"Vive le Québec libre". Die Entstehung und Entwicklung des modernen Nationalismus in Québec

Von Duplessis bis zum Referendum 1980


Hausarbeit, 2017

22 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1. Nation, Nationalität und Nationalismus

2. Québec als kleine Nation

3. Der klerikal-konservative Nationalismus Duplessis

4. Die Entwicklung eines neuen quebecer Nationalismus
4.1. 1950-1968: Die stille Revolution als Geburtsstunde des modernen Nationalismus
4.2. 1966/69-1976: Der Parti Québécois (PQ) als Sammlung aller nationalistischen Kräfte
4.3. 1976-1980: Nationalismus als Regierungspolitik- Auf dem Weg zum Referendum

5. Folgen des Referendums

Fazit

Abkürzungsverzeichnis

Bibliographie

Internetadressen

Literaturverzeichnis

Einleitung

Il en est du nationalisme québécois comme du fromage français. On dit qu'en France, il y a autant de fromages que de Français...1

Die frankophone Provinz im Osten Kanadas ist eine besondere Provinz. Sie unterscheidet sich nicht nur sprachlich von den anderen neun Provinzen des kanadischen Bundesstaates, sondern auch historisch und insbesondere ideologisch. Québec blickt auf eine lange Tradition der Unterdrückung zurück, sei es durch die britische Kolonialherrschaft, die Organisation durch die klerikale Elite oder die Fremdbestim­mung durch die kanadische Bundesregierung. Sie zusammen bilden die historische, politische und mentale Ausgangslage für den Konflikt, der sich bereits in den 1920ern ankündigte und schließlich in den radikalen Neuerungen der stillen Revolution vorerst einen Höhepunkt hat.

Mit den Reformen der Revolution schaffte es die Provinz, sich aus ihrer Rückständigkeit zu befreien, den wirtschaftlichen Gleichschritt mit dem Rest Kanadas zu erlangen und sich nach und nach zu eman­zipieren. Das neue Selbstbewusstsein der Provinz veranlasste die quebecer Gesellschaft sich mit der Frage nach einer eigenen Nation auseinanderzusetzen. Die zahlreichen daraufhin entstehenden nati­onalistischen Bewegungen, ihre Brüche und Kontinuitäten, lassen sich gerade in Zeiten des Wirtschaft­liehen und sozialen Wandels eingehend untersuchen.

Dabei stellen die nationalistischen Ideologien zwar ein konstantes Phänomen in der Geschichte Quebecs dar, dennoch - wie Reginald Whitaker zurecht besagt - sind es die heterogenen Formen und Ausprägungen dieses Phänomens, die im Zentrum der Untersuchung stehen sollten.2 Ebendiese Aus­Prägungen und ihre Entwicklungen werden in der folgenden Arbeit nach einer kurzen theoretischen Einführung in die Nationalismusforschung dargelegt. Im Anschluss daran sollen übergeordnete Ten­denzen und Veränderungen der nationalistischen Bewegungen sowie einige Spezifika des Strebens nach einer nationalen Einheit Quebecs (Quebec-Frage) herausgestellt werden.

1. Nation, Nationalität und Nationalismus

״Eine Nation [...] ist eine Gruppe von Menschen, die durch einen gemeinsamen Irrtum hin­sichtlich ihrer Abstammung und eine gemeinsame Abneigung gegen ihre Nachbarn geeint ist." Karl w. Deutsch3

