Eine Interpretation von Georg Trakls Gedicht "Abendländisches Lied" (1913)


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2018

31 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung

Georg Trakl: Abendländisches Lied

1 Der Titel des Gedichts: Abendländisches Lied

2 Erste Strophe
2.1 O der Seele nächtlicher Flügelschlag
2.2. Hirten gingen wir einst an dämmernden Wäldern hin
2.3 Und es folgte das rote Wild, die grüne Blume und der lallende Quell demutsvoll
2.4 O, der uralte Ton des Heimchens
2.5 Blut blühend am Opferstein
2.6 Und der Schrei des einsamen Vogels über der grünen Stille des Teichs.

3 Zweite Strophe
3.1 O, ihr Kreuzzüge und glühenden Martern des Fleisches
3.2 Fallen purpurner Früchte im Abendgarten, wo vor Zeiten die frommen Jünger gegangen
3.3 Kriegsleute nun, erwachend aus Wunden und Sternenträumen
3.4 O, das sanfte Zyanenbündel der Nacht.

4 Dritte Strophe
4.1 O, ihr Zeiten der Stille und goldener Herbste, da wir friedliche Mönche die purpurne Traube gekeltert;
4.2 Und rings erglänzten Hügel und Wald. O, ihr Jagden und Schlösser;
4.3 Ruh des Abends, da in seiner Kammer der Mensch Gerechtes sann, in stummem Gebet um Gottes lebendiges Haupt rang.

5 Vierte Strophe
5.1 O, die bittere Stunde des Untergangs, da wir ein steinernes Antlitz in schwarzen Wassern beschaun.
5.2 Aber strahlend heben die silbernen Lider die Liebenden: Ein Geschlecht.
5.3 Weihrauch strömt von rosigen Kissen und der süße Gesang der Auferstandenen.

6 Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Vorbemerkung

Diese Interpretation in möglichst einfacher Sprache soll besonders SchülerInnen, StudentInnen und Lehrenden helfen, einen Zugang zu den Gedichten Georg Trakls zu finden. Das Gedicht „Abendländisches Lied“ ist ein gutes Beispiel nicht nur für Trakls Schaffen, sondern auch allgemein für die expressionistische und symbolistische deutsche Lyrik kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Es gehört zu Trakls letzten Gedichten, die ab Dezember 1913 entstanden sind.[1] Veröffentlicht wurde es erstmals am 1. Januar 1914 in der Zeitschrift „Der Brenner“.[2] – Erst einmal lesen wir das Gedicht im Ganzen, bevor wir es Zeile für Zeile und Strophe für Strophe durchgehen. Zur besseren Übersichtlichkeit sind wesentliche Begriffe der Interpretation fettgedruckt.

Georg Trakl: Abendländisches Lied

O der Seele nächtlicher Flügelschlag

Hirten gingen wir einst an dämmernden Wäldern hin

Und es folgte das rote Wild, die grüne Blume und der lallende Quell

Demutsvoll. O, der uralte Ton des Heimchens,

Blut blühend am Opferstein

Und der Schrei des einsamen Vogels über der grünen Stille des Teichs.

O, ihr Kreuzzüge und glühenden Martern

Des Fleisches, Fallen purpurner Früchte

Im Abendgarten, wo vor Zeiten die frommen Jünger gegangen,

Kriegsleute nun, erwachend aus Wunden und Sternenträumen.

O, das sanfte Zyanenbündel der Nacht.

O, ihr Zeiten der Stille und goldener Herbste,

Da wir friedliche Mönche die purpurne Traube gekeltert;

Und rings erglänzten Hügel und Wald.

O, ihr Jagden und Schlösser; Ruh des Abends,

Da in seiner Kammer der Mensch Gerechtes sann,

In stummem Gebet um Gottes lebendiges Haupt rang.

O, die bittere Stunde des Untergangs,

Da wir ein steinernes Antlitz in schwarzen Wassern beschaun.

