Untersuchung über den Umgang mit weiblicher Schuld


Zwischenprüfungsarbeit, 2005

39 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsübersicht

1. Einleitung

2. Heide Oestreich schreibt über Lynndie England in der taz

3. Die Opfer-Täter-Betrachtungen in der Frauenforschung
3.1. Margarete Mitscherlich und ihre Theorie der weiblichen Täterschaft
3.2. Karin Windaus-Walsers These der Täterschaft von Frauen
3.2.1. allgemeine Kritik am Diskurs über die Täterschaft von Frauen
3.2.2. Kritik an Margarete Mitscherlich
3.2.3. Karin Windaus-Walsers These der weiblichen Täterschaft

4. Resümee
4.1. Das Milgram-Experiment
4.2. Das Stanford-Prison-Experiment
4.3. Anwendung der psychologischen Experimente

Literaturliste

1. Einleitung

Am 28. April 2004 wurden erstmals Fotos im US-Fernsehen veröffentlicht, die die Folterungen und Misshandlungen im irakischen Gefängnis Abu Ghraib dokumentieren. Auf vielen dieser Fotos ist die Soldatin Lynndie England deutlich zu erkennen. Offenbar hatte Lynndie England sich an den Misshandlungen irakischer Gefangener beteiligt.

Darin kann man den Anstoß für die weltweite Debatte über die Folterszenen im Irak begründet sehen. Der Empörung konnte kaum Einhalt geboten werden. Interessant scheint der Grund für das Unverständnis. Ist es eine Empörung aufgrund der generell erfolgten Misshandlungen, wie sie von mehreren US-Soldaten im Irak begangen wurden? Oder ist es eine Empörung, die sich in großem Maße der Abbildung einer Frau, die foltert widmet? Noch immer stößt die Vorstellung von gewaltfähigen und gewaltbereiten Frauen auf Unverständnis und Widerspruch. Durch Lynndie England wurde eine bereits sehr lang andauernde Debatte in der deutschen Frauenforschung wieder zu neuem Leben erweckt. Die Frage nach der Schuldhaftigkeit von Frauen.

Der Ursprung dieser Debatte ist schon in der frühen NS-Forschung begründet, die den Frauen im Nationalsozialismus keine für diesen bedeutende Rolle beimaßen und Frauen dementsprechend in ihre Betrachtungen nicht miteinbezogen. In den siebziger Jahren, nachdem man sich zunehmend der Rolle der Frauen bewusst wurde, suchte man lediglich nach Widerstandskämpferinnen und versuchte ausnahmslos das Bild der leidtragenden Frau als eine Art Überlebensarbeiterin zu prägen. Erst seit Mitte der achtziger Jahre sind Zweifel an dieser Freisprechung der Frauen von jeglicher Schuld deutlich geworden. Berechtigte Zweifel an einer möglichen „Gnade der weiblichen Geburt“[1]. Stück für Stück versuchten Historikerinnen seither zu beweisen, dass es sich bei der Rolle der Frauen um eine zweidimensionale Rolle handelt. Sie waren nicht nur Opfer der nationalsozialistischen Politik, sondern machten auch andere zu Opfern. Es galt und gilt zu beweisen, dass die Täterrolle der Frauen keine Ausnahmeerscheinung war und ist. Diese Frage über die Täterschaft der Frauen während des Nationalsozialismus ging als „Historikerinnenstreit“ in die Literatur ein. Dabei geht der Historikerinnenstreit in seinen Konsequenzen bei weitem über den Nationalsozialismus hinaus. Seine tragenden Motive sind Klärungen bezüglich der Fragen nach Trennschärfe und noch vorhandener Tragfähigkeit der Geschlechterdifferenz. Damit verbunden ist auch die Frage, ob von geschlechtsspezifischer Gewalt ausgegangen werden kann und muss. Durch diese Motive begründet ist der Einfluss der Frauenforschung über den Nationalsozialismus auf die Geschlechter- und die Gewaltfrage von großer Bedeutung.[2]

