Gibt es Unerziehbare? Jugendkriminalität - Erziehung statt Strafe


Hausarbeit (Hauptseminar), 2012

21 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Definitionen

3. Erziehbar – Unerziehbar

4. "Unerziehbarkeit" und Jugend: gesellschaftliche Diskurse
4.1 Jugenddiskurse
4.2 Die Konjunktur der Neuro- und Biowissenschaften
4.3 Präventionsdiskurse

5. Fazit

1. Einleitung

Ein immer wieder auftauchendes Thema im Rahmen unseres Studiums der Erziehungswissenschaft stellt die unklare Begrifflichkeit von sogenannten „unerziehbaren“ oder auch „schwererziehbaren“ Jugendlichen dar.

Diese Thematik möchten wir nun anhand folgender Hausarbeit mit der grundlegenden Frage „Gibt es Unerziehbare“ aus unserer Sicht bearbeiten.

In der Erziehungsdebatte als auch in den Medien wird immer wieder von den aussichtslosen Erziehungsmethoden bei den „schwererziehbaren“ Jugendlichen berichtet, bei denen „doch eh alles hoffnungslos sei“. Doch ist dem so? Gibt es „unerziehbare“ Jugendliche? Jugendliche, welche aufgegeben werden können und in die weder Zeit noch Geld investiert werden muss? Welche, die nur noch „weggesperrt“ werden können?

Wir werden nun mit einer Zusammenstellung von diversen Definitionen beginnen, um eine genauere Vorstellung davon zu geben, wie „Unerziehbarkeit“ verstanden wird (à Kap. 2). Anschließend folgt eine Diskussion inwiefern es möglich oder auch nicht möglich ist, „unerziehbar“ zu sein, abgeleitet von der ebenso ungenauen Vorstellung, wie unsere Gesellschaft Erziehbarkeit festlegt (à Kap. 3). Daraufhin erfolgt eine Zusammenstellung verschiedener (Jugend-)Diskurse zur Thematik der „Unerziehbaren“, da der Blick auf das Thema sehr stark von Weltbildern und der gesellschaftlichen Sicht auf Jugend gebunden ist (à Kap. 4). Begriffe wie „unerziehbar“ sind eingebunden in die vorherrschenden und vergangenen gesellschaftlichen Diskurse über Jugend. Mit einem Blick auf die momentane „Konjunktur der Neuro- und Biowissenschaften“ wollen wir unsere Bedenken äußern. Insbesondere gehen wir auch in diesem Kapitel auf die Präventionsdiskurse ein und den damit verbundenen Gefahren für die soziale Arbeit. Ein Fazit (à Kap. 5) rundet unsere Hausarbeit ab.

Schließlich werden wir mit unserer eindeutigen Sicht, dass es für uns keine „Unerziehbaren“ gibt, enden und diese Meinung aufgrund unserer Argumentation begründen. Dennoch ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff der „Unerziehbaren“ zwar im weiten Feld der Pädagogik abgeschafft wurde, doch die aussondernden Bezeichnungen von - nun eben - „Schwererziehbaren“ oder „Verhaltensauffälligen“ in gleicher Bedeutung verwendet werden. Diesem Skandal der Gesellschaft ist ein untragbarer Zustand, denn fest steht: „Unerziehbare“ gibt es nicht, sie werden gemacht!

2. Definitionen

In den von uns durchgesehenen alten pädagogischen Lexika und Enzyklopädien fanden wir selten die Bezeichnung „Unerziehbarkeit“, dafür umso mehr den Begriff „Schwererziehbarkeit“. In Wilhelm Hehlmanns „Pädagogischen Wörterbuch“ von 1942 wurden wir schließlich fündig, wobei die Begriffe voneinander abgegrenzt werden:

„Die Sch[wererziehbarkeit, L.J.]. ist zu unterscheiden von völliger Unerziehbarkeit [Hervorgeh. L.J.] bei asozialen oder anomalen Kindern und Jugendlichen. Sie ist teils anlagemäßig begründet und kommt häufig in Verbindung mit Schwachsinn, Psychopathie und sonstigen geistigen oder auch körperlichen Mängeln vor, teils aber auch aus vorübergehenden Zuständen größerer Labilität, Erschöpfung, Unterernährung, bestimmten Erkrankungen oder auch Unregelmäßigkeiten der Entwicklung (Trotzalter, Pubertät) […]Plötzlich auftretende Sch. ist nicht selten ein Zeichen beginnender Infektionskrankheiten oder deren Folgeerscheinungen“ (S. 399).

