die Zerrissenheit des lyrischen Ichs zwischen realer Welt und Traumwelt besonders. Im letzten Vers der Strophe drei hat sich die Seele endgültig vom Körper gelöst und „darf nun eingefaltet ruhn“ (S 8), wie ein Kleidungsstück, das sorgfältig ausgezogen wurde und nun zusammengelegt daliegt. Der „spitze[...] Weg“ (S 9) in Vers neun kann als Sinnbild für einen schwierigen Lebensweg und Alltag stehen, welcher im Schlaf in den Hintergrund rückt. Das Zerfleischen des Fußes an dem spitzen Weg zeigt auf brutale und ekelerregende Weise die große Anstrengung des lyrischen Ichs auf diesem Lebensweg. Gleichzeitig wird in Vers zehn die moderne Arbeitswelt zu Beginn des 20. Jahrhunderts angesprochen und deren Auswirkung auf das lyrische Ich beschrieben. Die Arbeitswelt veränderte sich dahingehend, dass „[d]ie Arbeitsteilung und Bürokratisierung [...] in der Industrie und bei Dienstleistungen [...] [zunimmt], und in einigen Sektoren [...] mit dem angestellten Manager [...] und auch mit den Eliteberufen des Technikers und Ingenieurs – entsprechend neue Formen der Arbeit“[8] hinzukamen. Durch die Arbeitsteilung wurde häufig immer die gleiche Arbeit verrichtet, wodurch das Empfinden für den Nutzen der Arbeit verlorenging. Die Wimpern der Augen werden hier als „Stacheln“ (S 10) betitelt, welche beim Schließen der Augen aus der Stirn gerissen werden, als würden sie sich nicht mehr von selbst schließen lassen. Damit wird die große Anstrengung mit der das lyrische Ich tagsüber gegen die Müdigkeit angekämpft visuell dargestellt. Im harten Alltag, in dem der Körper des lyrischen Ich funktionieren musste, durfte es keine Fehler begehen. Überspitzt gesagt blieb dem lyrischen Ich nicht einmal Zeit zum Blinzeln. Die Interjektion „O“ (S 11) ist Ausdruck der Erleichterung bei der Entspannung, die beim Einschlafen einsetzt. Nun münden alle vorherigen Beschreibungen in den Höhepunkt des Gedichts, bei dem das lyrische Ich endgültig einschläft. Das Oxymoron „süßes Röcheln“ (S 11) lässt die Leserin und den Leser an dieser Stelle über den erzeugten Widerspruch stolpern. Das Röcheln ähnelt mit dem vorangestellten Adjektiv „süß“ einem schwachen Röcheln, denn wäre das Röcheln heftig, so würde die Sorge entstehen, dass das lyrische Ich ersticken könnte. Stattdessen ist es nur ein kleiner Kampf der Atemwege den „Qualm und Ruß“ (S 11) des Tages loszuwerden. Qualm und Ruß schließen dabei auf eine industrialisierte Umgebung, wahrscheinlich eine Stadt, in der viele Fabriken stehen und in der das lyrische Ich lebt und arbeitet. So wie die Fabriken mit den Maschinen Schadstoffe in die Luft ausstoßen, so muss auch der Körper des lyrischen Ichs diese Schadstoffe loswerden. Das lyrische Ich ist wie eine Maschine dieser Stadt, die im Sekundentakt nur arbeitet und für wenige Stunden nachts abgeschaltet wird. Doch von diesem Leben in der Großstadt und dem Alltag voll körperlich schwerer Arbeit entfernt sich das lyrische Ich nun und gleitet „hinüber“ in eine andere Welt. Der Ortswechsel zeigt die zwei Sphären zwischen denen sich das lyrische Ich die ganze Zeit bewegt hat bis es in die des Schlafens hinübergegangen ist. Dabei bilden Gletscher das Gegenbild zu einer dreckigen und vollen Großstadt, denn Gletscher liegen ruhig und verlassen meist Jahrtausende lang bewegungslos in der Landschaft. Die Farbe Blau bildet ebenfalls einen Kontrast zur Farbe Rot in Vers zwei. Blau als Farbe der Ruhe, Besonnenheit und Beständigkeit spiegelt den erfüllten Zustand des lyrischen Ichs im Schlaf wider.

