Warum der Mindestlohn nicht für alle Beschäftigten gilt. Wenn sich gute Arbeit doch nicht lohnt


Bachelorarbeit, 2017

57 Seiten, Note: 2,1


Leseprobe


Inhalt

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretische Grundlagen
2.1 Begriffsdefinitionen
2.2 Die Parteiendifferenzhypothese
2.3 Die Machtressourcentheorie

3 Das Mindestlohngesetz
3.1 Ausgangslage und Notwendigkeit
3.2 Die Begrenzung der Bezugsberechtigten

4 Das Policy-Design des Mindestlohngesetzes
4.1 Parteiendifferenz bei der Implementierung und Ausgestaltung des Mindestlohngesetzes
4.1.1 Ideologie und Kernwählerschaft der Parteien
4.1.2 Der Wahlkampf 2013
4.1.3 Die Koalitionsverhandlungen
4.1.4 Der Gesetzgebungsprozess
4.1.5 Zwischenfazit: Koalitionszwänge begrenzen Parteiendifferenz
4.2 Der Einfluss der Interessenvertretungen auf die Ausgestaltung des Mindestlohngesetzes
4.2.1 Machtressourcen der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter
4.2.2 Positionierung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter
4.2.3 Zwischenfazit: Machtressourcen ermöglichen Einflussnahme

5 Fazit

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

Als die Ergebnisse der Bundestagswahl 2013 feststanden, wurde deutlich, dass die CDU/CSU als weiterhin stärkste Kraft nicht mehr auf ihren bisherigen Koalitionspartner FPD, der an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte, zurückgreifen konnte. Es begann die Suche nach einem neuen Koalitionspartner für die 18. Legislaturperiode. Zur Auswahl standen die SPD und das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die zum damaligen Zeitpunkt nur vereinzelt auf Länderebene bereits mit der CDU koalierten. Die Sondierungsgespräche ergaben eine Tendenz zur SPD und entsprechend selbstbewusst trat die SPD, mangels Alternativen der CDU/CSU, in den Koalitionsverhandlungen auf. Die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns, ein zentrales Anliegen der SPD im Wahlkampf, wurde gefordert. Diese Forderung fand ihren Weg in den Koalitionsvertrag vom 14. Dezember 2013. Es wurde die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns in Höhe von 8,50 €/h zum 01.01.2015 vereinbart. Ein entsprechendes Gesetz sollte im Dialog mit den Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern ausgearbeitet werden. Ziel war es, dass gute Arbeit sich wieder lohnen und existenzsichernd sein muss. Jedem Arbeitnehmer sollte von seinen Erwerbseinkünften ein Leben ohne staatliche Transferleistungen ermöglicht werden. Laut Mindestlohngesetz (MiLoG) gilt das Recht auf existenzsichernde Entlohnung ab dem 01.01.2015 allerdings nicht für alle Arbeitnehmer und Beschäftigten. Im Anwendungsbereich werden z.B. Praktikanten, Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Beschäftigungsmonaten und Jugendliche unter 18 Jahren als Bezugsberechtigte ausgeschlossen, für andere Gruppen wurden Übergangsfristen vereinbart. Von politikwissenschaftlichem Interesse ist dieser Umstand daher besonders, da per Gesetzbeschluss die gleiche Arbeit, verrichtet von unterschiedlichen Personengruppen, pauschal schlechter als 8,50 € pro Stunde entlohnt werden darf. Die Abschlussarbeit geht der Frage nach, wie es zu der Einführung des Mindestlohngesetzes in seiner aktuellen Form mit der Begrenzung im Anwendungsbereich und den Übergangsfristen gekommen ist. Es soll analysiert werden, welchen Einflüssen das MiLoG ausgesetzt war, die dazu führten, dass bestimmte Personengruppen per Gesetzesbeschluss von dem Recht auf existenzsichernde Vergütung ausgeschlossen werden oder erst mit zeitlicher Verzögerung vom Mindestlohn profitieren durften, obwohl es das Bestreben der Regierungsparteien war, dass gute Arbeit sich wieder lohnen und existenzsichernd sein soll. Welche Intention vertraten die Parteien im Bundestag, die das Tarifautonomiestärkungsgesetz und besonders das darin enthaltene Mindestlohngesetz im Juli 2014 verabschiedeten und welche Ausrichtung verfolgten die Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter, die im Austausch mit den Regierungsparteien das MiLoG erarbeiteten? Ziel der Untersuchung ist es, die Gegebenheiten zu identifizieren, die dazu führten, dass von der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns nicht alle Beschäftigten gleichermaßen und zur gleichen Zeit profitieren konnten.