Diese Definition gibt einen Eindruck, was unter „Schwererziehbarkeit“ in dieser Zeit verstanden wurde. Sie differenziert zwischen „Schwererziehbarkeit“ und „Unerziehbarkeit“, welche nach deren Auffassung bei „asozialen oder anomalen“ Kindern vorliege. Es lässt sich ableiten, dass unter „Schwererziehbarkeit“ eine verminderte Erziehung gemeint ist, wohingegen unter „Unerziehbarkeit“ eine völlige Erziehungslosigkeit, aufgrund der Abweichung von der Norm der Anlage, also den Genen. Das Lexikon verweist darauf, dass sie als Pathologien aufzufassen seien, in Verbindung mit „körperlichen und geistigen Krankheiten“.

Man ist an Cesare Lambroso (1835 - 1909) erinnert und an seine Theorie des „geborenen Verbrechers“. Die Erklärung ist rein biologistisch und verweist auf die traurige Annahme einer „Normalität“, von der jene Menschen ausgeschlossen werden, die dieser nicht entsprechen. Der Inhalt beider Begriffe bedeutet: „Schwererziehbarkeit“ und „Unerziehbarkeit“ sind Krankheiten der Natur. Zu beachten ist der historische Kontext, der herrschende Nationalsozialismus in dieser Zeit, wo vorrangig durch eine medizinische Diagnostik Menschen ausgesondert und getötet wurden.

Die 15. Auflage dieses Wörterbuchs aus dem Jahre 2000 enthält dagegen den Begriff „Schwererziehbarkeit“ nicht mehr, deren Bedeutung ist aber unter dem Begriff „Verhaltensstörung“ zu finden.

„Verhaltensstörungen sind anzusehen als ein Komplex somatischer, psychischer, rationaler, sozialer und individueller Faktoren, die die persönliche Entwicklung und die Eingliederung in die soziale Umwelt erschweren oder verhindern. Die Häufigkeit von Verhaltensstörungen ist abhängig von dem Konstrukt ‚Normalität‘ (Böhm 2000, S. 556).[1]

Auch wenn laut dieser Definition „Verhaltensstörungen“ anzusehen sind als ein „Komplex“ verschiedener Faktoren (neben dem medizinischen - hier ausgedrückt als somatische -, psychische, rationale, soziale), verweist er auf ein Defizit desjenigen, der aufgrund dieser Auffassung in die soziale Umwelt eingegliedert werden soll. Es besagt also, dass derjenige aufgrund dieses Defizits aus der sozialen Umwelt ausgeschlossen ist. Die Definition erweitert die medizinische Diagnostik um zusätzliche Faktoren, handhabt den Begriff jedoch völlig unreflektiert, ohne ihn in keinster Weise selbst in Frage zu stellen.

Sie verweist auf das Vorhandensein einer Abweichung beziehungsweise einem Defizit, deren Bestehen erstens überhaupt nicht hinterfragt wird, und zweitens, dass dieses allein der Person zuzuschreiben sei. Am Ende steht die Anmerkung, dass die Häufigkeit von „Verhaltensstörungen“ abhängig sei von dem Konstrukt „Normalität“, ohne begriffen zu haben, dass „Verhaltensstörung“ selbst ein Konstrukt ist und nicht bloß deren Häufigkeit davon abhängt, sondern deren Auftreten und ganze Existenz. Ohne diese Kategorie, zu welcher letztlich Menschen zugeordnet werden, gäbe es keine sogenannten „Verhaltensgestörte.“

Eine etwas ältere, aber nicht weniger erschreckende Definition bietet das „Neue pädagogische Wörterbuch“ aus dem Jahr 1971 von Groothoof und Stallmann die unter der Rubrik: „Erziehung, Schwierigkeiten und Fehler“ dieses schreiben:

„Es treten Störungen auf; die Kinder verhalten sich anders, als erwartet, ihr Verhalten wird mehr oder weniger unverständlich, sie scheinen sich der E[rziehung, L.J]. entziehen und dem Erziehenden zu entgleiten. Die E. hat nicht den Erfolg, den die Erziehenden sich erhofft hatten; Enttäuschung, Ratlosigkeit, Unmut oder Zorn überkommt sie, sie neigen dazu, ihren Zögling für ‚schwierig‘ zu erklären. Es sind aber nicht nur die Erziehenden unglücklich, die Kinder sind es auch“ (Groothoof/Stallmann 1971, S. 316).