Obgleich dieses Zitat von Karl w. Deutsch in gewisser Hinsicht auf die meisten Nationen zutrifft, so reicht seine Erklärung nicht aus, um die Komplexität der Bestimmung einer Nation zu erfassen. Der Begriff Nation, abgeleitet von dem lateinischen natio, das mit ״Abstammung" oder ״Geburtsort" über­setzt werden kann. Nach heutigem Wissensstand entstand der Begriff ״Nation" im 14. Jahrhundert als Bezeichnung für eine Verwandtschaftsgruppe innerhalb eines Gebietes. In seiner heutigen Bedeutung wird er seit dem 18. Jahrhundert verwendet, spätestens seit der Französischen Revolution.4 Er dient heute zur Bezeichnung größerer Kollektive von Menschen, die sich meist unter Berufung auf gemein­same Merkmale wie Sprache, Territorium, Tradition, Abstammung oder einer Kombination dieser Merkmale als einer Gruppe zugehörig betrachten. Ein überzeugendes und universelles Kriterium, nach welchem ein Beobachter eine Nation von anderen Gruppen unterscheiden soll, ist allerdings nicht aus­zumachen, stattdessen wurden diverse Definitionen entwickelt, die je nach Nation mehr oder weniger zutreffen.5 Weitere Begriffe, die sich durch die zunehmende Verwendung der Bezeichnung ״Nation" gebildet haben, sind unter anderem die ״Nationalität", die (vergleichbar mit ״Staatsangehörigkeit") die Zugehörigkeit eines Menschen zu einer Nation meint; der ״Nationalismus", einerseits ein Konglomerat politischer Ideen, Gefühle (z.B. Nationalstolz) und Symbole, andererseits eine politische Bewegung, die Autonomie oder Unabhängigkeit für ein Gebiet fordert; sowie der ״Nationalstaat", der das Ziel des Nationalismus darstellt, nämlich genau diese staatliche Einheit und Autonomie der Nation.6

Eng verbunden mit der Vorstellung einer eigenen Nation oder Nationalität, ist das sogenannte ״Wir- Gefühl", bei dem die sich als eine Nation bezeichnende Gruppe einen Unterschied zwischen sich und dem Rest definiert. Das Anfangszitat von Deutsch weist bereits auf dieses Konzept von ״Inklusion" und ״Exklusion" hin, welches den Menschen zwar zur Strukturierung des modernen Lebens dient, gleich­zeitig jedoch neue Probleme mit sich führt. Aus der Problematik der Grenzziehung zwischen den Nati­onen, oder der eindeutigen Zuordnung jedes Menschen zu einer Nation, resultieren Konkurrenzsitua­tionen zwischen den Nationen sowie gesellschaftliche, politische oder gar kriegerische Auseinander- Setzungen.7

2. Québec als kleine Nation

Eine solche Konfliktsituation wird auch anhand der in dieser Arbeit thematisierten Beziehung zwischen dem Bundesstaat Kanada und der Provinz Québec deutlich. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern die Spannungen zwischen Kanada und Québec als Nationenkonflikt bezeichnet werden können, da dieser die Anerkennung Quebecs als eine eigene Nation impliziert. Innerhalb und außerhalb der frankopho­nen Provinz wird diese Québec-Frage immer wieder aufgeworfen und Versuche unternommen, eine möglichst allumfassende Theorie zu finden. Diese Ansätze unterscheiden sich je nach Blickwinkel, po­litischem Lager, zeitlichem Kontext und Wissenschaftsbereich deutlich voneinander.

Betrachtet man ältere Diskurse zu diesem Thema, so wird die Dominanz zweier diametral gegen­überstehender Konzeptualisierungsversuche Quebecs deutlich. Auf der einen Seite steht die Vorstel­lung eines Quebecs als société globale, die sich aufgrund ihrer Organisation durch andere Akteure wie dem Klerus, andere Prinzipien (Katholizismus und Nationalismus) sowie einer anderen sozialen Infra­Struktur nach ihren eigenen internen Gesetzen entwickelte. Diese größtenteils isolierte Gesellschaft konnte sich aufgrund ihrer eigenen Mentalität (u. a. Landestreue und Traditionsbewahrung) nicht den neuen sozioökonomischen Bedingungen der Modernisierung anpassen und auch nach den Verände­rungen während der stillen Revolution (,Révolution tranquille'8 ), blieb Quebec eine société globale, wenn auch eine nach außen offenere.9

