Entscheidungskompetenz von Eltern. Neue Verantwortlichkeit im Bildungsprozess ihrer Kinder


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2017

71 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Aufbau der Arbeit und Fragestellung

Allgemeiner Teil

1 Allgemeine Betrachtung zu Schule
1.1 Das Schulwesen in der Bundesrepublik Deutschland
1.2 Schularten in Baden-Württemberg
1.3 Die Gewichtung der Grundschule in der schulischen Laufbahn
1.4 Zur selektiven Wirkung des Schulabschlusses

2 Allgemeine Betrachtung zum Übergang
2.1 Begriffsbestimmung
2.2 Übergänge in der Schule

3 Rechtliche Rahmenbedingungen für den Schulübergang
3.1 Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung in Baden-Württemberg
3.2 Die Orientierungsstufe an Realschulen

4 Akteure des Übergangs
4.1 Die Lehrer
4.2 Die Schüler
4.3 Die Eltern

5 Theoretische Zugänge

5.1 Übergangsentscheidungen unter dem Aspekt der Bildungsaspiration von Eltern
5.2 Bildungsentscheidungen unter dem Aspekt der Rational-Choice-Theorie nach Boudon
5.3 Die Theorie rationaler Bildungsentscheidungen nach Erikson und Jonsson...
5.4 Die Entstehung und Umsetzung von Bildungsaspirationen nach Becker Empirischer Teil

6 Methodologische Grundlagen
6.1 Das leitfadengestützte Interview
6.2 Die Konzeption des Leitfadens
6.3 Das Auswertungsverfahren

7 Interpretationsprotokolle
7.1 Erste Passage (Zur Sachlage)
7.2 Zweite Passage (Angaben zur Person)
7.3 Dritte Passage (Meinung zur Gesetzlage)
7.4 Vierte Passage (Begründung konkrete Schulwahl)
7.5 Fünfte Passage (Keine Alternative zum Gymnasium)
7.6 Sechste Passage (Kein Beratungsanspruch)
7.7 Siebte Passage (Leistungseinschätzung der Tochter)
7.8 Achte Passage (Optimistischer Blick in die Zukunft)

8 Zusammenfassung

9 JAKO-O Bildungsstudie 2016
9.1 Methodische Anlage der Untersuchung
9.2 Ergebnis der Studie

Schlusswort

Literaturverzeichnis

Anhang

Interviewleitfaden

Transkript

Entlehnungen aus dem Internet: Nachweis

Einleitung

Für Schüler1 der Grundschule ist der Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe ein wesentlicher, wegweisender Bestandteil ihrer Schulkarriere. Er stellt eine bedeutende Zäsur in ihrem bisherigen Leben dar. Seit dem Wegfall der verbindlichen Grundschulempfehlung in Baden-Württemberg2 zum Schuljahr 2012/13, liegt die Entscheidung über den Fortgang der schulischen Laufbahn der Kinder bei deren Eltern. Eine Maßnahme die besonders den Druck von Schülern, Lehrern und Eltern während der Grundschulzeit nehmen und ein entspannteres, besseres Lernen ermöglichen soll.

Den Übergängen gehen zuvor getroffene Übergangentscheidungen voraus, die von verschiedenen Einflussfaktoren bestimmt werden. Die Wahl der weiterführenden Schule kann aufgrund seiner selektiven Wirkung nicht zu Unrecht als eine der wichtigsten Entscheidungen für die Schullaufbahn gelten und kommt einer Art ״Statusvorentscheidung“ gleich (Büchner/Koch 2001, s. 12). Damit kommt Eltern eine große Verantwortung zu. Eine Verantwortung, der nicht alle Eltern gleichermaßen gerecht werden können. Man darf sich daher zurecht fragen, ob der freie Elternwille letztendlich ein sinnvoller Schritt war oder ob sich mit der Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung lediglich andere, neue Probleme ergeben oder alte Probleme auf einen späteren Zeitpunkt verlagert werden.