Oben erwähnte Definitionen sollen nur einen kleinen Überblick geben. Man findet in den aktuelleren Lexika meist keine Kategorie mehr unter dem Namen: „Schwererziehbare“, dafür umso mehr unter den Begriff „Verhaltensgestörtenpädagogik“.

Eine entsprechende „Schwererziehbarenpädagogik“ firmiert unter dem Begriff der „Verhaltensgestörtenpädagogik“ mit einem sehr spezifischen und differenzierten Mess- und Diagnoseinstrumentarium, welches wiederum auf psychologischen, neurologischen und biologischen Grundlagen beruht. Die Zugangsweisen sind dabei sehr unterschiedlich, da es eine Vielzahl an biophysischen, psychodynamischen, soziologischen, polit-ökonomischen und ökologischen Theoriemodellen gibt.

„Verhaltensstörung“ dient dabei als Oberbegriff für eine Menge an Ausdrücken wie zum Beispiel psychische Störungen, neurotische Störungen oder Erziehungsschwierigkeiten. In der Sonderpädagogik und Sozialpädagogik wurden solche Ausdrücke durch Verhaltensstörungen beziehungsweise -auffälligkeiten abgelöst. Diese wird nach dem „Pädagogischen Lexikon“ von Tenorth/Tippelt (2007) wie folgt definiert:

„Kindern und Jugendlichen, deren Verhalten so von gesellschaftlichen Normen abweicht, dass die Interaktion beeinträchtigt ist und sie ohne sonderpädagogisch-therapeutische Hilfe keine Verhaltensänderung erreichen, wird eine V[erhaltensstörung, L.J.]. attestiert […]. Zu unterscheiden sind externalisierende (Aggression) und internalisierende (Angst) Störungen sowie sozial unreifes und deliquentes Verhalten“ (S. 751).

In manchen Lexika wird ganz explizit darauf verwiesen, dass „Schwererziehbarkeit“ eine veraltete Bezeichnung für „Verhaltensstörungen“ sei.

Allen diesen Definitionen liegen Grenzziehungen zu Grunde, und zwar zwischen dem was als „normal“, sowie dem was als „abweichend“, „problematisch“ und „andersartig“ angesehen wird. Die Existenz solcher Klassifikationen werden dabei selbst nicht in Frage gestellt. Es sind Wirklichkeitszuschreibungen an einzelne Menschen oder Gruppen, wobei eine Wechselbeziehung vorliegt. Diese Wechselbeziehung zwischen denen die klassifizieren und denen die Träger solcher Klassifikationen werden ist aber eine asymmetrische, die vielmehr ungleiche gesellschaftliche Machtverhältnisse und Hierarchien zum Ausdruck bringen. „Problemverhalten“ ist aber keine Wesensart, die einem Menschen innewohnt, sondern „stellt ein relationales Geschehen dar. Normalität und Abweichung können und müssen als gesellschaftliche Konstrukte gedeutet werden […]“ (Büscher 2009, S. 41).

Jugendliche mit „abweichenden“ Verhaltensweisen wurden im Laufe der Geschichte mit unterschiedlichsten Bezeichnungen belegt. (Unerziehbar, Schwererziehbare, Nichterziehungsfähige, Erziehungsunwillige). Dorothee Büscher (2009) verweist darauf, dass aus diesen Benennungen hervorgehe, „dass den Jugendlichen in unterschiedlichem Ausmaße eine Eigenaktivität in ihrer ‚Unerziehbarkeit‘[…]“ eingeräumt werde (vgl. S. 42).

Was macht eine Definition so wichtig? Der aktuelle Diskurs ist nicht an einzelne Begriffe gebunden. Es zeigt sich, dass Begriffe austauschbar sind. Fakt ist, dass alle mit mehr oder weniger impliziten Negativzuschreibungen behaftet sind. Wichtig sind dagegen Definitionen, wenn es darum geht, pädagogische Interventionen festzulegen, da ist es für die Folgen des Menschen keineswegs egal, ob von „Verhaltensauffälligkeit“ die Rede ist oder von „Intensivtäterschaft“, denn sie bestimmten die „härte“ der als angemessen gehaltenen Maßnahmen, wobei die Gefahr der Stigmatisierung besteht:

„Stigmatisierung tritt dann ein, wenn die Typisierung eines Jugendlichen […] auch anderen Personen, mit denen der Jungendliche in Interaktion tritt, bekannt und übernommen wird. Dann steigt für diesen Jugendlichen die Gefahr von gesellschaftlichen Exklusionsprozessen“ (ebd.: S. 48).

