"Egal, wie jung du bist – Jesu Freunde waren Jünger!". Zur Klärung eines etymologischen Problems


Referat (Ausarbeitung), 2018

4 Seiten, Note: (ohne Bewertung)


Leseprobe


»Egal, wie jung du bist – Jesu Freunde waren Jünger!«

[1] Zur Klärung eines etymologischen Problems

Die Etymologie des Worts Jünger ist auf den ersten Blick eher einfach und intuitiv. Die einschlägigen Wörterbücher lassen keinen Zweifel aufkommen: Es ist der substantivierte Komparativ des gemeinbekannten Wortes jung. [2] , [3] Die Jünger(n) sind also im Grunde genommen nichts weiter als eine Gruppe von Leuten, die jünger sind als irgendeine Bezugsperson.

Doch so einfach darf man es sich nicht machen. Dann wären auch die Eltern nichts anderes als eine Gruppe von Leuten, die älter sind als irgendjemand. Denn diese Kollektivbezeichnung ist ebenfalls ein substantivierter Komparativ, in diesem Fall des Adjektivs alt. [4] , [5] Allerdings bedeutet das Wort heute bekanntlich viel mehr: Die Bezugsperson ist in jedem Fall der Sprecher selbst, und er bezeichnet damit nur zwei ältere Personen – nämlich diejenigen, die ihn gezeugt haben.

Das Wort hat sich also in seiner Bedeutung verengt. Solche Bedeutungswandel gehen oft mit einem sozialen Wandel einher.

Exkurs I: Bedeutungswandel des Wortes Eltern

Wenn ein kleiner Germane in der Bronzezeit von mīnan alþjaron (meinen Älteren) sprach, dann meinte er damit alle älteren Personen, die mit ihm in seinem Langhaus wohnten – viel mehr Menschen als diese kannte er auch nicht; das waren alle Älteren, die für ihn von Bedeutung waren. Über diese definierte er seine Herkunft. Dass sie alle mit ihm verwandt waren, war eine Selbstverständlichkeit. Eine besondere Differenzierung, etwa eine Beschränkung auf das Vater-Mutter-Duo, war nicht nötig. Er hatte auf alle Älteren zu hören – o b es sich dabei um seinen Vater oder einen Onkel dritten Grades handelte, war da egal.

Das Alter implizierte also ein Abhängigkeitsverhältnis: Wer älter ist als du, dem hast du zu gehorchen. Denn er ist für gewöhnlich schlauer und erfahrener. Mit der Gleichsetzung des Älteren mit einer erfahrenen Autorität, auf die man zu hören hat, sind wir übrigens auf einer heißen Spur bei der Frage nach dem Ursprung der Verwendung des Worts Jünger im Sinne von Schüler.

Aber kommen wir zurück zu dem kleinen Germanen, der jetzt kein Bärenfellträger mehr sein soll, sondern ein nobler Alemanne aus dem Frühmittelalter. Auch er redet noch von mīnan eltiron und bezeichnet damit weiterhin alle Älteren, die mit ihm unter einem Dach leben. Doch er hat keine unübersichtliche germanische Großfamilie mehr. Er wohnt nämlich außer mit seinen Geschwistern nur noch mit seinem Vater und seiner Mutter zusammen. Das elternzentrierte Verwandtschaftssystem hat das stammeszentrierte Verwandtschaftssystem abgelöst. [6]

Nun wissen wir aber immer noch nicht, warum die griechische Pluralform μαθηταί im Neuen Testament seit dem 8. Jahrhundert ausgerechnet mit jungiron (ahd.) und später jungern (mhd.)[7] in die deutsche Sprache übersetzt wird – wobei Jesu Anhänger doch keineswegs allesamt jünger gewesen sind als er bzw. diese Tatsache kein derartiges Alleinstellungsmerkmal gewesen sein kann, dass eine semantische Fokussierung auf den Altersunterschied zu rechtfertigen wäre.

Mehr noch! Wir sehen, dass Jünger allerorten als Synonym für Schüler gebraucht wird – nicht nur für diejenigen Jesu:

Sanctus Dionysius jungern vrâgeten Dionysium, warumbe sie Timotheus alle vürliefe an vollekomenheit? [8]

Die Schüler des heiligen Dionysius fragten ihn, warum Timotheus sie alle an Vollkommenheit übertreffe.