Die in der Abschlussarbeit zu untersuchenden Hypothesen lauten wie folgt:

H1: Bei der Implementierung und Ausgestaltung des Mindestlohngesetzes kann Parteiendifferenz festgestellt werden. Die CDU/CSU, die SPD sowie die Parteien BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE verfolgten jeweils divergierende politische Ideologien und Interessen der jeweiligen Kernwählerschaft. Koalitionszwänge machten die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns möglich. Beim anschließendem Policy-Design konnte die CDU/CSU als stärkste Fraktion die Interessen ihrer Kernwählerschaft durchsetzen und den Berechtigtenkreis des Mindestlohngesetzes entsprechend ausdifferenzieren.

H2: Die bei der Ausgestaltung des Mindestlohngesetzes involvierten Arbeitgebervertreter verfügten über ein größeres Machtpotenzial als die ebenfalls beteiligten Arbeitnehmervertreter und konnten demnach beim Policy-Design bezogen auf den Anwendungsbereich und die zeitlichen Übergangsfristen ihre Präferenzen durchsetzen.

Aktuelle Untersuchungen zum Thema flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn in Deutschland weisen eine große Bandbreite auf. So sind vielfach Arbeiten zu den ökonomischen Effekten des Mindestlohns (exemplarisch Bruttel u. a. 2017) oder juristische Abhandlungen (exemplarisch Preis u. Ulber 2014, Hejma 2016) vorhanden. Politikwissenschaftlich relevant wurde z.B. bereits gezeigt, warum ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn in Deutschland im Vergleich mit anderen Ländern erst relativ spät eingeführt wurde (vgl. Mabbett 2016) oder warum sich die Gewerkschaften, die doch „nur“ die Interessen ihrer Mitglieder vertreten müssen, politisch in der Mindestlohndebatte engagierten (vgl. Schroeder u. a. 2016). In der aktuellen Forschung vernachlässigt werden jedoch Untersuchungen zum Policy-Design des Mindestlohngesetzes, weshalb sich diese Arbeit diesem Aspekt widmet.

Zur Beantwortung der Fragestellung und zur Überprüfung der Hypothesen wird auf die Parteiendifferenzhypothese und auf die Machtressourcentheorie zurückgegriffen. Diese werden zusätzlich zu den Begriffsdefinitionen im folgenden Kapitel vorgestellt. Danach wird in Kapitel 3 der Fokus auf den Untersuchungsgegenstand, das Mindestlohngesetz in seiner aktuellen Form mit der Begrenzung der Bezugsberechtigten und den Übergangsfristen, gerichtet. Dafür wird zunächst die Ausgangslage und die Notwendigkeit eines flächendeckenden Mindestlohns skizziert und dann in einem zweiten Schritt das aktuelle MiLoG vorgestellt. In Kapitel 4 folgt die Analyse des Policy-Designs des MiLoG anhand der unabhängigen Variablen Parteiendifferenz und der verschieden ausgeprägten Machtressourcen der Interessenvertretungen. Dabei werden in einem ersten Teil die involvierten Parteien mit ihrer jeweils spezifischen Ideologie, Ausrichtung und Wählerstruktur vorgestellt. Anhand dieser Merkmale erfolgt anschließend die Untersuchung des Zeitraumes vom Wahlkampf 2013 bis zur Verabschiedung des Mindestlohngesetzes im Juli 2014 auf Parteiendifferenz. In welcher dieser Phasen kann Parteiendifferenz festgestellt werden und ist diese verantwortlich für die Begrenzung der Bezugsberechtigten im MiLoG? In einem zweiten Teil folgt ebenfalls in Kapitel 4 die Untersuchung der Machtressourcen der involvierten Interessenvertretungen. Es werden jeweils die Arbeitnehmervertreter und die Arbeitgebervertreter mit ihrer jeweiligen Ressourcenstärke und Ausrichtung skizziert. Waren die Arbeitgebervertreter im Untersuchungszeitraum ressourcenstärker als die Arbeitnehmervertreter und war dies der Grund, warum das MiLoG in seinem Anwendungsbereich beschränkt ist und Übergangsfristen vorsieht? Die Arbeit schließt in Kapitel 5 mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse und der Beantwortung der Fragestellung.