Ich werde im Rahmen dieser Hausarbeit versuchen Lynndie England und ihre Darstellung in den Medien in die Debatte um die Täterschaft von Frauen einzuordnen. Dazu werde ich zunächst einen Artikel über Lynndie England, der in der taz erschienen ist, vorstellen. Geleitet von den Vorstellungen der Autorin des Artikels werde ich untersuchen, inwiefern sich diese Theorie mit der von Vertreterinnen der Opfer-Täter-Debatte über den Nationalsozialismus deckt und inwiefern sie sich anhand dieser theoretisch begründen lässt. Dazu stelle ich zunächst Margarete Mitscherlich und ihre Vorstellung von der weiblichen Rolle im Nationalsozialismus vor. Um auch einen anderen Standpunkt innerhalb der Debatte vorstellen zu können, werde ich Karin Windaus-Walsers Theorie der weiblichen Täterschaft darstellen. Dies auch, um die großen Gegensätze innerhalb der Debatte zu veranschaulichen. Leitend soll dabei die Frage nach der Schuldfähigkeit von Frauen sein. Da die Herangehensweise sowohl von Margarete Mitscherlich, als auch von Karin Windaus-Walser sehr von der Psychoanalyse geprägt ist bieten sich, meines Erachtens, in der Psychologie völlig andere Erklärungsansätze für die Täterschaft von Frauen. Diese können eher empirisch begründet werden und erscheinen demnach auch oftmals plausibler. Daher werde ich um meine Arbeit abzuschließen die Vorstellungen von Margarete Mitscherlich, Karin Windaus-Walser und auch die von Heide Oestreich mit psychologischen Experimenten (hier sind das Milgram-Experiment und das Stanford-Prison-Experiment gemeint) konfrontieren, die zum einen Analogien zur Situation des Nationalsozialismus aufweisen und zum anderen Analogien mit der Situation Lynndie Englands in Abu Ghraib. Ich werde versuchen an der Empirie dieser Experimente gemessen die Theorien der drei Autorinnen zu widerlegen oder auch zu bestätigen.

2. Heide Oestreich schreibt über Lynndie England in der taz

In einem Artikel vom 11. Mai 2004 versucht Heide Oestreich[3] ein Bildnis der 21jährigen US-Soldatin Lynndie England zu entwerfen. Darin gilt diese zunächst als die „Ikone des bösen Amerika“[4]. Aber laut Heide Oestreich ist dies bei weitem nicht die einzige Rolle, die Lynndie England einnimmt. Sie ist Täterin, Instrument und Opfer in einem. Als medial verwendete Täterin ließe sich die Soldatin eindeutig anhand der vielen Folterbilder, auf denen sie mehrmals eindeutig zu identifizieren sei, ausmachen. Zu oft und zu eindeutig ist die Soldatin zu erkennen scheint es Oestreich, so dass sie zu dem Gedanken kommt, dass offenbar jemand „mit Hilfe von Lynndie England kommunizieren“[5] möchte. Somit fragt sie sich, was genauer durch die Bilder vermittelt werden soll. Lynndie England erinnere durch ihre Posen an eine Domina, „Provokateurin der Angstlust des Mannes“[6]. Man sei an ohnmächtige Männer und mächtige Frauen bzw. Mütter erinnert. Doch anstatt die untypische Rollenverteilung dieser Situation anzunehmen, bestätigten die Bilder, Heide Oestreich nach, paradoxerweise doch wieder deren Gegenteil. Auch wenn Lynndie England auf den Fotos als Domina posiere, so behalte in der Realität „der amerikanische Mann die Fäden in der Hand“[7]. Im Unterschied zu der typischen Domina-Untergebenen-Konstellation stelle hier nicht der Mann den Untergebenen, sondern allgemein der Gefangene. Der männliche Soldat sei so mächtig wie eh und je. „Nicht der männliche Soldat ist ohnmächtig – der Gefangene ist es, an dem die Ohnmachtsfantasien inszeniert werden.“[8] Zumal ja auch genügend Fotos belegen, dass auch durchaus männliche Soldaten folterten.

Im militärischen System scheint somit die Welt noch in ihren gewohnten Fugen zu sein, denn „das System Militär ist nach wie vor eines von männlichen Machtfantasien“[9] regiertes. Nicht der Soldat ist in diesen Fantasien der Ohnmächtige, sondern der Feind. Und nicht nur der Feind ist ein Untergebener dieses Systems, auch die Frau ist es. Frauen und Feinde, Feinde und Frauen, beides Untergebene, beides Opfer des von männlichen Machtfantasien dominierten Systems Militär. Somit ist auch die Brücke für die typische Situation geschaffen, „[…] das männliche Militär als Täter und den weiblichen Menschen als Opfer, die dazugehörige Situation ist die Vergewaltigung.“[10]