Auf der anderen Seite versuchten Theoretiker Québec stärker im gesamtkanadischen Kontext zu betrachten, statt von einer durch Isolation geprägten Gesellschaft auszugehen. Sie zweifelten an der Notwendigkeit der nationalen Frage Quebecs und sahen Québec als einen regionalen Raum innerhalb Nordamerikas. Für sie stehen die Auswirkungen nordamerikanischer wirtschaftlicher, gesellschaftli- eher und ideologischer Entwicklungen auf dem Gebiet der frankophonen Provinz im Fokus. Eine extre­mere Auffassung dieses Konzepts vertraten die sogenannten ״Revisionisten"10, dabei solle die Mo­derne nicht wie bisher monolithisch verstanden und an den angelsächsischen Gesellschaften gemes­sen werden. Der historische Werdegang Quebecs sei demnach dem anderer nordamerikanischer Ge- Seilschaften eigentlich sehr ähnlich und sei denselben Einflüssen und Strömungen ausgesetzt gewesen, wie das übrige Nordamerika.11

Neuere Theorien versuchen beides zu berücksichtigen, einerseits die Spezifika der Provinz, die sich nicht durch universelle Prozesse erklären lassen, andererseits Gemeinsamkeiten mit anderen Gesell­schaften zu erkennen und zu begründen. Gérard Bouchard und seinem Werk Genèse des nations et cultures du nouveau monde zufolge sei nicht der Einfluss des nordamerikanischen Kontinents auf die quebecer Gesellschaft von größter Bedeutung, sondern die Frage, wie sich die ״Kollektivität" den neuen Bedingungen in der Föderation angepasst hat und wie sich die Beziehung zu dem Mutterland gestaltet, ob im Kontinuum oder im Bruch mit ihm. Im Falle Québec habe lange Zeit die kulturelle Kon­tinuität dominiert und sich erst nach 1960 mit der stillen Revolution ein wirklicher Bruch mit Frankreich vollzogen, der es zu einer neuen Kollektivität machte.12

Dieser Bruch mit Frankreich war zwar ein wichtiger Schritt zur Bildung einer gemeinsamen Identität der Québécois war (zuvor nannten sie sich Canadiens français), allerdings ist die moderne quebecer Einheit noch stärker durch die Abgrenzung vom Rest Kanadas gekennzeichnet.13 Passender ist daher der Ansatz des schottischen Politologen Michael Keating mit Québec als einer kleinen Nation, die - ähnlich wie Schottland und Katalonien - eine lange Phase des Überlebenskampfes überstanden hat, durch einen Mangel an Anpassung mit einer Krise konfrontiert wurde und schließlich durch kontinen­tale Integration und Globalisierung ihre Abhängigkeit vom Zentralstaat reduzierte, sich aber nicht iso­liert von ihm entwickelte. Durch die stille Revolution kamen nationalistische Bewegungen auf, die eine Neudefinition des Gebiets gegenüber des Zentralstaates und eine Anerkennung ihres Status einer Na­tion forderten.14 Solche kleinen Nationen tendieren zu einem Regionalstaat, der sich von anderen po­litischen Einheiten wie einer Provinz unterscheidet. Sie entwickeln im Kontext internationaler Dynami­ken ihr eigenes internationales Profil und einen individuellen Umgang mit der (Staats-)Bürgerschaft.15

Quebec kann folglich aufgrund seiner Eigenheiten als eine (kleine) Nation angesehen werden, oder zumindest, so Flans-Ulrich Wehler, als eine ״Nationalität", die innerhalb eines Staates eine sprachlich, kulturell und historisch abgrenzbare Einheit bildet, aber (noch) keinen eigenen Nationalstaat heraus­gebildet hat.16 Ob Québec als kleine Nation oder Nationalität, beide Sichtweisen implizieren eine ei­gene, vom Zentralstaat unterscheidbare nationale Identität und Nationszugehörigkeit, die dennoch eng mit ihm verbunden ist.17 In den folgenden Kapiteln wird die Entwicklung des modernen quebecer Nationalismus untersucht, der zu diesem Gebilde einer Nation(alität) innerhalb eines Nationalstaates geführt hat, denn ״Nationen können nur im Zeitalter des Nationalismus definiert werden", ״es ist der Nationalismus, der die Nation hervorbringt, und nicht umgekehrt".18