Zur Abgrenzung der Arbeit soll noch erwähnt werden, dass diese ausschließlich die Ausgestaltung des Mindestlohngesetzes mit Blick auf den Anwendungsbereich und etwaige Übergangsfristen zum Gegenstand hat. Die weiteren Artikel des Tarifautonomiestärkungsgesetzes werden in dieser Arbeit nicht berücksichtigt. Auch die Debatten um die Höhe des Mindestlohns, die ebenfalls dem Policy-Design des Mindestlohngesetzes zuzurechnen sind, stehen in dieser Arbeit nicht im Vordergrund, da besonders die Entwicklung hin zu einer (zeitlichen) gesetzlichen Ungleichbehandlung von Beschäftigten politikwissenschaftlich spannend ist.

2 Theoretische Grundlagen

Bevor in den nächsten Kapiteln der Fokus auf die Fragestellung und deren Beantwortung gelenkt wird, ist es nötig, ein eindeutiges Verständnis über die verwendeten Begrifflichkeiten zu erlangen. Diese werden in diesem Kapitel definiert. Ebenso erfolgt an dieser Stelle die Vorstellung der Parteiendifferenzhypothese und des Machtressourcenansatzes, mit deren Hilfe die Hypothesen untersucht und die Fragestellung beantwortet werden soll.

2.1 Begriffsdefinitionen

In der Abschlussarbeit wird der Begriff gute Arbeit verwendet. Auch im Koalitionsvertrag der CDU/CSU und der SPD aus dem Jahr 2013 (vgl. CDU/CSU/SPD 2013, S. 47 ff.) findet sich dieser Begriff, ohne dort näher erläutert zu werden. Eine allgemeingültige Definition für diesen Begriff ist nicht vorhanden. Bei der Präzisierung des Begriffes muss unterschieden werden zwischen den Merkmalen für eine gute Arbeitsstelle (gute Arbeit haben) und der Verrichtung einer Tätigkeit (gute Arbeit leisten).

Der Begriff gute Arbeit im Sinne von gute Arbeit haben, wurde geprägt von der IG Metall und meint, dass die Beschäftigten ein Mitspracherecht besitzen, ein angemessenes Entgelt beziehen, Arbeits- und Gesundheitsschutz vorhanden ist und soziale Sicherheit und Antidiskriminierung gewährleistet wird (IG Metall 2017). Die SPD definiert gute Arbeit im Sinne einer guten Arbeitsstelle in ihrem aktuellen Grundsatzprogramm aus dem Jahr 2007 als Arbeit, die gerecht bezahlt wird, die Teilhabe an den sozialen Sicherungssystemen ermöglicht, Anerkennung bietet, vorhandene Qualifikationen nutzt und weiter ausbaut, die die Gesundheit erhält, eine demokratische Teilhabe sowie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sicherstellt (SPD-Parteivorstand 2007, S. 52).

Gute Arbeit im Sinne von gute Arbeit leisten ist schwieriger zu definieren. Auch Arbeitnehmer, die bei Arbeitgebern beschäftigt sind, die nicht alle der oben genannten Kriterien für eine gute Arbeitsstelle erfüllen, leisten gute Arbeit. In dieser Abschlussarbeit wird unter gute Arbeit jede Art der abhängigen Beschäftigung verstanden. Jeder Beschäftigte leistet folglich gute Arbeit.

Es wird den Parteien unterstellt, dass sie mit der Forderung „gute Arbeit muss sich lohnen und existenzsichernd sein“ darauf abzielen, dass jeder in Vollzeit arbeitende abhängig Beschäftigte existenzsichernd vergütet werden soll. Existenzsichernd bedeutet, dass das Arbeitsentgelt so hoch ist, dass der Beschäftigte nicht mehr leistungsberechtigt für Hilfen der Grundsicherung gemäß SGB II ist. Ist das Arbeitsentgelt nicht existenzsichernd und der Arbeitnehmer bezieht Hilfe zur Grundsicherung gemäß SGB II, dann gilt er als „Aufstocker“ und bezieht aufstockende Leistungen bis zur Höhe der gesetzlichen Grundsicherung.