Verhalten wird so antizipiert und jeglicher Spontanität beraubt. Die Zuschreibung „unerziehbar“ oder „schwererziehbar“ dient dabei als Zuschreibung einer Ursache und als Kategorie innerhalb eines ganzen Klassifikationssystems. Eine klare Ursache wird so konstruiert: Die Person handelte so, weil es ein „Schwererziehbarer“ ist. Letztlich erklärt die Zuschreibung zu einer Kategorie aber nichts, sondern dient vielmehr der Ableitung entsprechender Strafen und Interventionen. Es wird dabei vergessen, dass kein Verhalten voraussagbar und vorausschaubar ist, auch wenn sich darum in vielen Wissenschaftsgebieten bemüht wird.

Abschließend lässt sich sagen: Normalität und Abweichung sind gesellschaftliche Konstrukte verbunden mit Bewertungsprozessen von Verhaltensweisen. Wichtig ist die Einbeziehung des sozialen und kulturellen Kontextes. Allen Definitionen wird ihr Absolutheitsanspruch genommen, wenn man sich ihren historischen und kulturellen Kontext - indem sie sich entwickelt und mehrfach gewandelt haben - vergegenwärtigt. Dann zeigt es sich: Nichts ist als Normverletzung definierbar, sondern kann je nach Situation relativ sein. Jede Form von Verhaltensweisen muss in seiner Individualität und Spontaneität begriffen werden, anstatt sie vorgefertigten Typisierungen und Kategorien zu unterwerfen. Definitionen dürfen nicht mit dem Menschen verwechselt oder gleichgesetzt werden, denn sie greifen immer in das Leben anderer ein, um es zu lenken und zu kontrollieren.

Nimmt man auf diese Ansicht Bezug, so bedeutet es, dass der persönliche, intime, empathische, unterstützende Kontakt des Sozialpädagogen von entscheidender Bedeutung ist die Gegenwart zu gestalten. Kein theoretisches Konstrukt, keine theoretische Annahme, keine Definition kann und darf den sozialen Kontakt und die Einzigartigkeit jedes Menschen ersetzen.

3. Erziehbar – Unerziehbar

Als Voraussetzung der „Unerziehbarkeit“, steht im Allgemeinen gesehen die Erziehbarkeit. Da „Unerziehbarkeit“ von Erziehbarkeit abgeleitet ist, wird im Folgenden dieser Gegensatz analysiert. Das Problem dabei, selbst die Erziehbarkeit, als richtig angesehener Weg eines Kindes, ist nicht stichhaltig formuliert. Wie also soll der abgeleitete Begriff der Unerziehbaren - welcher für die als solche beschriebenen Jugendlichen eine oft lebensbestimmende Bezeichnung darstellt - eine Legitimation bieten, wenn selbst der „Normalzustand“ der Jugendlichen nur sehr vage formuliert ist? Wie können Kinder als „abweichend“ und „hoffnungslos“ beschrieben werden, wenn es so gesehen keinen „Normalzustand“ gibt?