Aber strahlend heben die silbernen Lider die Liebenden:

Ein Geschlecht. Weihrauch strömt von rosigen Kissen

Und der süße Gesang der Auferstandenen.[3]

1 Der Titel des Gedichts: Abendländisches Lied

Trakl bezeichnet dieses Gedicht als ein Lied und bestimmt es näher als ein abendländisches. „Abendland“ ist ein anderer Name für Europa, so wie „Morgenland“ ein anderer Name für den Orient, vor allem für Arabien ist. Dieses Gedicht scheint also in einer engen Beziehung mit Europa zu stehen. Was ist damit gemeint? Europa ist ein Kontinent, zu dem typischerweise Länder wie Norwegen (im Norden) bis Griechenland (im Süden), von Portugal (im Westen) bis zur Ukraine (im Osten) gezählt werden. Auch der westliche Teil Russlands bis zum Uralgebirge befindet sich auf dem europäischen Kontinent. Das Abendland oder Europa ist also ein geographischer Raum, aber es ist auch ein kultureller Raum: Denn die Menschen, die in diesem Raum leben und lebten, hatten und haben bestimmte Vorstellungen davon, wie sie leben möchten, was der Sinn des Lebens ist, was gut und was böse ist, was wahr und was falsch ist. Diese Vorstellungen wirken sich darauf aus, wie diese Menschen mit sich und anderen Menschen umgehen. Das heißt, diese Vorstellungen beeinflussen die Praxis der Menschen, die diese Vorstellungen haben. „Praxis“ ist das, was Menschen tun. Dieses Tun besteht oft in Verhaltensweisen, die über lange Zeit entwickelt und von Generation zu Generation weitergegeben werden, z.B. lesen, schreiben, Gedichte interpretieren und Tiere hüten. Beides zusammen, die Vorstellungen und die Praxis, können wir „Kultur“ nennen. Wenn von „Abendland“ die Rede ist, geht es oftmals besonders um die Kultur und dabei besonders um das Christentum, aber auch um die vorchristliche Geschichte Europas.[4]

Dazu ein Beispiel: Die antiken Griechen schufen Tempel und Statuen, die sich leicht von den Tempeln und Statuen anderer Kulturen unterscheiden lassen. Das taten sie, weil sie eine bestimmte Vorstellung davon hatten, wie man gut leben soll und welchen Sinn die Welt hat. Sie glaubten, in einer Welt zu leben, die von Göttern regiert wird. Diese Götter waren ähnlich wie Menschen, sie fühlten ähnlich, aber sie waren viel mächtiger als Menschen. Deshalb stellten die antiken Griechen die Götter so dar, dass sie aussahen wie Menschen, sich aber auch von Menschen unterschieden. Statuen des Gottes Zeus etwa hielten ein Bündel Blitze in der Hand, um zu zeigen, dass Zeus viel mächtiger ist als ein Mensch. Weil die Griechen auf eine bestimmte Art und Weise zusammenleben wollten, auf eine bestimmte Art und Weise Kunst schufen, Städte bauten, Speisen zubereiteten usw., kann man von einer griechischen Kultur sprechen – auch wenn die sich natürlich mit der Zeit änderte und nicht jede griechische Stadt wie die andere war.[5]