Ein weiterer zentraler Begriff in der Abschlussarbeit, der einer Definition verlangt, ist Mindestlohn. Grundsätzlich zu verstehen ist der Begriff als ein „(…) via gesetzlicher oder tarifvertraglicher Regelung in der Höhe festgelegtes kleinstes rechtlich zulässiges Arbeitsentgelt. Eine Mindestlohnregelung kann sich auf den Stundensatz oder den Monatslohn bei Vollzeitbeschäftigung beziehen. Neben national wirkenden Mindestlöhnen gibt es als weitere Erscheinungsformen v.a. regionale, branchen- oder berufsspezifische Varianten“ (Springer Gabler Verlag / Gabler Wirtschaftslexikon 2017). Mindestlöhne kann es folglich in den verschiedensten Varianten geben. Wenn in der Abschlussarbeit der Begriff Mindestlohn verwendet wird, dann wird darunter der gesetzlich geregelte national (flächendeckend) wirkende Mindestlohn in Höhe von 8,50 €/h verstanden. Andere Mindestlohnregelungen finden in der Abschlussarbeit keine Berücksichtigung, es sei denn, sie werden explizit als solche benannt.

2.2 Die Parteiendifferenzhypothese

Die Parteiendifferenzhypothese arbeitet mit der mittlerweile vielfach als selbstverständlich erscheinenden Annahme, dass es einen Unterschied für die politischen Inhalte macht, welche Partei die Regierung stellt („parties do matter“). Es wird davon ausgegangen, dass eine Partei diejenigen Politikinhalte vertritt, die ihre (Wieder-)Wahl sichert (Vote-Seeking) oder die der Partei und ihrer Kernwählerschaft ideologisch entspricht (Policy-Seeking) (vgl. Zohlnhöfer 2008, S. 159; Wenzelburger 2015, S. 81). Erstmalig formuliert wurde die „parties do matter“ Annahme von Douglas A. Hibbs. Er untersuchte in seiner 1977 erschienenen Abhandlung „Political Parties and Macroeconomic Policy“ die Wirtschaftspolitik von zwölf westeuropäischen und nordamerikanischen Ländern mit dem Ergebnis, dass die Ausrichtung der Parteien (Policy-Seeking) in den untersuchten Ländern einen Einfluss auf die Resultate in diesem Bereich hat. Hibbs beschreibt einen Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit und stellt fest, dass eine niedrige Arbeitslosenquote oft nur mit einer hohen Inflationsrate und umgekehrt zu erreichen ist. Linke Parteien mit ihrer Kernwählerschaft, die primär aus Arbeitern besteht, sind laut Hibbs eher dazu geneigt, Einfluss auf die Geldmarkt- und Steuerpolitik und somit auf die Höhe der Inflation zu nehmen, um einer hohen Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken, als rechte Parteien. Diese würden mit ihrer Kernwählerschaft, die primär aus Unternehmern und Beziehern von höheren Einkommen bestehen, eher eine niedrige Inflationsrate favorisieren und zwar auch zu dem Preis einer höheren Arbeitslosigkeit (Hibbs 1977, S. 1467 ff.).

Folglich unterstellt Hibbs in seiner oben genannten Arbeit den gewählten Regierungen, dass sie diejenige Wirtschaftspolitik verfolgen, von der die Kernwählerschaft der jeweiligen Regierungspartei profitiert.

Edward R. Tufte erweiterte die Parteiendifferenzhypothese 1978 u. a. um den Aspekt des Wahltermins. Auch er bescheinigt den linken und den rechten Parteien unterschiedliche Ziele in der Wirtschaftspolitik zu verfolgen (Policy-Seeking). So favorisieren rechte Parteien in der Regel eine Wirtschaftspolitik mit niedrigerer Besteuerung und niedrigerer Inflation und einem ausgeglichenen Staatshaushalt auf Kosten der Einkommensgleichheit und dabei steigender Arbeitslosigkeit. Im Gegensatz verfolgen linke Parteien in der Regel eine Wirtschaftspolitik, die ihre Ziele, auch auf Kosten steigender Inflation, in der Einkommensgleichheit und in einer niedrigen Arbeitslosenquote mittels einer höheren Staatsquote sehen (Tufte 1978, S. 71). Diese sich widersprechenden Ziele und Inhalte der Wirtschaftspolitik, da sind sich Hibbs und Tufte einig, liegen in der unterschiedlichen Wählerschaft und Mitgliederstruktur der Parteien begründet (ebd. S. 83). Besonders stark wird die Wirtschaftspolitik aber in der Phase vor einem Wahlkampf von den Regierungsparteien beeinflusst (ebd. S. 102). In dieser Zeit werden viele kurzfristige konjunkturfördernde Programme für eine große Anzahl an begünstigten Wählern, auch außerhalb der eigentlichen Kernwählerschaft, sowohl von rechten als auch von linken Regierungen initiiert (ebd. S. 9 ff.). Ziel ist die Maximierung von Wählerstimmen, um die Wiederwahl zu sichern (Vote-Seeking). Tufte relativierte seine Aussagen um den Punkt, dass Parteiendifferenz nur dann deutlich werde, wenn es im Wahlkampf kein anderes wirtschaftliches Problem gäbe, dass so von Bedeutung sei, dass die Parteien ihre präferierten Ziele vernachlässigten (ebd. S. 101).