Aufbau der Arbeit und Fragestellung

Die vorliegende Arbeit gliedert sich in einen Allgemeinen und einen Empirischen Teil. Im Allgemeinen Teil sollen in einer ersten Betrachtung die Aspekte und Rahmenbedingungen des Schulübergangs von der Grundschule in die

Sekundarstufe herausgearbeitet werden und theoretische Zugänge zu Bildungsentscheidungen gefunden werden. Hierbei sollen besonders folgende Fragen Klärung finden:

- Welche Bedeutung kommt dem Übergang von der Grundschule in den Sekundarbereich zu?
- Welche rechtlichen Rahmenbedingungen für den Schulübergang gibt es?
- Welche Akteure sind beteiligt und welche Rolle und Bedeutung kommt ihnen zu?
- Welche theoretischen Zugänge für Bildungsentscheidungen gibt es?
- Wie kommen Elternentscheidungen zustande?

Im Empirischen Teil der Arbeit erfolgt die Rekonstruktion eines Einzelfalls. Hierfür wurde im Rahmen dieser Arbeit ein Interview durchgeführt. Es soll unter anderem ermittelt werden:

- Wie wird die Schulübergangsentscheidung subjektiv erlebt?
- Inwiefern finden die theoretischen Modelle bei konkreten Einzelfällen Anwendung?
- Wie wird die Gesetzeslage in Bezug auf die Grundschulempfehlung in Baden­Württemberg subjektiv bewertet?
- Welche weiteren entscheidungsbestimmenden Faktoren treten auf?
- Werden Maßnahmen getroffen, um sich umfangreich zu informieren um eine fundierte Übergangsentscheidung treffen zu können?

Abschließend soll, ebenfalls im empirischen Teil, ein kurzer Einblick in eine aktuelle Studie gegeben werden, die durch ein unerwartetes Ergebnis überrascht.

Allgemeiner Teil

1 Allgemeine Betrachtung zu Schule

1.1 Das Schulwesen in der Bundesrepublik Deutschland

Das in der Bundesrepublik Deutschland gegebene Bildungssystem macht Übergänge in der Schullaufbahn erst notwendig, daher soll dessen Gliederung an dieser stelle nähere Betrachtung finden.

Jedes Bundesland in Deutschland besitzt ein eigenes Schulgesetz, wobei dennoch das ״gesamte Schulwesen“ unter Aufsicht des Staates steht (Art. 7 Abs. 1 GG). Zwischen den 16 Bundesländern gibt es mitunter große Unterschiede in der Organisation und Gestaltung des Schulsystems sowie in der Größe hinsichtlich der Schülerzahl (vgl. BMBF 2005). Um dennoch eine relative Einheitlichkeit des Aufbaus, der Inhalte und Abschlüsse sowie eine ״vergleichbare Entwicklung des Bildungswesens in den Ländern“ (KMK 2006a, S.25) zu erreichen, wurde 1948 die Kultusministerkonferenz gegründet.

Gegliedert ist das Bildungswesen in Deutschland in die folgenden fünf Bereiche:
- Elementarbereich
- Primarbereich
- Sekundarbereich
- Tertiärer Bereich
- Bereich der Weiterbildung

Elementarbereich

Im Elementarbereich sind besonders die Kindergärten als garantierte, aber nicht verpflichtende Einrichtung zu nennen. Der Besuch ist für Kinder im Alter von drei (beziehungsweise zwei) Jahren bis zum Schuleintritt möglich.

Kindergärten und andere Einrichtungen des Elementarbereichs haben ״grundsätzlich die Aufgabe, die Entwicklung des Kindes zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu fördern“ (KMK 2006a, s. 73). Auch wenn diese Aufgabe in erster Linie die Bildung, Betreuung und Erziehung der Kinder umfasst, fällt auf, dass mit zunehmender propädeutischer Funktion des Kindergartens, die Organisationsformen des Kindergartens im Laufe der Zeit immer stärker denen der Schule angepasst wurden (vgl. Diehm 2004, s. 535).