Man solle sich also von der scheinbaren Machtstellung der Lynndie England nicht täuschen lassen. Sie ist mächtig, mächtig gegenüber dem Feind. Aber sie ist auch Opfer, Opfer des männlichen Systems Militär, das sie als Instrument benützt um den Feind zu demütigen. Im System Militär allerdings wird sie stets Untergebene bleiben und dem männlichen Soldat, der die Fäden in der Hand hält, mit Gehorsam begegnen. Anscheinend wird die Frau nicht nur als Instrument für die Demütigung muslimischer Gefangener, sondern auch zur Aufrechterhaltung des eigenen Image benötigt. So schreibt Heide Oestreich, dass sich „gerade das Männlichkeitsbild von Soldaten […] aus der Abwertung alles Weiblichen“[11] speise. Frauen sind demnach notwendig um die Differenz zu verdeutlichen. Die Stärke und Überlegenheit der Männer steht der Schwäche und Untergebenheit der Frauen gegenüber.

Und so wollen uns die Fotos einer folternden Lynndie England Glauben machen, es wäre zu einer Veränderung in der Hierarchie der Geschlechter gekommen, man sehe eine mächtige Frau aber real bilden sie nur eine „schwache Frau“ ab, die einen Gefangenen misshandeln darf.[12] Mächtig ja, aber nur auf Befehl. Die Komplexität der verdeckten Rolle der Lynndie England wird abermals mit dem folgenden Zitat deutlich: “Nachdem sie diesen Dienst versehen hat, ist die Rolle der Lynndie England vorerst erfüllt, penetriert fährt sie nach Hause, schwanger.“[13]. Erneut werden wir daran erinnert, dass sie Instrument und Opfer ist. Die Opferstellung wird deutlich, wenn man sich nochmals Heide Oestreichs Gleichstellung der muslimischen Gefangenen und der Frauen im Wertesystem des männlichen Militärs vergegenwärtigt: „Der Feind wird penetriert, die Frau wird penetriert.“[14] Offenbar ist Lynndie England Opfer der „dazugehörigen Situation“ zwischen „weiblichen Menschen“ und „männliche[m] Militär“[15] geworden. Daraus resultierend kehrt sie schwanger heim. Neben dieser Dimension der Opfer-Rolle der Frauen, die gerne übersehen werde, macht Heide Oestreich auf weitere Geschehnisse in Abu Ghraib aufmerksam. So sollen auch weibliche Gefangene vergewaltigt worden sein. Doch auch hier werde der Frau die Opfer-Rolle aberkannt indem man diese Ereignisse schlichtweg zu ignorieren scheint. „Wir sehen nicht die Frau als Opfer, wir sehen nur die Frau als Täterin. […] Kaum spielen Frauen im Militär eine Rolle, sind sie teuflisch.“[16]

Interessanterweise macht Heide Oestreich im letzten Abschnitt ihres Artikels auf einen Aspekt aufmerksam, den sie bisher völlig zu negieren schien. Nicht stringent ihrer bisherigen Argumentation folgend fragt sie nach der Person hinter den Bildern, nach der realen Lynndie England. Und sie scheint sogar geneigt ihr ein Eigenleben als Person, geleitet von eigenen Motiven zuzugestehen. Ist es so abwegig hinter den Fotos eine eigene Absicht zu vermuten? Laut Beschreibungen von früheren Bekannten scheint gerade dies ausgeschlossen, sie zeigen die junge Soldatin als eine durchaus friedfertige, nicht zur Gewalt neigende Person.

Heide Oestreich vermerkt hier, dass dies durchaus nicht ungewöhnlich erscheint in Anbetracht der Auswirkungen, die der Krieg auf Menschen (auf Männer und Frauen) haben kann. Somit ist die jetzt wieder heimkehrende Lynndie England nur scheinbar dieselbe friedfertige Person, die sie, laut Aussagen von Bekannten, war. Die Lynndie England, die man jetzt zu Gesicht bekommt ist verändert infolge der Erfahrungen, die ihr in der Armee zuteil wurden.