3. Der klerikal-konservative Nationalismus Duplessis

Die historisch vorbelastete Beziehung zwischen Québec und Bundesstaat, die die Basis des quebecer Nationalismus darstellt, geht bis auf das Ursprungstrauma der Conquête, der Eroberung der Nouvelle France (Neufrankreichs) durch die britische Krone 1758-1760, zurück.19 Die endgültige Unterordnung Neufrankreichs der britischen Krone durch den Vertrag von Paris 1763 und das Scheitern der Rébellion des Patriotes20 Ende der 1830er Jahre führte zu einem Rückzug der Frankokanadier in eine Ideologie des ,Überlebenskampfes' (,survivance'21 ) und zu einer Entfremdung der frankophonen Gesellschaft von der restlichen nordamerikanischen Gesellschaft.

Als 1867 durch den British North American Act (Acte de l'Amérique du Nord britannique) die heuti­gen Provinzen Québec, Ontario, Neubraunschweig und Neuschottland eine gemeinsame Konfödera­tion gründeten, sah sich Québec noch euphorisch gegenüber seiner neuen Stellung als nation canadi- enne-francaise, Mitbegründer der Konföderation und somit ebenbürtiger Partner Kanadas. Doch auch hier musste die frankophone Provinz bald ihre Niederlage erkennen, denn ihre politische und kulturelle Position hatte sich kaum verändert.22 Dieser Rückschlag führte zu einem erneuten Rückzug in die Geis­teshaltung der survivance, angeführt von der katholischen Kirche, die ihre machtvolle Position inner­halb der frankophonen Gesellschaft verteidigte (vorwiegend im Bereich der Wohlfahrt, Bildung und des Gesundheitssystems) und versuchte, die Provinz möglichst gegen jeglichen modernen Wirtschaft­liehen und ideologischen Einfluss abzuschotten. Québec wurde in gewisser Weise zu einer in sich selbst eingeschlossenen Gesellschaft, in der sich ein zutiefst konservativ-traditioneller überlebensnationalis­mus etablierte, gekennzeichnet durch eine Abgrenzung nach Außen und eine Idealisierung der eigenen traditionellen Werte.23

Eben dieser Überlebensnationalismus hielt sich bis ins 20. Jahrhundert und organisierte sich schließlich politisch in Form der konservativ-nationalistischen Union Nationale (UN) unter ihrem Par­teiführer und Gründer Maurice Duplessis (*1890-+1959). Die UN bildete unter ihm von 1936 bis 1939 und von 1944 bis 1959 die Regierung in Québec. Zusammengesetzt aus der Gruppe L'Action Libérale Nationale von Reformgegnern, die sich von der Liberalen Partei PLQ24 abspalteten, und konservativen Modernisierungsgegnern, konzentrierte sich die Partei fast ausschließlich auf die Interessen der Land­bevölkerung und richtete sich deutlich gegen jede Art der Fremdbestimmung der quebecer Wirtschaft. Trotz der auch in Québec seit den 1920ern einsetzenden Prozesse der Modernisierung und des sozia­len Wandels, hielt Duplessis an seiner ,idéologie de conversation' fest und widersetzte sich allen For­derungen der Gewerkschaften nach einer Reform der sozialen Gesetzgebung.25