Primarbereich

Mit vollendetem sechsten Lebensjahr sind Kinder in Deutschland schulpflichtig. Es erfolgt die Einschulung in die Grundschule, die in Baden-Württemberg die Klassenstufen eins bis vier umfasst. In den anderen Bundesländern, mit Ausnahme von Berlin und Brandenburg mit sechs Klassenstufen in der Grundschule, beträgt die Regeldauer der Grundschule ebenfalls vier Schuljahre.

Sekundarbereich

Mindestens bis zum Ende der Schulpflicht muss eine weiterführende Schule des Sekundarbereichs besucht werden. Der Übergang vom Primar- in den Sekundarbereich ist abhängig von der jeweiligen Gesetzgebung des Bundeslandes. In Baden-Württemberg liegt die Entscheidung darüber, welche Schule und welche Schulart ein Kind nach der Grundschule besuchen soll, bei dessen Eltern.

Tertiärer Bereich

Unter dem tertiären Bereich sind Hochschulen und andere Einrichtungen zu subsummieren, in denen Studiengänge für Absolventen mit Hochschulzugangsberechtigung angeboten werden. Dazu gehören in Deutschland unter anderem Universitäten, Technische Hochschulen/Universitäten, Pädagogische Hochschulen und Fachhochschulen (vgl. KMK 2006a, s. 32).

Bereich der Weiterbildung

Im Bereich der Weiterbildung kann, im Sinne des lebenslangen Lernens (vgl. KMK 2006a, s. 33), an unterschiedlichen Einrichtungen eine Fortsetzung oder Wiederaufnahme des organisierten Lernens nach Abschluss einer Ausbildungsphase erfolgen.

1.2 Schularten in Baden-Württemberg ln Baden-Württemberg gibt es laut Schulgesetzt §4 folgende Schularten:

- die Gemeinschaftsschule (seit er Gesetzesänderung vom 18. April 2012)
- das Kolleg
- die Berufsschule
- das sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentrum
- die Berufsfachschule
- das Berufskolleg
- die Berufsoberschule
- die Fachschule

Das bedeutet für Eltern mit Kindern, die vor einer Übergangsentscheidung stehen, dass im Sekundarbereich eine Anzahl möglicher Schularten zu berücksichtigen sind. Das bedeutet für eine kompetente Entscheidung ebenfalls, dass auch für alle angebotenen Schularten die jeweiligen Besonderheiten und unterschiedlichen möglichen Abschlüssen bekannt sein sollten und berücksichtig werden müssen.

Grundschule

Die vierjährige Grundschule hat zum Ziel, alle Kinder, trotz unterschiedlicher Lernvoraussetzungen zum Ende der Grundschulzeit auf ein vergleichbares Niveau zu bringen.

Hauptschule und Werkrealschule

Die weiterführende Hauptschule schließt nach der 9. Klasse mit einer landesweit zentralen Abschlussprüfung ab. Seit dem Schuljahr 2010/2011 gibt es zudem die Möglichkeit, die der Hauptschule gleichgestellten Werkrealschule durchgehend bis

zur 10. Klasse zu besuchen und mit der Mittleren Reife abzuschließen oder nach der 9. Klasse mit dem Hauptschulabschluss.

Realschule

Die sechsjährige Realschule schließt nach der 10. Klasse mit dem Realschulabschluss. Zudem gibt es bereits nach der 6. und 7. Klasse die Möglichkeit, ein Aufbaugymnasium zu besuchen, das mit der Hochschulreife abschließt.

Gymnasium

Das Gymnasium schließt an die Grundschule an und ist, je nach Angebot der Schule, acht- bzw. neunjährig. Das Gymnasium wird nach der 12. Klasse mit dem Abitur abgeschlossen.