Somit gesteht Heide Oestreich ihr erneut nur scheinbar ein Auftreten als aktive, selbstbestimmte Person zu. Denn der eigentliche Grund für ihr Handeln liegt in den Umständen, in die Menschen in einer Armee oder einem Krieg geraten. Denn man dürfe nicht vergessen, „was eine Armee und ein Krieg aus Menschen in kürzester Zeit machen können“[17]. Das „Demütigungssystem“ Militär erzeuge bei den Soldaten „ständige Frustrationen“ die wiederum „Aggressionen“ erzeugen, „die nach außen gelenkt“ würden.[18] Frauen wie Männer seien somit gleichermaßen Opfer der repressiven Methoden. Dennoch sei für Frauen noch eine zusätzliche Belastung feststellbar. Denn „sie [die Frauen] haben sich ständig in einem männlich definierten System zu behaupten, das Weiblichkeit abwertet“[19]. Somit erzeuge das „Demütigungssystem“[20] Militär für Frauen eine Situation, in der diese zusätzlichen Demütigungen ausgesetzt seien als Männer. Offensichtlich möchte Heide Oestreich in gewisser Weise die erfolgten Misshandlungen an irakischen Gefangenen durch Frauen entschuldigen. Schließlich mussten diese ja auch irgendwo ihre aufgestauten Aggressionen „ablassen“. Somit können Frauen nie schuldig sein. Entweder sie sind nur ein Folterinstrument in Männerhänden oder sie foltern selbstständig angetrieben durch die demütigenden Praktiken des männlichen Militärs denen sie selbst zum Opfer fielen.

Scheinbar versöhnend wirkt dann letztendlich ihr Schlusssatz. In diesem beansprucht sie keine Sonderrolle für die Frau, hebt ihre Position als die Gedemütigte nicht hervor. In ihrem letzten Satz wird das Leiden beider Geschlechter zur Sprache gebracht. „Hinter allen Inszenierungen sehen wir das, was der ganz normale Krieg aus ganz normalen Menschen macht: aus Männern und auch aus Frauen.“[21]

Von einer klaren Trennung der Geschlechter in unterschiedliche Rollen kommt sie zu einer Vereinigung der beiden Geschlechter als „normale[n] Menschen“[22]. Wo vorher noch der „weibliche Mensch“ und das „männliche Militär standen“ stehen jetzt „ganz normale[n] Menschen […] Männer und auch […] Frauen.“[23]

Zwar verfolgt Heide Oestreich im Verlauf ihres Artikels keine stringente Argumentation, dennoch, denke ich, ist es möglich ihr zu unterstellen, dass sie den Eindruck vermitteln möchte, dass Frauen nicht von sich aus morden beziehungsweise quälen können. Die Fähigkeit zu misshandeln scheint ihnen nicht inhärent zu sein. Wenn Frauen schuldig sind, so sind bei ihr automatisch auch immer Männer schuldig.

3. Die Opfer-Täter-Betrachtungen der Frauenforschung

Frauen erscheinen oftmals als das friedfertigere Geschlecht. Doch schon lange ist klar, dass „Frauen das Gleiche machen wie Männer“[24]. Wieso beansprucht man für Frauen in so außergewöhnlichen und gewalttätigen Situationen wie einem Krieg ein gerechteres Handeln als es Männer in derselben Situation an den Tag legen? Wieso geht man davon aus, dass sich Frauen dann immer noch von ihren bisherigen Moralvorstellungen leiten ließen, wenn um sie herum alles aus den Fugen gerät? Woher nimmt man die Annahme, dass die Moral für Frauen im Krieg nicht ebenso außer Kraft tritt wie für Männer? Längst schon müsste klar sein, dass sich Männer und Frauen unter derartig extremen Situationen verändern. Ich kann nicht sagen woher dieses Frauenbild rührt und wieso es nicht schon längst revidiert wurde. Frauen können schon seit langem nicht mehr „als Zeichen für einen sauberen Krieg“[25] gelten.

Wie lässt sich diese Haltung Frauen zu Opfern zu erklären und jegliche Taten von ihnen zu entschulden theoretisch fundieren? Die Frage der Täterschaft deutscher Frauen bestimmte spätestens seit Annemarie Trögers „Die Dolchstoßlegende der Linken – Frauen haben Hitler an die Macht gebracht“ aus dem Jahr 1976 die historische Frauenforschung zur NS-Zeit. Angestoßen durch Annemarie Trögers Text kristallisierte sich eine kontroverse Debatte über die mögliche Täterschaft von Frauen während des Nationalsozialismus heraus. Hierbei wird auch über die Grenzen der bundesdeutschen Frauenforschung hinaus von der Opfer-Täter-Debatte gesprochen. Allerdings stand nicht, wie in den letzten Jahren, die Opfer-Täter Diskussion im Vordergrund. Im Folgenden werde ich die Thesen zweier Protagonistinnen der Opfer-Täter-Debatte darstellen. Hierbei gehe ich chronologisch vor und werde zunächst Margarete Mitscherlichs These der weiblichen Täterschaft aus dem Jahr 1985 vorstellen. Daran anschließend werde ich auf die Kritik von Karin Windaus-Walser an Margarete Mitscherlichs These und ihre eigene Theorie weiblicher Täterschaft aus dem Jahr 1988 eingehen. Von Interesse ist für mich neben dem Einblick in die bis heute geführte Opfer-Täter-Debatte, ob die Autorinnen den Frauen ebenso Schuldlosigkeit attestieren, wie es Heide Oestreich tut.