Die Übersetzer – wer es zuerst tat, können wir nicht rekonstruieren – suchten also nach einem treffenden deutschen Wort für die Vokabel des Urtexts bzw. dessen lateinischer Übersetzung und wurden beim Gegenstand unserer Untersuchung fündig.

Schauen wir uns diese beiden Vokabeln einmal etymologisch etwas genauer an. Vielleicht finden wir hierbei eine Verbindung zur Wortfamilie rund um die Jünger!

Exkurs II: Etymologie der Wörter μαθητής und discipulus

Das griechische Wort μαθητής ist das Nomen agentis zur Aoristwurzel μαθει̃ν = lernen, erfahren (aus den indogermanischen Wurzeln *men- = denken, Gedächtnis und *dʰeh₁- = tun, legen, stellen, also etwa ins Gedächtnis legen).[9] Ein μαθητής ist wörtlich übersetzt einfach ein „Lerner“ bzw. jemand, der lernt.

Das lateinische Wort discipulus (aus der Vorsilbe dis-, von idg. *d uís = doppelt, zweigeteilt , und proto-italisch *kapelos, dem Nomen agentis zu *kapelo = nehmen, ergreifen) heißt wörtlich übersetzt etwa „In-zwei-Teile-Nehmer“.[10] Ein discipulus ist also jemand, der etwas (nämlich Wissen) aufnimmt und es dadurch verdoppelt. Denn neues Wissen will keiner für sich behalten, sondern wiederum mit anderen teilen!

Die indogermanischen Wurzeln, auf die beide Wörter zurückgeführt werden können, zeigen uns, dass beiden Wörtern die Vorstellung vom Nehmen und Versetzen konkreter Gegenstände zu Grunde liegt, die metonymisch für den Transfer von Wissen steht. Zur Wortfamilie der Jünger sehen wir jedoch keine Anknüpfungspunkte …

Spätestens jetzt sollten wir uns die Frage stellen, welche Alternativen den Übersetzern zur Verfügung standen. Hätten sie μαθητής überhaupt mit Schüler übersetzen können?

Das hätten sie nicht. Dieses Wort ist in der deutschen Sprache gar nicht angelegt. Das althochdeutsche Äquivalent scuolari ist das Nomen agentis zu scuola, das im 6. Jahrhundert aus dem spätlateinischen Terminus schola entlehnten wurde, um ein geeignetes Wort für den Ort der religiösen Ausbildung – also das Kloster oder die Synagoge – zu besitzen.[11] Unter einem scuolari versteht man damals ausschließlich einen regelmäßigen Besucher dieses Ortes; solch eine Vokabel hätte den Leser ein falsches Bild vermittelt, nämlich dass sich die Anhänger Jesu allesamt über die Tatsache definiert hätten, regelmäßige Besucher von Synagogen zu sein!

Wir sind gerade auf ein kurioses Phänomen gestoßen: Die deutsche Sprache besitzt in ihrem Erbwortschatz kein Wort für einen Menschen, der sich Wissen aneignet. Sie kennt das Wort lernen, aber ein Nomen agentis („Lerner“) ist nicht belegt. Zudem ist lernen nur eine schwundstufige Nebenform zu lehren, was wiederum eine Kausativbildung zur indogermanischen Wurzel *leis = Spur, Furche ist und die Ausgangsbedeutung jemanden auf die Fährte des Wildes führen trägt.[12]

Der Germane brauchte schlicht kein Wort für jemanden, der sich Bildung erarbeitet bzw. gebildet wird, da er keinen Begriff von Bildung über den praktischen Nutzen (wie z. B. das Jagdglück) hinaus besaß.

Es musste also ein anderer Begriff her. Wie wir wissen, griffen die Übersetzer, um ihrem Volk die Bedeutung des Urtexts deutlich zu machen, auf die substantivierte Form eines Wortes zurück, das von jeher in der deutschen Sprache gang und gäbe war – auf das Adjektiv jung. Stellt sich nur noch die Frage: Mit welcher Berechtigung?

Jetzt zahlt es sich aus, dass wir bereits so viel über den Bedeutungswandel des Wortes Eltern gelernt haben. Es fällt uns damit leichter, den Bedeutungswandel nachzuvollziehen, der eintreten musste, bevor die Jünger(n) im biblischen Kontext als Übersetzung der μαθηταί auftreten konnten.