Gemeinschaftsschule

Die Gemeinschaftsschule wurde in Baden-Württemberg zum Schuljahr 2012/23 eingeführt. Sie ist von Klasse 5 bis 10 verpflichtende Ganztagsschule. In den Klassen 5 und 6 wird nach dem Bildungsplan der Realschule mit gymnasialen Standards unterrichtet. Es gibt die Möglichkeit, alle drei in Deutschland möglichen Abschlüsse abzulegen. Den Hauptschulabschluss nach Klasse 9 oder 10, den Realschulabschluss nach Klasse 10. Das Abitur wird nicht wie an vielen Gymnasien nach 12, sondern nach 13 Schuljahren abgelegt, sofern eine gymnasiale Oberstufe eingerichtet ist.

Die weiteren Schularten sind im Einzelnen nicht von besonderer Relevanz für die vorliegende Arbeit und werden daher an dieser stelle vernachlässigt.

Trotz der strukturellen Vielfalt können die Schüler letztlich einen von drei Abschlüssen erwerben: den Hauptschulabschluss, die Mittlere Reife oder das Abitur. Büchner und Koch (2001, s. 145) zufolge hat sich bei den Eltern allerdings mittlerweile eine ״Zweigliedrigkeit des Schullaufbahndenkens“ durchgesetzt. Als Mindestmaß gilt demnach der Realschulabschluss, dem Abitur wird ein sehr hoher

Stellenwert angerechnet. Der Hauptschulabschluss hingegen ist kaum bis gar nicht mehr attraktiv.

1.3 Die Gewichtung der Grundschule in der schulischen Laufbahn

ln der Grundschule werden elementare Fähigkeiten und Fertigkeiten, wie z. B.

Lesen, Schreiben, Rechnen usw. vermittelt, es wird ein gemeinsamer Grundstock an Bildung geschaffen (Einsiedler 2003, s. 285). Im Bildungsplan, der aus der Kultusministerkonferenz 2004 hervorging, sind Bildungsstandards für die verschiedenen Fächer und die zu erreichenden Kompetenzen festgehalten.

Die Schüler sollen weg vom Spielerischen des Elementarbereichs, hin zum systematischen, strukturierten Lernen geführt werden. Die Grundschule ist zudem die einzige schulische Einrichtung, in der alle Schüler gleichermaßen und unabhängig von bestimmten Vorleistungen und sozialer Herkunft an Bildung teilhaben können.

Am Ende der vierten Klasse steht der Übergang in eine Schulform der Sekundarstufe bevor. Die Entscheidung über die Schulform legt den angestrebten Schulabschluss und somit das Ziel der Schullaufbahn fest und bestimmt über zukünftige berufliche Qualifizierungsmöglichkeiten.

״Was auf Ebene der Grundschule nicht gelingt, lässt sich offenbar - das zeigen die PISA3 -Befunde - auf der Ebene der Sekundarstufe I nicht mehr kompensieren. Vielmehr ist nach den PISA-Befunden davon auszugehen, dass sich die auf der Ebene der Grundschule nicht befriedigend gelösten Probleme auf der Ebene der Sekundarstufe I weiter verschärfen“ (Schwippert/Bos/Lankes 2003, s. 300).

Es wird deutlich: die Grundschule hat eine zentrale Bedeutung und das dort erreichte Leistungsniveau entscheidenden Einfluss auf den weiteren Verlauf der (schulischen) Karriere.

1.4 Zur selektiven Wirkung des Schulabschlusses

Die Bildung zählt in unserer westlichen Wissens- und Leistungsgesellschaft zu den zentralen Ressourcen in Bezug auf Lebenschancen überhaupt (vgl. Grundmann/Bittlingmayer/Dravenau/Groh-Samberg 2008, s. 48). Der erworbene Schulabschluss bestimmt in hohem Maße die individuellen beruflichen Qualifizierungsmöglichkeiten und damit letztendlich die Verdienstmöglichkeiten und Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Ein Schüler mit allgemeiner Hochschulreife kann beispielsweise an einer Hochschule Betriebswirtschaftslehre studieren und hat so die Möglichkeit, später in einem Unternehmen als Führungskraft tätig zu sein. Ein Schüler mit Haupt- oder Realschulabschluss absolviert eine Lehre und könnte später in einem Handwerksberuf tätig sein. Nicht ņurdas Einkommen, sondern auch der soziale Status dieser beiden imaginären Schüler würde dann stark voneinander abweichen. Vor diesem Hintergrund wird die selektive Wirkung von Bildungsentscheidungen deutlich.