Seine Politik und seine klar nationalistische Position führten insbesondere während des Zweiten Weltkriegs, als die frankophonen Kanadier für die britische Krone an die Front einberufen wurden, zu einer Mobilisierung nationalistischer Gefühle in Québec. Dennoch stellte seine klar antibundesstaatli­che Haltung keine Gefahr für den kanadischen Föderalismus dar, denn in den Programmen der UN wird ein möglicher Austritt aus der Konföderation nicht erwähnt.26

Eine radikalere Position vertrat dagegen der ehemalige linke Flügel der UN, der 1942 eine eigene Gruppe, den Bloque Populaire gründete. Sie akzeptierten im Gegensatz zur Partei Duplessis die Tatsa­che eines modernen, industrialisierten und urbanisierten Quebecs und forderten eine Rückkehr zum alten Föderalismus, der den Provinzen mehr Zuständigkeiten zusprach. Die Gruppierung zerfiel bereits nach dem Krieg, dennoch spielten einige der ehemaligen ß/oque-Aktivisten in späteren nationalisti­schen Bewegungen wieder eine Rolle. Eine dieser Bewegungen, die sich ebenso wie die Bloque-Anhä- nger durch den traditionellen Nationalismus nicht mehr vertreten fühlte, war die 1957 von Raymond Barbeau gegründete Allience Laurentienne (AL), die das Ziel eines konservativ-korporatistischen, auto­nomen Staates namens Laurentie anstrebte. Auch diese Gruppierung hatte nur ein geringes politisches Gewicht, dennoch wird dieser Ansatz von späteren Separatisten wiederaufgenommen.27

4. Die Entwicklung eines neuen quebecer Nationalismus

Diese radikalen Bewegungen waren die Vorboten drastischer Veränderungen innerhalb der franko­phonen Provinz, die zu einer neuen Form des Nationalismus führte. Ebendiese Entwicklung des то- demen quebecer Nationalismus, die der tschechische Historiker Miroslav Hroch als die ,nationale Er­weckung' kleiner Nationen bezeichnet, kann analog zu seinem Modell in drei Phasen unterteilt wer­den: Die erste ist ״die Phase des gelehrten Interesses und der Vorliebe einiger Einzelpersonen für das Nationale - etwa im Sinne des aufklärerischen Durstes nach neuen Erkenntnissen"28 und lässt sich in Bezug auf Québec auf den Zeitraum zwischen 1950 und 1968 übertragen. Die zweite Phase, in der ״eine nationalbewusste Minderheit für die Verbreitung eines allgemeinen Nationenbewusstseins"29 agiert bezieht sich auf die Zeit zwischen 1966 bzw. 1969 und 1976 und schließlich die letzte Phase, gekennzeichnet durch das Auftreten des Nationalismus als Massenbewegung.

4.1.1950-1968: Die Stille Revolution als Geburtsstunde des modernen Nationalismus

Obgleich sich Duplessis und die klerikale Elite Quebecs vehement dagegen wehrten, veränderten In­dustrialisierung und Urbanisierung zunehmend die Provinz. Mit ihnen bildete sich auch eine neue Mit­telklasse aus, die - größtenteils in den sich bildenden Städten wohnend - eine Verbindung zwischen der modernen Wirtschaft aus dem anglophonen Kanada und den quebecer Traditionen (meist ihre Familien) herstellte. Die neue frankokanadische Gesellschaft war dabei sich zu emanzipieren, einer­seits von der traditionellen Ideologie der frankophonen Elite, andererseits von der Fremdbestimmung durch die Bundesregierung, statt sich wie bisher bei der Selbstdefinition auf die französische Identität zu berufen, nannten sie sich fortan Québécois und ihre einstige Province du Québec wurde zum État québécoi. Diese Entwicklung hielt der Dichter Gaston Miron wie folgt fest:

Dans l'urgence où nous sommes de définir de nouvelles structures de société pour notre collectivité, notre peuple en somme, nous allons de nouveau nous réfléchir comme une totalité et dans ce moment de notre histoire nous prenons conscience, dans les faits, que nous sommes une société et une collectivité distinctes et différentes de celles de Cana­diens : nous n'avons pas les mêmes vues d'un avenir commun, les mêmes besoins, priorités et aspirations. Le phénomène de la Révolution tranquille entre en conflit avec le fédéralisme dans lequel nous vivons. C'est la dimension politique de la culture - vécue comme diffé­rence depuis 1945 - qui fait irruptions et nous fait accéder à la conscience d'être un tout.