3.1. Margarete Mitscherlich und ihre Theorie der weiblichen Täterschaft

Die 1917 in Dänemark geborene Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich beschäftigt sich seit 1960 intensiv mit der Rolle der Frau in der Gesellschaft. Zusammen mit ihrem Mann Alexander Mitscherlich versuchte sie nach 1945 die Psychoanalyse in Deutschland wieder zu beleben. Als Psychoanalytikerin steht sie in der Tradition Sigmund Freuds und bezeichnet sich selbst auch als Freudianerin. In ihrem Buch „Die friedfertige Frau“ untersucht sie „das unterschiedliche Aggressionsverhalten der Geschlechter“[26] und versucht eine „Typologie der geschlechtsspezifischen aggressiven Reaktionsformen“[27] zu entwerfen. Ich werde mich im Folgenden speziell dem Kapitel „Antisemitismus – eine Männerkrankheit?“[28] widmen, in welchem sie versucht die Erscheinungsformen des Antisemitismus im Nationalsozialismus zu kennzeichnen und was speziell Frauen veranlasste Anhängerinnen dieser Art des Rassismus zu werden. Prinzipiell geht sie davon aus, dass es sich beim Antisemitismus um eine durch „Projektionen und Verschiebungen eigener abgelehnter psychischer Impulse“[29] entstehende „Vorurteilskrankheit“[30] handelt. Beim rassistischen Antisemitismus finden sich in der psychoanalytischen Deutung ähnliche charakteristische Eigenschaften wie im religiösen Antisemitismus. Zusätzlich zu Merkmalen, wie Eifersucht, Geschwisterrivalität, Neid und Angst, die sowohl typisch für den religiösen, als auch für den rassistischen Antisemitismus seien, lasse sich beim rassistischen Antisemitismus noch ein „Abwehrsystem gegen Inzestwünsche und Selbstwertzerstörungen“[31] als Charakteristikum feststellen. „Indem man die Juden als schlecht und vernichtenswert bezeichnete, konnte man alles Böse auf sie projizieren und seinen Neidgefühlen ihnen gegenüber freien Lauf lassen.“[32] Damit knüpft Margarete Mitscherlich an Freuds Deutungsweise des Antisemitismus, die er schon in seinem Essay „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“[33] vertreten hatte, an. Weiterhin kann man aus psychoanalytischer Perspektive im Antisemitismus „eine Folge einer Überich-Deformation“[34] sehen. Hierzu muss man sich zunächst Freuds Vorstellung von der Bildung des Überich vergegenwärtigen. Unter dem Überich kann man sich die kontrollierende, mahnende und strafende Instanz, das, was man gängig als ‘Gewissen’ bezeichnet vorstellen. Freud sah im Überich auch den „Sitz der Moralität“[35] Das normale Überich wird hierbei über Verinnerlichung von Normen und Werten der Gesellschaft, hauptsächlich durch elterliche Erziehung vermittelt, gebildet.[36] Genauer wird das Überich beim Jungen aus dessen ödipalen Konflikt und der daraus resultierenden Kastrationsangst gebildet. Erst, wenn der Junge die Autorität des Vaters anerkennt und diesen nicht mehr länger als Feind und Rivalen sieht, kann er einen Weg aus seiner ödipalen Phase finden. In der Anerkennung der väterlichen Autorität kann man die Verinnerlichung der gesellschaftlichen Normen und Werte sehen. Beim Antisemiten hingegen bildet sich das Überich „nicht aus der Verinnerlichung der mitmenschlichen Objekte und Beziehungen, sondern besteht mehr oder weniger aus Dressaten“[37]. Da es zu keiner Verinnerlichung der väterlichen Autorität kommt, „bleibt die Angst vor der Macht des Vaters in primitiver Weise bestehen und bestimmt so das Verhalten des Antisemiten“[38]. Somit schiebt er seinen Misserfolg bei der Mutter nicht der eigenen Unreife und dem Verhältnis zur Mutter zu. Der Misserfolg bleibt „im Unterbewussten des späteren Erwachsenen eine Folge der machtvollen väterlichen Rivalität“[39]. Um mit der daraus resultierenden „schwere[n] narzisstischen Kränkung“ leben zu können bedient sich der Antisemit Projektionen und Verschiebungen auf den Juden.[40] Im folgenden werde ich einige mögliche charakteristische Merkmale von Antisemiten beschreiben, denen sich Margarete Mitscherlich in Ihrer später folgenden Typologisierung des Antisemiten (und hier speziell des männlichen Antisemiten) widmen wird.