Viel stärker wird dieser Effekt noch angesichts der Tatsache, dass, unter anderem durch die Expansion des Dienstleistungssektors im Arbeitsmarkt, eine erfolgreiche Schullaufbahn und ein guter Schulabschluss ״immer mehr eine notwendige Voraussetzung für Statuskarrieren geworden und gleichzeitig immer weniger eine hinreichende“ (Rolff 1997, s. 239) sind.

2 Allgemeine Betrachtung zum Übergang

2.1 Begriffsbestimmung

Im Laufe seines Lebens erfährt ein Individuum immer wieder Übergänge von einer Ausgangssituation in eine wie auch immer veränderte Folgesituation. Diese Übergänge sind oft nur begrenzt beinflussbar und können in ihrem jeweiligen Kontext tiefgreifende physische oder psychische Auswirkungen auf den Menschen haben. Übergänge im entwicklungsbiologischen Kontext sind unter anderem die Übergänge vom Kind zum Jugendlichen und zum Erwachsenen (vgl. Däschler-Seiler 2004, s. 16f.).

Übergänge werden oft durch kulturelle Riten und Feierlichkeiten begleitet - beispielhaft können hier die Taufe, die Geburtstagsfeier oder die Hochzeitsfeier genannt werden - die den Übergang als Einschnitt im bisherigen Leben besonders hervorhebt. Das Leben erhält so durch die phasenweise Bewusstmachung von Lebensabschnitten eine Gliederung und Rhythmisierung (vgl. ebd., s. 18f.).

Da Übergänge oftmals auch eine Veränderung von bisherigen gewohnten Handlungsabläufen bedeuten, sind sie durchaus auch als kritische Momente im Leben zu bezeichnen. Die Veränderung der Lebenssituation erfordert eine entsprechende Anpassungsleistung der Person und kann als ״stressreich“ erlebt werden (Filipp 1995, s. 23ff.). ״Übergänge im Lebenslaufstellen Einschnitte dar, die vom Individuum einerseits als Verunsicherung oder Bedrohung, andererseits aber auch als Chance gesehen werden können.“ (Ditton/Krüsken 2006, s. 348). Erfolgreiche Übergänge können neue Perspektiven eröffnen, gescheiterte Übergänge zu negativen Veränderungen des Selbstbildes führen und Zweifel an den eigenen Fähigkeiten wecken.

Übergänge gehen zudem häufig mit Übergangsentscheidungen einher, sie stehen in einem Bedingungsgefüge aus Entscheidung und Konsequenz.

Abschließend kann man also sagen, dass Übergänge Chancen und neue Möglichkeiten eröffnen, aber auch ein Risiko für die Weiterentwicklung darstellen können.

2.2 Übergänge in der Schule

Wie bereits herausgearbeitet wurde, sind Übergänge im Rahmen der Schullaufbahn notwendig. Sie ergeben sich aus einem ״Zusammenspiel institutioneller Anforderungen und dem individuellen Vermögen, diese Anforderungen zu erfüllen“ (Ditton/Krüsken 2006, s. 348f.) und unterliegen ״konkreten rechtlichen oder gesellschaftlichen Rahmenbedingungen“ (Maaz u.a. 2006, s. 299).

Die Einschulung in die Grundschule ist ohne Frage ein bedeutsames Übergangsereignis, wenn auch hier noch alle Schüler unabhängig von Leistungsfähigkeit und Einfluss ihrer sozialen Herkunft aufgenommen werden. Erst zum Ende der Grundschulzeit kommt es zu einer einschneidenden Leistungsdifferenzierung durch die Grundschulempfehlung. Auch wenn diese unverbindlich ist, mit der Ausübung des Elternwahlrechts kommt es zwangsweise zu einer Einteilung der Schüler in Leistungsgruppen. Mit den verschiedenen, zu erwerbenden Schulabschlüssen kommt diese Einteilung einer vorweggenommenen Statuszuweisung gleich.