Les signes de l'identité effectuent leur dernière mutation : nous nous proclamons des Qué­bécois. Vers 1963, nous parlons de l'État québécois, de l'économie québécoise etc. Et quand on se conçoit comme un tout, on veut avoir le pouvoir du tout.30

Mit dieser neu entstandenen Mentalität begann sich die Mittelklasse politisch, kulturell und gesell­schaftlich zu engagierten, sodass beispielsweise die Gewerkschaftsbewegung einen erheblichen Auf­schwung erfuhr.31 Sie hatte kein Interesse an der veralteten konservativen Programmatik der Union Nationale, die sich weder für eine bessere Stellung Quebecs innerhalb der Konföderation, noch für eine wirtschaftliche Annäherung an das anglophone Kanada einsetzte. Daher organisierte sie sich groß- tenteils in dem Parti Libéral du Québec (PLQ),32 die sich zudem nach langer Zeit programmatisch und institutionell von den Bundesliberalen getrennt hatte und sich somit stärker auf die Interessen Quebecs konzentrieren konnte, wie beispielsweise um die Beseitigung der Defizite innerhalb der Sozi­alen Gesetzgebung. Als schließlich ein Jahr vor der Provinzwahl Duplessis starb, das Zugpferd der UN, und Korruptionsvorwürfe gegen die UN laut wurden, konnte der PLQ unter Jean Lesage die Wahl 1960 für sich entscheiden.33 So wurde der klerikal-konservative Nationalismus Duplessis und der Union Na- donale durch einen neuen liberalen Nationalismus abgelöst, den der Historiker Louis Balthazar folgen­dermaßen beschreibt:

Le nationalisme des années soixante est un nationalisme qui, très tôt, se veut laïque, donc détaché, indépendant de la religion catholique pratiquée par la majorité des Canadiens français. Il se veut aussi [...] tourné vers l'extérieur : comme on dit en anglais outward loo­king, par opposition à inward looking.34

Der PLQ fungierte nun als politischer Träger der stillen Revolution, als Reformkraft, die versuchte, den Reformstau, der sich unter Duplessis angesammelt hatte, nach und nach abzubauen. Diese Reformen kamen in erster Linie der neuen Mittelklasse zu Gute (z.B. durch den Ausbau des staatlich finanzierten Bildungssektors, durch die Professionalisierung der Wohlfahrt und die Säkularisierung des Gesund­heitssektors), wodurch die Vormachtstellung der Kirche stark geschwächt wurde.

Auch in Bezug auf die Beziehung zur kanadischen Bundesregierung verfolgte Lesage eine neue stra­tegie, die im Gegensatz zu der der Union Nationale, als kooperativer Politikstil bezeichnet werden könnte. Unter anderem zeigte sich Lesage dazu bereit, an einer Bund-Provinzen-Konferenz teilzuneh­men, um die Zukunft des föderalen Systems und mögliche Reformansätze zu erörtern, statt einer an­tiföderalistischen Position stand für ihn die Verbesserung der Bedingungen für ein modernes und selbstbewusstes Québec im Fokus.35 Als es um das Projekt der ,Heimholung' der Verfassung ging, sprach sich Lesage beispielsweise für die Repatriierung der Verfassung aus, falls im Gegenzug dafür eine Ergänzung der Verfassung formuliert würde, die den Schutz der Sprachen- und Bildungsrechte der französischen Minderheit außerhalb Quebecs sichere.36 Mit der Wahl 1963 des neuen liberalen Premi­erministers auf Bundesebene Lester B. Pearson, konnte zudem eine für Quebec vorteilhafte Verhand­lung geführt werden. In vielen Bereichen unterstützte Pearson nämlich die Position der quebecer Pro­vinz durch die Stärkung des Dualismus in der politischen Ordnung.37

[...]