Dieses Beispiel der antiken Griechen zeigt uns noch etwas anderes. Und zwar sind Kulturen nicht nur räumlich verbreitet, sondern sie ändern sich auch mit der Zeit. Seit der Antike hat sich vieles geändert. Die heutigen Bewohner Europas müssen nicht mehr an Götter oder an einen einzigen Gott glauben, und auch sonst leben sie ganz anders als ihre Vorfahren. Und auch in der Antike lebten viele Menschen in Europa, die an andere Götter glaubten als die Griechen und die ganz andere Kunstwerke schufen, ganz andere Häuser bauten und ganz andere Speisen zu sich nahmen. Wenn man vom Abendland redet, geht es deshalb nicht nur darum, welche Länder zum Abendland gehören. Es geht auch darum, worin sich die europäischen Kulturen ähneln, was sie verbindet, was an diesen Kulturen besonders stabil und wichtig ist. Die europäische Kultur besteht aus Kulturen, denn die Länder und Regionen Europas haben natürlich unterschiedliche Bräuche, Sprachen, Religionen bzw. Konfessionen usw. Und wenn man es ganz genau nimmt, hat auch kein Mensch exakt dieselbe Kultur wie ein anderer Mensch. Aber die kulturelle Prägung von Menschen ähnelt sich sehr oft und sehr stark in bestimmten Menschengruppen in bestimmten Gebieten. Das liegt einfach daran, dass Menschen zusammenleben und dabei Vorstellungen und Verhaltensweisen der Menschen, mit denen sie zusammenleben, übernehmen und beeinflussen. Menschen mit ähnlichem Verhalten und ähnlichen Vorstellungen lassen sich als eine Gruppe von anderen Gruppen unterscheiden. Das heißt, bestimmte Verhaltensweisen sind in einer Gruppe wahrscheinlicher als in einer anderen. Wenn wir z.B. Norddeutschen begegnen, dann ist es wahrscheinlich, dass sie uns mit „Moin!“ begrüßen. Andere würden uns eher mit „Glück auf!“ oder mit „Grüß Gott!“ begrüßen. Auch solche Begrüßungsformeln gehören zur Kultur. Gruppen, in denen solche Verhaltensweisen häufig sind, werden als Kulturen oder kulturelle Gruppen bezeichnet. Solche kulturellen Gruppen können zu größeren kulturellen Gruppen gehören. Bspw. ist die norddeutsche Kultur ein Teil der deutschen Kultur, und die deutsche Kultur ist ein Teil der europäischen Kultur.

Die europäische Kultur besteht genau genommen aus einer Reihe von Kulturen, die sich auch im Laufe der Geschichte verändert haben. Zum Beispiel haben moderne Franzosen nicht viel mit mittelalterlichen Franzosen gemeinsam. Aber die mittelalterliche französische Sprache entwickelte sich zum heutigen modernen Französisch. Und die europäischen Sprachen wie Deutsch, Englisch, Französisch usw. ähneln sich, sie haben eine gemeinsame Geschichte. Genauso haben auch die Vorstellungen und die Verhaltensweisen europäischer Menschen eine gemeinsame Geschichte – zum Beispiel in der Technik, der Philosophie, der Naturwissenschaft und der Kunst. Denn die europäischen Kulturen haben sich immer gegenseitig beeinflusst. Die eigene Gesellschaft hatte ähnliche Bräuche wie die Nachbarn, die hatten wiederum ähnliche Bräuche wie ihre Nachbarn. Das ist ja heute noch so, und zwar überall auf der Welt, nicht nur in Europa.

Wenn es nun so große Unterschiede zwischen europäischen Menschen gab und gibt, warum spricht man dann überhaupt von Europa oder vom Abendland? Denn damit fasst man ja viele unterschiedliche Menschen zusammen und sagt über sie: „All diese Menschen sind trotz ihrer Unterschiede Europäer.“ Das kann damit zu tun haben, dass all diese Menschen auf demselben Kontinent leben. Aber das ist langweilig, darüber muss man keine Lieder schreiben. Trakl ging es nicht einfach um einen geographischen Raum. Wie wir noch sehen werden, ist das, was Trakl in diesem Gedicht interessiert, die europäische Kultur. Bei allen Unterschieden zwischen einzelnen Menschen, Regionen und Ländern gab es jahrhundertelang eine große Gemeinsamkeit der europäischen Kulturen: Die meisten europäischen Menschen waren Christen. Wenn man vom Abendland spricht, von Europa als kulturellem Raum, dann weist man damit oft auf den Einfluss des Christentums auf die europäischen Menschen hin. Wie wir sehen werden, sind in „Abendländisches Lied“ genau solche christlichen Einflüsse sehr wichtig. Wenn wir Trakls Gedicht weiterlesen, merken wir uns vor: Es wird um Europa gehen, und zwar vermutlich um seine Kultur(en). Ob und wie man Kulturen unterscheiden kann, ist zwar umstritten. Für unsere Interpretation reicht es aber aus, uns zu vergegenwärtigen, dass Kulturen unterschieden werden und was für gewöhnlich als Kultur bezeichnet wird.