Gemäß Tufte macht demnach nicht nur die Ideologie der Partei, die die Regierung stellt, einen Unterschied auf die Wirtschaftspolitik eines Landes, so wie es Hibbs formulierte, vielmehr erzeugen auch Vote-Seeking Motive vor Wahlterminen eine Veränderung in diesem Bereich.

Ebenfalls berücksichtigt wird der Einfluss von Wahlterminen auf einen Policy Change von Williamson und Haggard. Im Gegensatz zu Tufte interessieren sie sich jedoch für die Zeit nach den Wahlen. In ihrer „Honeymoon Hypothesis“ konstatieren sie, dass unpopuläre politische Veränderungen nach gewonnen Wahlen, unabhängig von elektoralen Erwägungen, durchgeführt werden können und nicht direkt die Wiederwahl gefährden, wie es z.B. zu einem späteren Zeitpunkt in der Legislaturperiode der Fall sein könnte (Williamson u. Haggard 1994, S. 571 f.).

Eine weitere Differenzierung der Parteiendifferenzhypothese erfolgte 1992 durch Hicks und Swank. Sie untersuchten die wohlfahrtsstaatliche Politik von 18 Ländern in einer Periode von 23 Jahren auf Einflüsse der Koalitions- und Oppositionsparteien in diesem Bereich. Im Ergebnis stellten sie u. a. fest, dass die wohlfahrtsstaatlichen Anstrengungen der Regierungen dem Einfluss von starken Koalitions- und Oppositionsparteien unterlagen (Hicks u. Swank 1992, S. 658-674). Demnach macht nicht nur die regierende Partei allein einen Unterschied auf die politischen Inhalte, so wie es Hibbs, Tufte sowie Williamson und Haggard in ihren Untersuchungen feststellten, sondern vielmehr wird die Wohlfahrtspolitik rechter Parteien und Parteien des Zentrums „angesteckt“ von starken linken (contagion from the Left) oder rechten (contagion from the Right) Koalitions- oder Oppositionsparteien (ebd. S. 667 f.). Unter einer „Ansteckung“ von links in der Wohlfahrtspolitik verstehen Hicks und Swank dabei eine Ausweitung der Umverteilung, unter einer „Ansteckung“ von rechts hingegen die Reduzierung (embourgeoisement) der Ausgaben für die Wohlfahrt (ebd.). Diese „Ansteckung“ in der Wohlfahrtspolitik erfolgt aufgrund des Konkurrenzkampfes um Wählerstimmen (ebd. S. 659).

Die Untersuchungen von Hibbs und Tufte stellten fest, dass Parteien einen Unterschied auf die politischen Inhalte machen. Dabei werden die Parteien entweder davon angetrieben, ihre ideologischen Präferenzen und Ziele umzusetzen oder aber ihre (Wieder-)Wahl zu sichern. Die Parteiendifferenzhypothese schafft somit die Möglichkeit, politischen Wandel anhand der Regierungscouleur zu erklären.

Der Konkurrenzkampf um Wählerstimmen, um die nächste Wahl zu gewinnen, relativiert jedoch den Einfluss der parteilichen Ideologie auf die politischen Inhalte. Je mehr Wähler mit einem politischen Thema zu mobilisieren sind, desto begrenzter ist die jeweilige Partei mit einer Politikformulierung, die lediglich ihrer Ideologie oder den Interessen ihrer Kernwählerschaft geschuldet ist (vgl. Downs 1968, S. 11; Zohlnhöfer 2003, S. 54). Ein gutes Beispiel bietet der Richtungswechsel der CDU/CSU in der Energiepolitik nach dem Reaktorunglück von Fukushima 2011. Es ist aber auch möglich, dass Parteien sich weiterentwickeln und deutliche Kurswechsel in ihrer parteilichen Ideologie vollziehen (vgl. Schmidt u. Ostheim 2007, S. 58). Sie sind somit nicht mehr ohne Weiteres in einigen Politikfeldern den gewohnten rechten, linken oder zentralen Parteifamilien zuzuordnen. Ein Beispiel bietet die Agenda 2010 der Koalitionsregierung von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aus dem Jahr 2003, welche mit einem massiven Abbau des Sozialstaates einherging.