Im Lateinischen gibt es eine Vokabel, die durchaus als Synonym zu discipulus betrachtet werden kann und die dem deutschen Jünger viel besser entspricht: das lateinische nouicius (als deutsches Lehnwort Novize) . Hier steckt nämlich das Adjektiv nouus (von idg. *néu̯os = neu) drin – und schon sind wir dem Bedeutungsfeld der Wortfamilie jung verdächtig nahe!

Und das aus gutem Grund; beiden Wörtern liegt dieselbe Annahme zu Grunde: Wer irgendwo neu ist, muss belehrt, unterrichtet und unterwiesen werden. Er wird zum Novizen. Und wer irgendwo neuer ist als andere – besonders in einem Kloster –, ist im Regelfall auch jünger als diese: Er ist ein Jünger(er). Der Jünger(e) folgt nun den Älter(e)n (wir erinnern uns: den erfahrenen Autoritäten); diese sind Lehrer, jener ist Schüler.

Nun bewirkt ein neuer sozialer Kontext wieder einen Bedeutungswandel: Sprach der gemeine althochdeutsche Sprecher , wenn er von Jüngern redete, zunächst wörtlich über gewisse Menschen, die jünger als irgendeine Bezugsperson waren, fixierte sich das Wort in einem Kloster auf die Neulinge, die belehrt werden müssen. So erhielt der Ausdruck eine Nebenbedeutung, die die Ursprungsbedeutung immer weiter in den Hintergrund drängte, da diese im neuen sozialen Kontext an Wichtigkeit verloren hatte.

Mit der Zeit waren nicht mehr alle Novizen per se jünger als ihre Lehrer, aber sie mussten immer noch von ihnen lernen; das Wort blieb, aber seine Bedeutung verengte sich. Im 8. Jahrhundert war diese dann schon völlig von der Komponente des Alters gelöst und man hatte eine wunderbare semantische Entsprechung für die griechischen μαθηταί gefunden – womit auch unser Problem gelöst ist.

[1] Apophthegma auf einem T-Shirt des Onlinehändlers spreadshirt.de (im Original: »EGAL WiE JuNG Du BiST JesUS ʻ FREuNDE WAREN JüNGeR [sic]«)

[2] Vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Walter de Gruyter 242001; Artikel Jünger

[3] Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm : Deutsches Wörterbuch in 16 Bänden. Hirzel 1854–1961 (folgend: DWB); Artikel Jünger

[4] Vgl. DWB; Artikel Eltern

[5] Wären die Rechtschreibreformer im Jahre 1996 konsequent gewesen, müssten wir das Wort heute (wie es noch im 18. Jahrhundert üblich war) Ältern schreiben.

[6] Vgl. Andreas Gestrich u. a. (Hrsg.): Geschichte der Familie. Kröner 12003; Abschnitt Mittelalter

[7] Die umgelautete nhd. Form Jünger begegnet bereits in mhd. Dialekt, wird aber erst durch Luther zum Standard (vgl. DWB, Artikel Jünger).

[8] Meister Eckhart: Die Deutschen Werke, Bd. 16, Kap. 1 ; z itiert nach: DWB, Artikel Jünger

[9] Vgl. Don Ringe: From Proto-Indo-European to Proto-Germanic, Oxford University Press 12006

[10] Vgl. De Vaan, Michiel: Etymological Dictionary of Latin and the other Italic Languages, Brill 12008; Artikel discipulus

[11] Vgl. DWB, Artikel Schule und Schüler

[12] Vgl. Digitales Wortauskunftsystem der deutschen Sprache dwds.de, Artikel lehren (aufgerufen am 9. 11. 17)

Ende der Leseprobe aus 4 Seiten

Details

Titel
"Egal, wie jung du bist – Jesu Freunde waren Jünger!". Zur Klärung eines etymologischen Problems
Hochschule
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Note
(ohne Bewertung)
Autor
Jahr
2018
Seiten
4
Katalognummer
V441871
ISBN (eBook)
9783668799806
ISBN (Buch)
9783668799813
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Jünger, Etymologie, Sprachgeschichte, Neues Testament, Jesus, Bibel
Arbeit zitieren
Stefan Candid Depenheuer (Autor:in), 2018, "Egal, wie jung du bist – Jesu Freunde waren Jünger!". Zur Klärung eines etymologischen Problems, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/441871

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