2 Erste Strophe

2.1 O der Seele nächtlicher Flügelschlag

Das Gedicht beginnt mit der Zeile „O der Seele nächtlicher Flügelschlag“. Was soll das heißen? „O“ ist ein Ausruf oder eine Anrufung. Das sagte man, wenn man über etwas besonders Großartiges, Überwältigendes redete. Wenn heute in Fantasyfilmen jemand einen König anredet, dann sagt er auch: „O mein König!“ Das kommt daher, dass der König etwas Besonderes ist. Früher redete man wirklich so, wenn man wichtige Persönlichkeiten ansprach. Aber man schrieb auch so in Liedern oder Gedichten, wenn es um etwas Besonderes ging, das einen überwältigte.

„Der Seele nächtlicher Flügelschlag“ scheint also etwas Besonderes, Überwältigendes zu sein. Aber was? Als Seele bezeichnete man früher ungefähr das, was man heute als Psyche bezeichnet. Wenn man sich etwas vorstellt oder etwas empfindet, dann gehört das zur Seele. Die Seele ist das, was Vorstellungen und Empfindungen hat. Wenn Trakl schreibt, dass die Seele nachts mit den Flügeln schlägt, dann heißt das: Nachts empfinden wir nicht nur anders als tagsüber und wir stellen uns andere Dinge vor als tagsüber. Sondern wir können uns auch besser alles Mögliche vorstellen, weil wir nachts weniger abgelenkt sind als tagsüber. Nachts kann die Seele sozusagen fliegen, während sie tagsüber laufen muss. Das heißt, tagsüber funktioniert unsere Vorstellungskraft nicht ganz so gut wie nachts. Und was machen wir nachts noch, auch wenn wir schlafen? Wir träumen. Der Traum gehört auch zur Seele. Träumen kann man die verrücktesten Sachen. Zum Beispiel kann man über die Vergangenheit träumen. Man kann träumen, wie man im Mittelalter als Hirte, Mönch oder Ritter gelebt hat. Weil das ganz schön bemerkenswert ist, dass wir solche Sachen träumen können, schreibt Trakl ganz überschwänglich: „O der Seele nächtlicher Flügelschlag“!

Schon nach der ersten Zeile können wir also erwarten, dass das folgende Gedicht mit Vorstellungskraft, Fantasie, Traum zu tun hat. Es geht vor allem um Inneres, um die Innerlichkeit des Menschen. Wir können uns in dasjenige hineinträumen, wovon das Gedicht handelt. Vielleicht träumt auch der Erzähler in diesem Gedicht, und alles, worüber noch in diesem Gedicht berichtet wird, ist ein Traum. Den Erzähler in Gedichten bezeichnet man auch als das lyrische Ich. Denn der Erzähler, der in einem Gedicht spricht, der ist nicht unbedingt der Autor. Sondern der Autor des Gedichts kann sich vorstellen, wie es ist, jemand anderes zu sein, und dann schreibt der Autor aus der Perspektive von jemand anderem. Der Erzähler in „Abendländisches Lied“ ist also nicht unbedingt Georg Trakl, auch wenn er dieses Gedicht verfasst hat. Sondern Trakl hat sich jemanden ausgedacht, der in diesem Gedicht spricht.