Die o.g. Untersuchungen von Hibbs und Tufte konzentrieren sich auf die Wirtschafts- und Wohlfahrtspolitik einzelner Länder und konstatieren der Parteiendifferenzhypothese eine große Erklärungskraft für einen Policy Change in diesem Bereich. Die o.g. Autoren gehen davon aus, dass die Regierungen ohne weitere Hemmnisse ihre präferierten Politikinhalte umsetzen können (vgl. Schmidt u. Ostheim 2007, S. 57) und somit tatsächlich die Parteicouleur einen Unterschied auf die Politiken der Länder machen kann. Dass dem aber nicht uneingeschränkt zuzustimmen ist, stellte Schmidt 1996 fest. Besonders die privatwirtschaftlich organisierten Volkswirtschaften seien nicht politisch beeinflussbar (Schmidt 1996, S. 166). Dabei können besonders institutionelle Hemmnisse oder Vetoakteure, wie z.B. in Deutschland abweichende Mehrheiten im Bundesrat, der Bundesgerichtshof, der Bundespräsident, der Koalitionspartner oder auf Ebene der Bundesländer die Bürger durch Initiierung von Referenden, die Gestaltbarkeit von Politiken durch die Parteien begrenzen (vgl. Zohlnhöfer 2003, S. 64). Auch die wachsende Europäisierung schränkt den Einfluss von Parteien besonders in der Wirtschafts- und Sozialpolitik ein (vgl. ebd. S. 75). Untersuchungen aus anderen Politikfeldern und auf anderen Ebenen kommen zu dem Ergebnis, dass Parteien einen Unterschied machen können (exemplarisch Turner 2011, S. 219 ff.), politischer Wandel aber oft nicht ausschließlich mit der Parteiendifferenzhypothese erklärbar ist (exemplarisch Schmidt 1980, S. 129 ff.; Wenzelburger 2015, S. 100 f.). Zusätzlich zu den institutionellen Hemmnissen und den Vetospielern sind Parteien auch den Einflüssen von Lobbyverbänden ausgesetzt (vgl. Reiter u. Töller 2014, S. 52). Diese versuchen die Parteien zu beeinflussen, um so die Politik gemäß ihren Präferenzen zu gestalten. Den theoretischen Bezug zu den Möglichkeiten und Grenzen der Einflussnahme durch die Interessenvertreter stellt das nächste Unterkapitel vor.

Trotz der genannten Kritik kann die Parteiendifferenzhypothese zur Beantwortung der Fragestellung und zur Untersuchung der Hypothese H1 beitragen. Im ersten Teil des vierten Kapitels dieser Arbeit lenkt sie den Fokus auf die Ideologie und die Kernwählerschaft der in der 18. Legislaturperiode vertretenen Parteien. Im weiteren Verlauf werden dann die Phasen vom Wahlkampf bis zum Gesetzesbeschluss auf Parteiendifferenz untersucht und anschließend festgestellt, inwieweit diese Differenz die Begrenzung der Bezugsberechtigten und die zeitlichen Übergangsfristen im MiLoG zur Folge hatten.

2.3 Die Machtressourcentheorie

Anders als bei der Parteiendifferenzhypothese gehen Vertreter dieser theoretischen Strömung nicht davon aus, dass Parteien allein mit ihrer ideologischen Differenz oder ihrem Konkurrenzkampf um Wählerstimmen die Staatstätigkeit prägen. Vielmehr wird der Ansatz verfolgt, dass sich Regierungspolitik durch die unterschiedlich stark vertretenen Machtressourcen konfligierender gesellschaftlicher Klassen (üblicherweise Arbeit und Kapital) erklären lässt. Prägend für die kritische Variante der Machtressourcentheorie sind die Arbeiten von Walter Korpi und Gøsta Esping-Andersen.