3 Vergleich mit dem Gedicht Erweckung

3.1 Inhalt und Interpretation

Das Gedicht Erweckung erschien erstmals im August 1920 in „Die Flöte“, der Monatsschrift für neue Dichtung. Brigitte Hamann interpretiert das Gedicht in ihrer Monografie als Liebesgedicht, in dem das Aufwecken „des Ichs durch die Liebe bzw. den Geliebten“[9] erfolgt, was im Folgenden widerlegt werden soll. Im Gedicht wird das Aufwachen aus dem Schlaf und das Hinübergehen in die Realität beschrieben. Damit bildet das Gedicht Erweckung ein Gegenstück zum Gedicht Schlaf. Das lyrische Ich spricht zunächst über sich, wie es in friedlicher Ruhe und Geborgenheit „in einer Höhle aus Kristall“ (E 1)[10] schläft. Die Metapher der Höhle verbildlicht wie stark das lyrische Ich von der realen Welt abgeschirmt ist und wie weit es sich von dieser Welt durch den Schlaf entfernt hat. Auch beim Gedicht Schlaf gibt es die Gletscher als Naturbild, um die Abgrenzung zur realen Welt darzustellen. Gleichzeitig wird in diesem Gedicht ebenfalls ersichtlich, dass das lyrische Ich als Erzähler allwissend ist und trotz des Schlafes und der Distanz weiß, wie die Umwelt aussieht und was außerhalb des Raumes passiert, denn in Vers vier heißt es: „draußen tobte böse Luft und Schall“ (E 4). Das Gedicht ist durchgehend im Präteritum geschrieben und erweckt damit den Eindruck als würde das lyrische Ich aus seiner Erinnerung heraus über das Aufwachen erzählen. Die Bilder und die Sprache wie beispielsweise das bedrohlich wirkende „Jagdgekläff von Hunden“ (E 11) durchdringen die Leserin und den Leser so tief, dass es fast schon furchterregend ist, auf welche Weise das lyrische Ich vom Aufwachen aus der Erinnerung heraus spricht. Eine Besonderheit stellt die Schilderung von Träumen durch das lyrische Ich in der zweiten Strophe dar. Hier treten neben Schilderungen aus der Außenwelt Schilderungen vom Inneren des lyrischen Ichs hinzu. Es bleibt bei einer optischen Beschreibung ohne Werturteil oder Meinung. Bei der Schilderung der Träume in Vers sechs bis sieben „[d]a glitten Fische, rot mit goldnen Schuppen. / Es tönten Klippen, singende Schaluppen„ (E 6 f.) werden “[l]ogische empirische Zuordnungen von Farben und Objekten [...] durch ein assoziatives Bezugssystem ersetzt“[11] welches Entfremdung auslöst. Die Träume sind verfärbte Elemente der Welt, die durch die Isolation des lyrischen Ichs durchdringen und werden als Teil des friedlichen Schlafens gesehen, da es keine Albträume sind.