In der Wissenschaft werden zwei dominierende Theorien voneinander abgegrenzt, welche Erziehung ermöglichen, oder als begrenzt möglich ansehen. Es steht die Umwelt-Theorie gegen die Erbanlagen-Theorie. Die Umwelt-Theorie besagt, dass „der Einzelne nur ‚Opfer‘ der Verhältnisse [ist] und damit zwangsläufig verantwortungslos“ (Nachtigall 1979, S.8). Bei der Erbanlagen-Theorie wird gesagt, dass „der Mensch in seiner Lern- und Leistungsfähigkeit stammesgeschichtlich ‚vorprogrammiert‘ und weithin festlegt ist“ (ebd.). In den letzten Jahren nähern sich beide Theorien etwas an, und es wird davon ausgegangen, dass erfolgreiche Erziehung von beiden Indikatoren getragen wird, mehr noch von der Umwelt, welche das zukünftige Verhalten des Einzelnen beeinflusst, als die Gene. Unabhängig dieser Theorien spielt bei der Erziehung von Menschen das Menschenbild des Erziehenden eine große Rolle. Und zwar „wer Menschen verändern will, ganz gleich, zu welchem Zweck, aus welchen Motiven und mit welchen Mitteln, der kann das vernünftigerweise nur versuchen, wenn er absolut davon überzeugt ist, daß sie prinzipiell veränderbar sind“ (ebd.: S.9). Schon allein aufgrund dieser Voraussetzung, wird die Erbanlagen-Theorie aus pädagogischer Sicht eher zurückgewiesen, da dadurch selbst Erziehung entkräftet wird. Denn Erziehbarkeit hält an einer Vorstellung des Menschen fest, dass jeder bei seiner Geburt eine beinahe gleiche Ausgangsbasis besitzt und anschließend durch Umwelteinflüsse geformt wird. Nur durch eine solche Ansicht wird jedem eine Chance eingeräumt, und keiner kann sofort als aussichtloser „Fall“ angesehen werden (vgl. ebd.: S.10). Einig sind sich die Wissenschaftler, dass die frühkindliche Prägungsphase, in der vor allem die Kind-Bezugspersonen-Prägung stattfindet, eine sehr wichtige und sensible Zeit für ein Kind ist. Und wenn diese Prägung fehlt, führt dies zu erheblichen Schwierigkeiten des Kindes, um in der Gesellschaft zurechtzukommen (vgl. ebd.: S.12). Der eigentliche Unterschied zwischen „Erziehbaren“ und potenziell „Unerziehbaren“ besteht darin, dass Letztere nur schwer oder nicht mehr pädagogisch erreicht werden können (vgl. Witte 2011, S.7). Von daher repräsentieren die sogenannten „Unerziehbaren“ mehr die begrenzten Hilfemöglichkeiten der Gesellschaft, als den Zustand der Jugendlichen. Nur das die Bezeichnung, die Jugendliche nach Verlauf vieler Jugendhilfestationen erhalten, ein sehr großen Einfluss auf ihre Zukunft hat. Sprich die Leidenden werden immer die Jugendlichen sein, für einen Begriff, mit denen sie etikettiert werden, weil die pädagogischen Mittel nicht ausreichen. So führt der Umgang des Hilfesystems mit den Jugendlichen zu solchen Bezeichnungen wie „Problemjugendliche“. Doch diese Begriffe beschreiben nur einen Interaktionszustand des Jugendlichen zum Hilfesystem und ist keine persönliche Eigenschaft von ihnen, und doch wird ihnen das als Prädikat zugeschrieben (vgl. ebd.: S.9).

Denn formbar und erziehbar impliziert grundlegend nur das, was die Gesellschaft festlegt. Die Eigenschaften, das Verhalten, dass eine Gesellschaft als „normal“ festlegt, spielt eine große Rolle, unabhängig der Individualität des Einzelnen. So soll ein Kind/ Jugendlicher erzogen werden, um sich in die Gesellschaft zu integrieren und wirtschaftlich zu funktionieren, doch ist das nicht der Fall, wird aus dem Jugendlichen ein Problemjugendlicher, und ändert sich der Zustand nicht, wird aus ihm ein unerziehbarer Jugendlicher. Doch jeder Zustand impliziert die gleiche Person (vgl. ebd.: S.32). Und da stets Institutionen für die „Restjugendlichen“ bei denen „nichts anderen mehr hilft“ vorhanden sind, ist die Vorstellung von „Unerziehbaren“ in unserer Gesellschaft verankert, dass es demnach immer die schwierigsten Fälle einer Hilfeeinrichtung an die nächste Institution weitergegeben werden. Diese Jugendlichen sind natürlich noch formbar und können lernen. Doch sie erlernen in diesem System, dass sie eben keine Bezugspersonen haben, da sie stets in ihren Hilfekarrieren weitergegeben wurden, somit auf niemanden Verlass ist. In welcher Weise könnte sich mit dieser Ausgangssituation überhaupt jemand in die Gesellschaft einfügen? Durch das Weitergeben und das Schaffen der Möglichkeit Jugendliche stets in andere Institutionen weiterzugeben, werden dadurch oft erst die Problemjugendlichen geschaffen. Denn auch „schwierige und gefährdete Jugendliche können lernen!“ (ebd.: S.54) und nichts anderes ist Erziehung. Somit sind potenziell Unerziehbare Produkt ihrer Erziehung, und auch weiterhin erziehbar, nur reicht es nicht, eine erlernte Handlungsweise abstellen zu wollen, sondern es müssen adäquate Handlungsalternativen geschaffen werden, welche es zu finden heißt. Und dazu muss das System Zeit, Geduld und manchmal auch neue Methoden bereitstellen, sonst bleiben diese Jugendliche für das System nicht erreichbar und damit „unerziehbar“. Ebenso muss die Gesellschaft bereit für Veränderungen sein, denn ein Jugendlicher, der auf eine Gesellschaft trifft, welche ihm keine Veränderungsoption bietet, kann sich auch nicht verändern. So darf die Gesellschaft nicht voreilig in Bezug auf Ausgrenzung und Sondierung sein, denn das Stigmata einer Gesellschaft, macht es einem Jugendlichen in dieser Situation sehr schwer, und er sollte nicht in der „Unerziehbarkeit“ gefangen gehalten werden (vgl. ebd.: S. 58).