Im weiteren Verlauf der Schule durchläuft ein Schüler weitere Übergänge, die man in reguläre und andere Übergänge untergliedern kann. Reguläre Übergänge sind im Schulwesen vorgesehene Übergänge. Dazu gehören:

- Einschulung
- Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I
- Übergang von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II
- Übergang von der Sekundarstufe I in eine berufliche Ausbildung
- Übergang von der Sekundarstufe II in den tertiären Bereich
- Übergang vom tertiären Bereich in den Beruf
Andere Übergänge betreffen nicht jeden Schüler und können durch unvorhergesehene Ereignisse notwendig werden. Dazu gehören unter anderem:
- Schulwechsel wegen Umzug
- Klassen-/Schulwechsel aus disziplinarischen Gründen
- Wiederholung der Klassen wegen Nichtversetzung
- Schulformauf'/abstieg wegen guter/ungenügender Leistung
- Quereinstieg von Immigranten
- Schulformwechsel
- Schulsystemwechsel durch politische Veränderung

Da der Übergang von der Grundschule in den Sekundarbereich einen hohen Stellenwert in der Schullaufbahn einnimmt, ist in den Bundesländern gesetzlich geregelt, wer über den weiteren Bildungsverlauf eines Schülers zu entscheiden hat.

3 Rechtliche Rahmenbedingungen für den Schulübergang

3.1 Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung in Baden-Württemberg

Seit der Verordnung des Kultusministeriums vom 8. Dezember 2011 (GBl. Nr. 21/2011 s. 562) ist die Grundschulempfehlung in Baden-Württemberg nicht mehr verbindlich. Eltern entscheiden seitdem frei darüber, auf welcher weiterführenden Schule sie ihr Kind anmelden. So können Schüler unabhängig von ihren schulischen Leistungen in die Orientierungsstufe der Haupt- und Werkrealschulen, in die Orientierungsstufe der Realschule oder ins Gymnasium eingeschult werden.

Vergleicht man die Schulübergänge des Schuljahrs 2011/12 mit verbindlicher Grundschulempfehlung mit dem darauffolgenden Schuljahr, für das die Grundschulempfehlung nicht mehr verbindlich ist, ist besonders eine deutliche Tendenz weg von den Haupt- und Werkrealschulen erkennbar (siehe Abb. 1).

Wurden 2011/12 noch 23,7% der Schüler in die Haupt- und Werkrealschulen eingeschult, sind es zum Schuljahr 2012/13 nur noch 15,8%. Verfolgt man diese Zahlen weiter bis zum aktuellen Schuljahr 2015/16 (siehe Abb. 1 ) zeigt sich, dass sich dieser Trend seitdem fortgesetzt hat. Im laufenden Schuljahr haben demnach nur noch 7,2% aller Schüler von der Grund- auf eine Haupt- und Werkrealschule gewechselt. Die Realschulen hatten im ersten Jahr ohne verbindliche Grundschulempfehlung einen Anstieg von 2,9% zu verzeichnen, vergleicht man jedoch das aktuelle Schuljahr 2015/16 mit dem Schuljahr 2011/12 ist sogar ein Abfall der Zahl um 0,4% zu verzeichnen. Dieser Abfall kann auf die Einführung der Gemeinschaftsschule zurückzuführen sein, die ein enormes Wachstum erkennen lässt. Sie fing im ersten Jahr mit einem Anteil von 1,7% der Schüler an und steigerte sich seitdem auf 13,3% Schüleranteil im aktuellen Schuljahr, was durchaus auch auf den Anstieg der Gesamtzahl an Gemeinschaftsschulen zurückzuführen sein kann. Die Gymnasien haben seit 2011 einen Anstieg von 2,5% zu verzeichnen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Übergänge von Grundschulen in Baden-Württemberg auf weiterführende Schulen seit 1990/91. Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg 2016