1 Dufresne, Jacques (1994): ״La cartographie du génome nationaliste ». Zugänglich auf: ĽEnzydopédie de L'Agorà. [http://agora.qc.ca/Documents/Nationalisme-Le_nationalisme_quebecois_par_Jacques_Dufresne]

2 Vgl. Whitaker (1984), s. 71.

3 Deutsch (1972), s. 9.

4 Vgl. Jansen & Borggräfe (2007), s. 10.

5 Vgl. Hobsbawm (1991), s. 15 f.

6 Vgl. Jansen & Borggräfe (2007), s. 10-18.

7 Vgl.ebd., s. 11.

8 Die Stille Revolution (Revolution tranquille) ist eine Periode rapider Umbrüche und Veränderungen Quebecs in den 1960er Jahren. Der Zusatz still verweist auf den größtenteils friedlichen und reformerischen Charakter der Revolution. Der Aus­druck ״Révolution tranquille" wurde erstmals durch einen anonymen Autor in der kanadischen Zeitschrift Globe and Mail erwähnt. Einige Ursachen, Folgen und Auswirkungen auf die quebecer Gesellschaft werden im Laufe der Arbeit analysiert. Sonst siehe: ״Révolution tranquille" [http://www.thecanadianencyclopedia.com/fr/article/revolution-tranquille/])

9 Vgl. Turgeon (2011), s. 64-69.

10 Als ,Revisionisten' bezeichnen sich meist Rechtsradikale, die sich um eine Umdeutung der Geschichte bemühen. Vor dem Hintergrund der europäischen, insbesondere der deutschen Historie sind dabei primär die Nationalsozialisten zu nennen, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Geschichte Deutschlands unter dem Nationalsozialismus durch Entkriminalisierung, Fälschung und Manipulation zu schönen versuchten. Die ,Revisionisten' im quebecer Kontext dürfen aber nicht mit dem hier erklärten rechtsradikalen gleichgesetzt werden, denn ihnen geht es nicht um die Leugnung von historischen Fakten oder Dokumenten. Vgl. Bailer-Galanda (19962), s. 530-536.

11 Vgl. Turgeon (2011), s. 69-74.

12 Vgl. ebd., s. 75-77.

13 Dies ist u. a. anhand des Prozesses der veränderten Selbstbezeichnung zu erkennen. Zwar bezeichneten sich 1990 nur noch 28% der Frankokanadier als Canadiens français (im Gegensatz zu 44% 1970) was eine deutliche Distanzierung von Frank­reich aufzeigt, allerdings sahen sich auch deutlich weniger Frankokanadier als Canadiens an (1970: 34%; 1990: 9%). Die Abgrenzung von Kanada scheint demnach stärker vollzogen worden sein, als die von Frankreich. Vgl. Dion (1995), Anmer­kung 5.

14 Vgl. Keating, Michael (Hg.): Les défis du nationalisme moderne. Québec, Catalogne, Écosse. Montreal: Les Presses de l'Uni- versite de Montréal, 1996.

15 Vgl. Turgeon (2011), s. 79 f.

16 Vgl. Wehler (2001).

17 Diese eigene nationale Identität der Frankokanadier als Québécois statt Canadiens français wurde bereits erwähnt. Wie

18 Vgl. Gellner (1999), s. 86 f.

19 Bzgl. der Auswirkungen der Eroberung und der Gründe für die wirtschaftliche Unterlegenheit gibt es divergierende Inter­pretationsansätze (École de Montréal gegen École Laval, zwei kontrovers argumentierende Historikergruppen). Der hier vorgestellte Standpunkt entspricht dem von Maurice séguin, Guy Frégault und Michel Brunet (École de Montréal), der als die ideologische Basis des modernen quebecer Nationalismus gilt. Vgl. Rudin, Ronald (1997)