Dass die Seele fliegt und dass sie ganz wichtig für uns ist, das ist eine alte Vorstellung. Nur als ein einziges Beispiel: Der Dichter Joseph von Eichendorff schrieb achtzig Jahre vor Trakl: „Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus.“[6] Das stammt aus dem berühmten Gedicht „Mondnacht“. Zuhause ist die Seele nicht irgendwo in der Welt, sondern bei Gott – so meinte das Eichendorff. Wenn die Seele nachts nach Hause fliegt, dann ist sie für eine Weile bei Gott. Wenn wir etwas Schönes träumen, dann ist das so ein Moment, in dem die Seele nach Hause fliegt. Bei Trakl fliegt die Seele nicht gleich zu Gott, sondern in die Vergangenheit, wie wir gleich noch sehen werden. Aber in gewissem Sinne sind wir auch in der Vergangenheit zuhause. Denn alles, was wir gelernt haben, als wir aufgewachsen sind, und alles, was wir noch lernen werden, das lernen wir nur, weil vor uns schon ganz viele Menschen gelebt haben. Die haben schon ganz viel ausprobiert, erfunden und nachgedacht. Vieles davon haben sie an ihre Nachfahren weitergegeben, und nun ist das alles bei uns angelangt. Das heißt, wir haben eine Geschichte, und in der sind wir mit ganz vielen Menschen verbunden, die wir nie kennengelernt haben und von denen die meisten heute ganz vergessen sind. In der nächsten Zeile wird es um Hirten gehen. Da greifen wir jetzt ein bisschen vor. An die meisten Hirten erinnert sich heute niemand mehr. Aber die haben immer besser gelernt, wie man Tiere hütet. Auch deshalb haben ihre Gesellschaften überlebt, und deshalb leben wir heute. In dieser Geschichte, in all dem, was vor uns passiert ist – auch da sind wir zuhause.

2.2. Hirten gingen wir einst an dämmernden Wäldern hin

Dieser Satzbau klingt heute seltsam. Heute würde man sagen: „Damals waren wir Hirten und gingen in der Dämmerung an Wäldern entlang.“ Aber so, wie Trakl es schreibt, klingt es schöner, nicht wahr? Trakl sagt damit auch gleich noch, dass es im Wald schon dämmriger ist als am Waldrand. Das ist zwar meistens so, aber so geht Trakl sicher, dass wir uns diese Szene so vorstellen, wie er sie sich gedacht hat. Denken wir nun über die Aussage dieses Verses nach. Was sind das für Hirten, was ist das für eine Gegend und warum sind die Hirten die ersten Menschen, die Trakl in seinem Gedicht erwähnt? Und wer ist „wir“? Anscheinend ist es nicht Trakl selbst, der in diesem Gedicht redet. Sondern ein Hirte berichtet, wie er – vielleicht mit anderen Hirten – in der Dämmerung am Waldrand entlangging. Es wird jedenfalls schon langsam dunkel, es dämmert. Oder geht die Sonne gerade erst auf? Das kann auch sein. So genau wissen wir das nicht. Jedenfalls ist es nicht richtig taghell. Vielleicht führte er seine Herde von den Weiden zurück auf den Bauernhof oder vom Bauernhof auf die Weide.

Und warum gehen die Hirten gerade in der Dämmerung am Wald entlang? Warum sitzen sie nicht in der Mittagssonne bei ihrer Herde? Die Zeit der Dämmerung ist eine Zwischenzeit. Sie gehört nicht richtig zum Tag und nicht richtig zur Nacht und sie ist recht kurz. Deshalb nannte man die Dämmerung auch Zwielicht, also Zwei-Licht. Sie hat etwas vom Tag und etwas von der Nacht. Wenn man in der Dämmerung durch die Natur wandert, kann man die Umgebung nicht so gut erkennen wie am Tag. Die Umgebung sieht geheimnisvoller aus. Es ist nicht alles so klar wie am Tag. Der Beginn dieses Gedichts ist ein bisschen wie der Anfang eines Films: Es wird noch nicht verraten, worum es genau gehen wird, aber es wird eine Stimmung erzeugt. Bei diesem Titel und nach dieser ersten Zeile können wir vermuten, dass es um die Vergangenheit Europas geht, dass das etwas Geheimnisvolles hat und dass wir nichts völlig Klares, Eindeutiges erwarten sollen – es wird alles etwas undeutlich sein, so wie die Landschaft in der Dämmerung. Außerdem ist der Wald für Europäer und besonders im deutschen Sprachraum seit langer Zeit ein besonderer Ort.[7] Er ist besonders heimatlich und zugleich besonders geheimnisvoll. Eines der berühmtesten deutschen Gedichte lautet: „Ueber allen Gipfeln ist Ruh’, in allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch; die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur! Balde ruhest du auch.“[8] Das ist Goethes „Ein gleiches“ bzw. „Wandrers Nachtlied II“. Vom Fernsten (Gipfel) über die nahe Umgebung (Bäume, Vögel) bis in die Gedanken des lyrischen Ichs bewegt sich diese kurze Erzählung. Sie ist ein Abendlied, das gleichzeitig vom Wissen um den eigenen Tod handelt und vom Platz des Menschen in der Welt. Und das alles wird am Wald veranschaulicht. Da verwundert es nicht, dass auch Trakl sein Gedicht über das Abendland mit dem Wald beginnt.