In Strophe drei spricht das lyrische Ich über den Tag, indem der Tag personifiziert wird. Diese Personifizierung unterstreicht den übermächtigen Einfluss des Tages. Der Tag steht im Gedicht für den Alltag, der beim lyrischen Ich mit Belastung verbunden wird. In Vers 16 kommt mit „[d]ein Arm ergriff mich, ungeheurer Strang“ diese Grausamkeit besonders zum Ausdruckt. Auch im Gedicht Schlaf ist der Alltag mit Last und Arbeit verbunden, was jedoch im Gedicht Erweckung zu einer Ohnmacht gegenüber dem Alltag gesteigert wird. Das lyrische Ich gerät gegenüber der übermächtigen Umwelt in eine passive Haltung, wie beispielsweise in Vers 17 „du trugst mich im Orkan“. Der Tag wird in den folgenden Strophen mit dem Personalpronomen „du“ angesprochen: „dein[...] Gang“ (E 13), „[d]ein Schritt“ (E 14), „[d]ein Arm“ (16). Mit dem Tag erfolgt nun das Aufwachen, welches in Strophe vier und fünf geschildert wird. Das Aufwachen erfolgt durch das lyrische Ich ungewollt und es erfährt durch den Tag eine brutale und gewaltsame Weise aus dem Schlaf herauszutreten wie in Vers 12: “[d]a klirrte laut mein Schlaf von deinem Gang“ deutlich wird. Durch die groteske Verzerrung der Bilder kommt es bei der Leserin und dem Leser zu einer Entfremdung. Der Tag nimmt das lyrische Ich so sehr ein, dass daraus ein „[w]ir“ (E 19) entsteht und sich das lyrische Ich mit dem Tag verbindet, was „unsre Füße“ (E 18) zum Ausdruck bringt. Die Steigerung der Pronomen von „[i]ch“ (E 1), zu „du“ (E 17) und letztendlich zu einem „[w]ir“ (E 19) zeigt die starke Dynamik des Gedichtes und die schnelle Veränderung, die das lyrische Ich durchlebt.

[...]


[1] Christian Becker-Carus (2014): Schlaf. In: Dorsch – Lexikon der Psychologie. Hg. von Markus Antonius Wirtz. 18. Auflage. Bern: Hogrefe Verlag 2014, S. 1364.

[2] Das lyrische Ich kann sowohl weiblich, als auch männlich sein. Zum erleichterten Verständnis wird das Pronomen „sein“ verwendet.

[3] Jan Borkowski/ Simone Winko: Wer spricht das Gedicht? Noch einmal zum Begriff lyrisches Ich und zu seinen Ersetzungsmöglichkeiten. In: Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur. Hg. von Hartmut Bleumer u.a.. Berlin u.a.: De Gruyter Verlag 2011, S.45.

[4] Das Gedicht Schlaf von Lola Landau wird hier und im Folgenden nach Heinrich Eduard Jacob Gedichtband Verse der Lebenden von 1927 zitiert und mit der Sigle S und dem entsprechenden Vers angegeben.

[5] Thomas Anz: Literatur des Expressionismus. Stuttgart u.a.: J.B. Metzler Verlag 2010, S. 121.

[6] Markus Antonius Wirtz u.a.: Dissoziation. In: Dorsch – Lexikon der Psychologie. Hg. von Markus Antonius Wirtz. 18. Auflage. Bern: Hogrefe Verlag 2014, S. 393.

[7] Markus Fischer: Kunst am Wort, Spiel mit der Sprache – Avantgardistische Tendenzen in der Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts. In: Temeswarer Beiträge zur Germanistik. Band 12. Temeswar: Mirton Verlag 2015, S. 93.

[8] Frank Krause: Literarischer Expressionismus. Göttingen: V&R unipress 2015. S. 89.

[9] Birgitta Hamann: Lola Landau. Leben und Werk. Ein Beispiel deutsch-jüdischer Literatur des 20. Jahrhunderts in Deutschland und Palästina/ Israel. Band 25. Berlin: Philo fine arts Verlag 2000, S. 46.

[10] Das Gedicht Erweckung von Lola Landau wird hier und im Folgenden nach Hartmut Vollmers Gedichtband „In roten Schuhen tanzt die Sonne sich zu Tod“ von 1993 zitiert und mit der Sigle E und dem entsprechenden Vers angegeben.

[11] Antje Jantz: Zur Semantik der modernen Melancholie in der Lyrik des Expressionismus. Heidelberg: 1998, S. 18.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Der Schlaf als Erlösung vom Alltag? Die Alltagsflucht in zwei expressionistischen Gedichten von Lola Landau
Note
1,0
Autor
Jahr
2018
Seiten
16
Katalognummer
V444429
ISBN (eBook)
9783668841185
ISBN (Buch)
9783668841192
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schlaf, Traum, Gedicht, Expressionismus, Lola Landau, Leonore Landau, Einschlafen
Arbeit zitieren
Simone Kappel (Autor:in), 2018, Der Schlaf als Erlösung vom Alltag? Die Alltagsflucht in zwei expressionistischen Gedichten von Lola Landau, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/444429

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