Korpi untersuchte 1978 die Rolle der schwedischen Arbeiterklasse in einer kapitalistisch geprägten Industriegesellschaft. Besonders interessierte ihn der Zeitraum ab den 1960er-Jahren, der von den Streiks der schwedischen Gewerkschaften geprägt war. Er stellte in seinen Untersuchungen fest, dass die Dachorganisation der schwedischen Gewerkschaften, die Landsorganisationen i Sverige, wesentlich zur Neuausrichtung der schwedischen Sozialdemokraten beigetragen hat. Die Streiks der 60er-Jahre trugen zur Debattenkultur in Schweden bei, indem sie den Fokus auf die Notwendigkeit einer redistributiven Politik und eines Wohlfahrtsstaates lenkten. Infolgedessen führte die sozialdemokratische Regierung in den 1970er-Jahre eine Reihe von Gesetzen zum Schutz der Arbeiter ein (Korpi 1978, S, 324 f.).

In einer weiteren Arbeit von Korpi zusammen mit Esping-Andersen aus dem Jahr 1984 zur Entwicklung der Nachkriegs-Sozialpolitik in Skandinavien, Österreich und Deutschland stellten beide Autoren fest, dass die unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen jeweils verschiedene Interessen vertraten. Diese versuchten sie mittels jeweils divergierender Strategien und Ziele zu realisieren. Dafür benutzten sie ihre verschieden stark ausgeprägten Machtressourcen, die die Entwicklung und den Ausbau des Wohlfahrtsstaates beeinflussten (Esping-Andersen u. Korpi 1984, S. 179 ff.).

Zusätzlich zu der Arbeit mit Walter Korpi ist besonders Gøsta Esping-Andersens Werk aus dem Jahr 1990 interessant. In seiner Abhandlung „The Three Worlds of Welfare Capitalism“ setzt er den Fokus auf den Wohlfahrtsstaat, der gemäß seinen Ausführungen in verschieden ausgeprägten Typen auftreten kann (Esping-Andersen 1990. S. 3). Die Typenbildung erfolgt in seinem Werk u. a. nach dem Grad der „de-commodification“ in den verschiedenen Wohlfahrtsstaaten (ebd.). Darunter versteht Esping-Andersen das Ausmaß der sozialen Rechte der Bürger, welches sie gegen den Zwang, ihre Arbeitskraft auf den freien Markt verkaufen zu müssen, um ihren Lebensstandard zu halten, absichert (ebd. S. 3 u. S. 21). In seiner Abhandlung identifiziert er anhand des Grades der Dekommodifizierung drei Arten von Wohlfahrtsstaatstypen, den konservativen, den liberalen und den sozialen Wohlfahrtsstaat (ebd. S. 128 ff.). Der konservative Wohlfahrtsstaat ist laut Esping-Andersen entstanden durch starke katholische Parteien und eine Vergangenheit, die geprägt wurde durch absolutistische und autoritäre Staatstätigkeit (ebd. S. 133). Den liberalen Wohlfahrtsstaat kennzeichnet dagegen eine Vorherrschaft der privatwirtschaftlichen sozialen Absicherungssysteme und Sozialleistungen, die an persönlicher Bedürftigkeit orientiert sind (ebd. S. 135). Im liberalen Wohlfahrtsstaat hingegen gehören Universalismus und Gleichheit zu den obersten Prinzipien, die durch starke linke Parteien geformt wurden (ebd. S. 136 f.). Den Grund, warum sich verschiedene Typen von Wohlfahrtsstaaten entwickeln konnten, formulierte Esping-Andersen bereits wesentlich früher: Demnach sind es die Stärken der Gewerkschaften, gemessen an ihrem Organisationsgrad sowie die Stärken der Linksparteien, die die Ausprägung staatlicher Wohlfahrtspolitik formten (Esping-Andersen 1985, S. 467). Dabei hängt die Macht der Gewerkschaften wesentlich von dem Maß der Uneinigkeit der nicht dem linken Spektrum der Parteienfamilien zugehörigen Parteien ab sowie von den Möglichkeiten, die die linken Parteien besitzen, um Bündnisse mit anderen gesellschaftlichen Gruppen unabhängig von der Arbeiterklasse eingehen zu können (ebd.).

Esping-Andersen (1985, S. 467) benennt in seiner Ausführung bereits zwei nach seinem Verständnis wichtige Machtressourcen der Arbeitgebervertreter. Eine etwas generellere Sichtweise auf die Kriterien von Machtressourcen für Interessenvertretungen benennen Tobias Ostheim und Manfred G. Schmidt. Demnach lassen sich Machtressourcen aufgrund von sechs verschiedenen Charakteristiken nachweisen: (1) Organisationskraft, (2) Konfliktfähigkeit, (3) Möglichkeiten zur Mobilisierung, (4) parlamentarische und außerparlamentarische Präsenz, (5) Anteil der verbündeten Parteien an der Regierung und (6) sozialer Schutz der Gruppenmitglieder durch den Wohlfahrtsstaat gegenüber den Zwängen des Marktes (Ostheim u. Schmidt 2007, S. 40).