Warum beginnt dieses Gedicht gerade mit Hirten? Tiere zu hüten, zum Beispiel Schafe, das ist eine der ältesten Kulturtechniken der Menschheit. Hirten gab es schon vor tausenden von Jahren, und es gibt sie heute noch. Inzwischen ist viel passiert. Das Römische Reich ist untergegangen, neue Kontinente wurden entdeckt, manche Sprachen sind ausgestorben – aber die Hirten, die waren immer da und sind immer noch da. Und Hirten waren immer sehr wichtig! All die anderen Menschen, die keine Hirten waren, hätten ohne die Hirten viel schlechter leben müssen. Denn jemand musste sich um Schafe, Ziegen, Kühe usw. kümmern. Ohne diese Tiere hätten die Menschen kaum Wolle, Milch und Fleisch gehabt. Ohne die Tiere und ihre Hirten zu überleben, wäre viel schwieriger gewesen. Tiere zu hüten, das ist geradezu eine Grundlage von Kultur. Dabei sind Hirten eher unscheinbar, sie sind nicht reich und sie bauen keine Paläste, die Jahrhunderte überdauern und die wir noch heute besuchen können. Aber ohne die Hirten gäbe es all den Reichtum wohl nicht. Deshalb beginnt Trakl bei den Hirten. Trakl redet über Kultur, und er fängt bei den Grundlagen von Kultur an: bei der jahrtausendealten Kulturtechnik der Viehzucht, die alle Katastrophen überdauert hat. Das zeigt schon: Trakl geht es um Dinge, die sich nicht von heute auf morgen ändern, sondern die ganz lange bestehen und von denen sogar das Leben vieler Menschen abhängt.

[...]


[1] Kühlmann 2011, S. 570.

[2] Vgl. Trakl 1914.

[3] Trakl 1989, S. 139.

[4] Vgl. Balz 1997, Art. „Abendland (Occident, Europa)“.

[5] Einen guten Eindruck davon, wie man im frühen 20. Jahrhundert über das antike Griechenland dachte, vermittelt Egon Friedell in seiner „Kulturgeschichte Griechenlands“ (in den 1930er Jahren entstanden, in deutscher Sprache zuerst 1949 erschienen).

[6] Eichendorff 1993, S. 382.

[7] Zum Wald in der Kulturgeschichte und besonders in der Literatur vgl. bspw. Ekman 2008.

[8] Goethe 1815, S. 99.

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Eine Interpretation von Georg Trakls Gedicht "Abendländisches Lied" (1913)
Hochschule
Universität Erfurt
Autor
Jahr
2018
Seiten
31
Katalognummer
V441179
ISBN (eBook)
9783668797222
ISBN (Buch)
9783668797239
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Georg Trakl, 20. Jahrhundert, Expressionismus, Symbolismus, Lyrik, Dichtung, Gedicht, Interpretation, österreichische Literatur, Literaturgeschichte, Germanistik, Dichter
Arbeit zitieren
Dr. Jan Leichsenring (Autor:in), 2018, Eine Interpretation von Georg Trakls Gedicht "Abendländisches Lied" (1913), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/441179

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