Betrachtet man nun zudem vergleichend die Zahlen der Grundschulempfehlung mit den tatsächlich gewählten Schulen (siehe Abb. 2), fällt auf, dass besonders in Realschulen und Gemeinschaftsschulen eine gemischte Schülerschaft hinsichtlich der Grundschulempfehlung vorliegt. Während 95% aller Werkreal- und Hauptschüler und 89% aller Gymnasiasten auch eine ebensolche Schulempfehlung erhielten, erhielten in der Realschule nur 60% der Schüler eine Realschulempfehlung. 27% der Realschüler wurden auf eine Werkreal'/Hauptschule empfohlen und 17% sogar auf ein Gymnasium.

Gemeinschaftsschulen überraschen besonders mit einem Schüleranteil von 60% mit Werkreal'/Hauptschulempfehlung. Dagegen entschieden sich nur 12% der Schüler mit Gymnasialempfehlung für den Besuch einer Gemeinschaftsschule.

Auch hier erkennt man wieder eine Tendenz weg von den Werkreal- und Hauptschulen, hin zu Schulen mit höheren möglichen Bildungsabschlüssen. Diese Tendenz macht sich vor allen in Realschulen und Gemeinschaftsschulen bemerkbar, an Gymnasium machen Schüler mit ursprünglich niedrigerer Empfehlung nur 11% aus, wobei lediglich 1% auf Schüler mit Werkreal'/Hauptschulempfehlung entfällt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2 Übergänge auf weiterführende Schulen zum Schuljahr 2012/13 nach Grundschulempfehlung (GSE). Quelle: Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 4/2013

3.2 Die Orientierungsstufe an Realschulen

An Realschulen sind die Klassen 5 und 6 so genannte Orientierungsstufen. Während dieser Zeit ermitteln die Lehrer den jeweiligen individuellen Lernstand der Schüler und passen ihren Unterricht dementsprechend an. So können Schüler in unterschiedlichen Fächern auf unterschiedlichem Niveau arbeiten. Am Ende der 5.

Klasse gibt es keine Versetzungsentscheidung. Zum Ende der 6. Klasse erfolgt eine erste individuelle Einstufung der Schüler in G- oder M-Niveau. Das grundlegende G- Niveau beschreibt das Werkreal- und Hauptschul-Niveau, das zum Hauptschulabschluss führt, das mittlere M-Niveau entsprechend das Realschul­Niveau, das zum Realschulabschluss führt. Die Niveaueinstufungen erfolgen ebenfalls zum Ende der 7. und 8. Klasse erneut. In den Klassenstufen 9 und 10 werden die Schüler entsprechend ihrer Niveaueinstufung auf die Hauptschulabschlussprüfung am Ende der 9. Klasse oder auf die Realschulabschlussprüfung am Ende der 10. Klasse vorbereitet.

Dieses Prinzip der Niveaueinstufung bedeutet für Eltern, die ihr Kind mit dem Ziel des Realschulabschlusses auf der Realschule anmelden, dass ihr Kind gegebenenfalls dennoch, je nach Leistung, auf Hauptschulniveau eingestuft werden und nur einen Hauptschulabschluss ablegen könnte. Eine Frage, die sich an dieser Stelle aufdrängt: ist das dann noch freier Elternwille?

4 Akteure des Übergangs

An der Bildungsentscheidung für eine weiterführende Schule sind drei Akteure maßgeblich beteiligt: die Lehrer, der Schüler und die Eltern. Welche Rolle den jeweiligen Akteuren zukommt, soll hier kurz Umrissen werden.

4.1 Die Lehrer

Grundschullehrer haben nach wie vor die Aufgabe, eine Grundschulempfehlung für ihre Schüler auszustellen. Zudem führen sie mit den Eltern Beratungsgespräche, auf Wunsch auch wiederholt und intensiv, zur ausgesprochenen Empfehlung und zum möglichen Bildungsweg der Kinder. Diese können den Eltern als Richtlinie dienen, ״weil Eltern einfach doch nicht den Einblick in die einzelnen Schulen haben wie jetzt die Lehrkräfte“, wie Pädagogikprofessorin Brigitta Reddig-Korn in einem Interview des Deutschlandfunk (Braun 2011, Abschn. 3) betont.