20 Auch Rébellion du Bas-Canada genannt, war ein Konflikt in der britischen Kolonie von Niederkanada (heutiges Québec) gegen die britische Krone im Zuge zweier Aufstände 1837 und 1838, dem ein jahrelanger Konflikt zwischen der anglophonen Minderheit und der zunehmend nationalistischen frankophonen Mehrheit vorausging. Es starben mehr als 300 Menschen bis die britischen Truppen den Konflikt beendeten. Zwar verloren die frankokanadischen Rebellen die Rebellion, aber ihre Revolte hatte eine politische Reform zur Folge, darunter die Etablierung einer verantwortlichen Regierung. Die Frankoka- ňadier hatten zudem ihren ersten Nationalhelden: Louis-Joseph Papineau, Anführer der Parti patriotes. Weitere Details unter ״Rébellion du Bas-Canada" [http://encyclopediecanadienne.ca/fr/article/rebellion-du-bas-canada/]

21 Zum Begriff ,survivance' im Kontext des quebecer Nationalismus siehe ״Nationalisme canadien-français" auf http://encyc- lopediecanadienne.ca/fr/article/nationalisme-canadien-francais/.

22 Vgl. Kolboom & Vormann (2011), s. 14 f.

23 Vgl. Séguin (1968), s. 59.

24 Die PLQ (Parti Liberal du Quebec) ist die älteste noch existierende Partei Quebecs und entstand 1867 aus den beiden Vor­gängerparteien Parti canadien und Parti rouge. Die PLQ ist eine gemäßigt föderalistische Partei, die sich vor allem dem wirtschaftlichen Wachstum widmet. Siehe dazu: ״Parti libéral du Québec" [http://encyclopediecanadienne.ca/fr/ar- ticle/parti-liberal-du-quebec/]

25 Vgl. Lammert (2004), s. 85-87.

26 Vgl. ebd., s. 88-90.

27 Vgl. ebd., s. 86-90.

28 Hroch (19852),s, 158.

29 Kunze (2005), s. 33.

30 Miron (1983), S. 1.

31 Vgl. Gagnon (2011), s. 48.

32 Vgl. Lammert (2004), s. 142.

33 Vgl. ebd., s. 94 f.

34 Louis Balthazar in: Gougeon (1993), s. 160.

35 Vgl. Lammert (2004), s. 95 & 145 f.

36 Die erst kanadische Verfassungsordnung von 1867 (Britisch-Nordamerikanische Akte), die die Gewaltenteilung zwischen der Bundesregierung und den Provinzregierungen regelte, blieb bis auf punktuelle Änderungen und Zusätze bis 1982 erhal­ten und mussten bei jeder Änderung über London laufen. Vgl. Gagnon (2011), s. 36.

37 Z.B. durch die Royal Comission on Bilingualism and Biculturalism (RCBB), die dualistische Konzepte im Bereich der Spra­chenpolitik formulierte und die Konzeption eines kooperativen Föderalismus, ein Konzept, dass sich der Forderung nach Anerkennung seiner Sonderstellung näherte.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
"Vive le Québec libre". Die Entstehung und Entwicklung des modernen Nationalismus in Québec
Untertitel
Von Duplessis bis zum Referendum 1980
Hochschule
Universität des Saarlandes  (Romanistik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
22
Katalognummer
V441025
ISBN (eBook)
9783668794788
ISBN (Buch)
9783668794795
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Québec, Nationalismus, nationalisme, vive le québec libre, duplessis, Separatismus, referendum, 1980, stille Revolution, révolution tranquille, Parti québecois
Arbeit zitieren
Sophie-Eileen Gierend (Autor:in), 2017, "Vive le Québec libre". Die Entstehung und Entwicklung des modernen Nationalismus in Québec, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/441025

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