Indem Margarete Mitscherlich annimmt, dass Frauen „nur selten vatermörderische Wünsche hegen“[41], von Geschwisterrevalität „nicht sonderlich geplagt sind“[42] und „weniger unter Kastrations- und Inzestangst leiden als Männer“[43] ebnet sie den Weg für ihre allgemein geschlechtspezifischen Erklärungsmodelle für den Antisemitismus und somit für unterschiedliche Krankheitsauslöser für Männer und Frauen.

[...]


[1] Windaus-Walser, Karin, Gnade der weiblichen Geburt?

[2] Vergleich siehe http://www.wien.gv.at/ma07/pdf/2002f2.pdf, 30.12.2004.

[3] Heide Oestreich wurde 1968 in Bonn geboren. Sie studierte Germanistik und Politik. Nach ihrem Studium besuchte sie außerdem die evangelische Journalistenschule in Berlin. Bekannt wurde sie neben ihrer Tätigkeit als Redakteurin bei der tageszeitung (taz) auch durch ihr Buch „Der Kopftuchstreit“.

[4] Oestreich, Heide, Das Bildnis der Calamity Lynn, taz Nr. 7355 vom 11.5.2004, Seite 4.

[5] ebd.

[6] ebd.

[7] ebd.

[8] ebd.

[9] ebd.

[10] Oestreich, Heide, Das Bildnis der Calamity Lynn, taz Nr. 7355 vom 11.5.2004, Seite 4.

[11] ebd.

[12] Vergleich siehe ebd.

[13] ebd.

[14] ebd.

[15] Vergleich siehe ebd. Interessant erscheint mir an dieser Stelle auch die Differenzierung zwischen

„weiblichen Menschen “ und „männlichem Militär “. Darin könnte man einen Verweis auf die von Oestreich unterstellte trotz Folterungen Gefangener menschliche Seite von Frauen und die nicht-menschliche, institutionelle, gewalttätige Welt der Männer sehen.

[16] Oestreich, Heide, Das Bildnis der Calamity Lynn, taz Nr. 7355 vom 11.5.2004, Seite 4.

[17] ebd.

[18] Vergleich siehe ebd.

[19] ebd.

[20] ebd.

[21] Oestreich, Heide, Das Bildnis der Calamity Lynn, taz Nr. 7355 vom 11.5.2004, Seite 4.

[22] ebd.

[23] ebd.

[24] Oestreich, Heide „Das Bild der folternden Soldatin ist nur scheinbar sensationell“, sagt Karin Gabbert. taz Nr. 7356 vom 12.05.2004, Seite12.

[25] ebd.

[26] Mitscherlich, Margarete, Die friedfertige Frau, S. siehe Einband.

[27] ebd.

[28] ebd., S. 148.

[29] ebd., S. 149.

[30] ebd.

[31] Mitscherlich, Margarete, Die friedfertige Frau, S. 151.

[32] ebd.

[33] zitiert nach ebd.

[34] ebd., S. 152.

[35] www.uni-konstanz.de/ag- moral /pdf/Lind-1986_Moral-Geschlecht.pdf, 29.11.2004.

[36] Vergleich siehe http://www.bruehlmeier.info/freud.htm, 29.11.2004.

[37] Mitscherlich, Margarete, Die friedfertige Frau, S. 152.

[38] ebd.

[39] ebd.

[40] Vgl. siehe ebd.

[41] Mitscherlich, Margarete, Die friedfertige Frau, S. 155.

[42] ebd.

[43] ebd.

Ende der Leseprobe aus 39 Seiten

Details

Titel
Untersuchung über den Umgang mit weiblicher Schuld
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Soziologie)
Note
1,7
Autor
Jahr
2005
Seiten
39
Katalognummer
V44409
ISBN (eBook)
9783638420150
Dateigröße
653 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Untersuchung, Umgang, Schuld
Arbeit zitieren
Ruth Steinhof (Autor:in), 2005, Untersuchung über den Umgang mit weiblicher Schuld, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/44409

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