Die Arbeiten von Korpi und Esping-Andersen zeigen auf, dass Staatstätigkeit nicht nur von den Parteien geprägt wird. Vielmehr sind es die Interessen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen mit ihren unterschiedlichen Machtressourcen, die die Staatstätigkeit und die Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten beeinflussen. Die Machtressourcentheorie schafft die Möglichkeit, Policy-Output anhand von konkreten Akteuren und ihren Interessen zu erklären (vgl. Reiter u. Töller 2014, S. 46). Allerdings macht die oben vorgestellte Arbeit von Esping-Andersen aus dem Jahr 1990 auch deutlich, dass die Machtressourcen der Gewerkschaften den Wohlfahrtsstaat nur im Zusammenhang mit starken linken Parteien prägen konnten. Machtressourcen sind demnach immer im Zusammenhang mit Regierungsbeteiligungen ideologisch verwandter Parteien zu betrachten (vgl. Ostheim u. Schmidt 2007, S. 47). Die Untersuchungen von Korpi und Esping-Andersen beziehen sich lediglich auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik und den klassischen Konflikt zwischen Arbeit und Kapital in hoch entwickelten Industrienationen. Arbeiten zum Policy-Output in anderen Politikfeldern und Ländern werden mittels Machtressourcentheorie kaum durchgeführt (vgl. Reiter u. Töller 2014, S. 46). Ein weiterer Kritikpunkt zur Machtressourcentheorie ist, dass Korpi und Esping-Andersen den Gewerkschaften ein hohes Machtpotenzial konstatieren, welches wesentlich zur Entwicklung des Wohlfahrtsstaates beigetragen habe. Das dieses hohe Machtpotenzial für aktuellere Untersuchungen nicht mehr vorhanden ist, macht u.a der kontinuierliche Mitgliederrückgang der Gewerkschaften deutlich (vgl. Ebbinghaus 2015, S. 72). Auch die von Korpi und Esping-Andersen formulierte enge Beziehung zwischen Gewerkschaften und Parteien des linken Spektrums ist längst nicht mehr so unabänderlich, wie die Autoren in ihren Arbeiten feststellten (vgl. Ostheim u. Schmidt 2007, S. 48). Für Deutschland bietet der Protest der Gewerkschaften gegen die Agenda 2010 der Koalitionsregierung von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein gutes Beispiel. Zur Einschränkung der Erklärungskraft von Machtressourcen auf den Policy-Output trägt ebenfalls bei, dass bei diesem theoretischen Zugang, ebenso wie bei der Parteiendifferenzhypothese, institutionelle Hemmnisse und Vetospieler nicht berücksichtigt werden (vgl. Ostheim u. Schmidt 2007, S. 47; Zohlnhöfer 2008, S. 159).

Trotz aller Kritik an der Machtressourcentheorie bietet sie dennoch die Möglichkeit, die Fragestellung der Abschlussarbeit sowie die Hypothese H2 zu bearbeiten. Die Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter waren unmittelbar am Gesetzgebungsprozess zum MiLoG beteiligt, dessen Einführung und Anwendungsbereich einen klassischen Konflikt zwischen Arbeit (vertreten durch die Gewerkschaften) und Kapital (vertreten durch die Arbeitgeberverbände) darstellt. Welche jeweilige Seite über mehr Macht verfügte und ob der Anwendungsbereich des MiLoG entsprechend der Präferenzen des ressourcenstärkeren Interessenverbandes gestaltet wurde, werden die Untersuchungen im zweiten Teil des vierten Kapitels dieser Arbeit ergeben.

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Ende der Leseprobe aus 57 Seiten

Details

Titel
Warum der Mindestlohn nicht für alle Beschäftigten gilt. Wenn sich gute Arbeit doch nicht lohnt
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Kultur- und Sozialwissenschaft)
Note
2,1
Autor
Jahr
2017
Seiten
57
Katalognummer
V441889
ISBN (eBook)
9783668802094
ISBN (Buch)
9783668802100
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mindestlohn
Arbeit zitieren
Claudia Stockhowe (Autor:in), 2017, Warum der Mindestlohn nicht für alle Beschäftigten gilt. Wenn sich gute Arbeit doch nicht lohnt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/441889

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