Wie eine Untersuchung der IGLU4 -Studie jedoch ergab, sind auch Empfehlungen von Lehrern nicht rein leistungsorientiert, sondern auch sozialselektiv.

Den Ergebnissen zufolge, haben Schüler aus Familien der oberen sozialen Schicht eine bis zu 2,6-fach größere Chance auf eine Gymnasialempfehlung als Schüler, deren Familien der unteren Schicht angehören (vgl. Bos и.a. 2004, s. 213f.). Letztendlich entfällt durch die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung die Verantwortung der Lehrer, eine endgültige Entscheidung für die Schüler treffen zu müssen. Ein in den Medien vielfach angeführtes Argument für die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung: es nähme den Druck von den Lehrern, Schülern und Eltern und fördere das Lernklima. Dazu allerdings sagt der Soziologe Dr. Jörg Dollmann von der Universität Mannheim in einem Interview der FAZ (Spreckelsen 2011, Abschn. 9), man müsse ״dann auch zeigen, dass dieser Druck dadurch tatsächlich ganz genommen wird und nicht nur um ein paar Jahre verlagert, wenn sich nach einer Weile zeigt, dass die Leistungen eines Kindes dann doch nicht fürs Gymnasium reichen“.

4.2 Die Schüler

Für die Schüler stellt der Übergang auf eine weiterführende Schule eine große Veränderung dar. Auf sie kommen Beziehungsbrüche, neue Lernformen, ein neues Sozialgefüge und eine Vielzahl weiterer Herausforderungen zu, die es neben dem regulären Lernpensum zu meistern gilt (vgl. Hacker 1988, s. 8f.).

Meiner persönlichen Erfahrung nach, können Kinder ihre Leistungen oft sehr gut selbst einschätzen, sie machen ihren Wunsch nach einer weiterführenden Schule jedoch häufig vor allem von der Schulwahl ihrer Freunde abhängig. Zudem sind die Aspirationen der Kinder stark durch die der Eltern geprägt (vgl. Bohon u.a. 2006; Goyette/Xie 1999).

4.3 Die Eltern

Angesichts der Tatsache, dass die Kinder zum Zeitpunkt der Übergangsentscheidung noch sehr jung sind, kommt den Eltern die wichtige Aufgabe zu, für ihre Kinder eine Entscheidung zu treffen. Es liegt dabei in ihrer Verantwortung, sich entsprechend zu informieren über verschiedene Schulformen, Schulen, Bildungswege, rechtliche Rahmenbedingungen, andere Besonderheiten

[...]


1 Die hier und im folgenden verwendeten Personenbezeichnungen sind geschlechtsneutral. Auf die durchgehende Verwendung von weiblichen und männlichen Formen wird aus stilistischen Gründen verzichtet.

2 Die vorliegende Arbeit beschränkt sich auf eine Betrachtung der Situation in Baden­Württemberg.

3 PISA (״Programme for International Student Assessment“) ist eine internationale Studie, die in dreijährigem Rhythmus in teilnehmenden Staaten durchgeführt wird.

4 IGLU: Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung.

Ende der Leseprobe aus 71 Seiten

Details

Titel
Entscheidungskompetenz von Eltern. Neue Verantwortlichkeit im Bildungsprozess ihrer Kinder
Hochschule
Pädagogische Hochschule Weingarten
Note
2,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
71
Katalognummer
V439029
ISBN (eBook)
9783668789029
ISBN (Buch)
9783668789036
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Grundschule, Übergang, Weiterführende Schule
Arbeit zitieren
Nina Keffer (Autor:in), 2017, Entscheidungskompetenz von Eltern. Neue Verantwortlichkeit im Bildungsprozess ihrer Kinder, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/439029

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