4. "Unerziehbarkeit" und Jugend: gesellschaftliche Diskurse

Es geht uns in diesem Abschnitt nicht um den Begriff, sondern um eine kritische Betrachtung der Verwaltung dieses ganzen Gefechtes von Begriffen, Bedeutungen und Inhalten, in Theorie und Praxis, zu denen letztlich Menschen zugeordnet werden.

Es geht uns nicht darum, in der Hausarbeit die verschiedenen Erklärungsmodelle ausführlich darzustellen, sondern aufzuzeigen, wie sie in den aktuellen gesellschaftlichen Diskursen eingebettet sind und Begriffe wie „unerziehbar“, „schwererziehbar“, „verhaltensauffällig“ hervorbringen beziehungsweise Maßnahmen dagegen ableiten.

Aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen werden ganz unterschiedliche Theorien präsentiert, die Erklärungen für „abweichendes Verhalten“ liefern.

Von Seiten der Soziologie werden Erklärungen zum Beispiel aus der Anomie-Theorie von Emile Durkheim gewonnen, die von Robert Merton erweitert wurde. Ihnen gemeinsam ist, dass die Ursachen für „abweichendes Verhalten“ nicht im Individuum, sondern in gesellschaftlichen Bedingungen gesucht werden. Ein neuerer Ansatz in der Soziologie ist die Labeling-Theorie. Demnach ist abweichendes Verhalten das Ergebnis von Zuschreibungsprozessen (vgl. Büscher 2009, S. 81). Etikettierungs- und Stigmatisierungsprozesse spielen dabei eine wesentliche Rolle. Der Person wird eine Rolle zugeschrieben, sie bekommt ein „Etikett“, an die bestimmte Erwartungen und Vorstellungen von Seiten Umwelt geknüpft sind.

[...]


[1] Das „Pädagogische Wörterbuch“ von Wilhelm Hehlmann aus dem Jahr 1942, enthält unter anderem einen langen Artikel über Adolf Hitler, in dem auf fast mystifizierende Weise vom Führer und dessen großen erzieherischen Ideen und Leistungen gesprochen wird, die „[…] in ihrer Gesamtheit zu würdigen, der Zukunft vorbehalten bleiben [muss]“ usw. (S. 179). Solche Artikel sind in dieser Zeit keine Seltenheit. Unverständlich ist aber, dass unter dem selben Verlag, zwar unter einem anderen Herausgeber, aber unter Verweis auf Wilhelm Hehlmann, im Jahr 2000 das Wörterbuch in 15. Auflage herauskommt. Kontinuität findet man also nicht nur in den Inhalten bestimmter Begriffe, sondern auch im Verlagswesen.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Gibt es Unerziehbare? Jugendkriminalität - Erziehung statt Strafe
Hochschule
Philipps-Universität Marburg  (Erziehungswissenschaften)
Veranstaltung
Jugendkriminalität
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
21
Katalognummer
V442305
ISBN (eBook)
9783668807631
ISBN (Buch)
9783668807648
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Anmerkung des Dozenten: Seit ich in Marburg lehre, das sind nun fast genau 20 Jahre, habe ich noch keine so exzellente Arbeit gelesen. Sie ist argumentativ gelungen und sprachlich ein Genuss. Sie haben die Widersprüchlichkeit der Pro-Unerziehbaren-Argumentation treffend aufgespießt und sie in ihrer Absurdität dargestellt.
Schlagworte
Jugendkriminalität, Unerziehbarkeit, Jugendarbeit, Kriminalität, Jugenddiskurs, Aggression, Gewalt, Prävention, Focault, Lutz Roth
Arbeit zitieren
B.A. Bildungs- und Erziehungswissenschaften Lukas Jäger (Autor:in), 2012, Gibt es Unerziehbare? Jugendkriminalität - Erziehung statt Strafe, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/442305

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