"Es helfen nur Menschen, wo Menschen sind": Die Darstellung des Bombenkriegs in Gert Ledigs "Vergeltung"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

16 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt:

1) Einleitung

2) Der Titel: Vergeltung als Teufelskreis

3) Filmerische Mittel als Rhetorik der Unruhe

4) Und da ich schon wanderte im finsteren Tal: Religion als Ausverkaufsware

5) „Es helfen keine Menschen, wo Maschinen sind“: Der Mensch als aussterbende Gattung

6) Ehre, Treue, Vaterlandsliebe, Heldentum: Radikale Absage an die Ideologie der Werte

7) Schluss

8) Literatur

1) Einleitung

„Ein 86- Millionen Volk, das man einst als Volk der Dichter und Denker rühmte, hat die schlimmste Katastrophe seiner jüngsten Geschichte mit Auslöschung seiner Städte und millionenfacher Vertreibung über sich ergehen lassen. Da fällt einem schwer zu glauben, dass diese Ereignisse nicht ein gewaltiges literarisches Echo gefunden haben.“[1] Als Ende 1997 der in England lebende deutsche Schriftsteller Winfried G. Sebald in seiner Züricher Poetikvorlesung beklagt, die Bombardierung deutscher Städte sei als literarisches Thema weitgehend tabuisiert und zu einer „Spukexistenz im kollektiven Unbewussten der Deutschen“[2] verdammt worden, ist Gert Ledigs Roman „Vergeltung“ noch verschollen.

1956 erscheint er zum ersten Mal, doch die Rezensionen sind fast durchgehend vernichtend. Es heißt, der Roman sei „peinlich“, „brutal“ und geschmacklos.[3] Die FAZ empört sich über die „gewollt makabere Schreckensmalerei.“[4] Die Zeit sieht den „Rahmen des Glaubwürdigen und Zumutbaren“[5] verlassen. Der Rheinische Merkur glaubt „abscheuliche Perversität“ zu entdecken, ein „Gruselkabinett.“[6] So kommt es, dass der Roman schnell in Vergessenheit gerät und mit ihm sein „Schöpfer“ Gert Ledig. Erst als sich die Debatte um den literarischen Niederschlag des Bombenkriegs entfacht, rückt der Roman ins Zentrum des öffentlichen Interesses. Doch die Neuauflage erlebt der Autor nicht mehr. Kurz vor dem Erscheinen 1999 stirbt Gert Ledig in einem Krankenhaus in Landsberg.

Ich möchte in meiner Arbeit untersuchen, wie Gert Ledig seine literarische Annäherung an das Thema Bombenkrieg akzentuiert. Was hat es mit dem Titel auf sich? Warum bedient er sich filmerischer Mittel? Welche Funktion hat die Religion in „Vergeltung“, welches Menschenbild enthüllt der Roman, und wie steht es um die im Roman vermittelten Werte? Ferner versuche ich eine Idee davon zu bekommen, warum sein Roman bei der Ersterscheinung im Vergleich zur Neuauflage so große Ablehnung erfährt.

Als Quellen ziehe ich vor allem die Zeitungsrezensionen und Aufsätze heran, die in den letzten Jahren infolge der Bombenkriegsdebatte nach Sebalds Vorlesung erschienen sind. Hier ist insbesondere Gabriele Hundrieser heraus zu heben, die sich mit Ästhetik von Gewalt und der Sinnlosigkeit des Krieges bei Ledig auseinander setzt. Desweiteren sind zu nennen Jan- Pieter Barbian, der die Bedeutung von Ledigs Werken für das 20. Jahrhundert skizziert und der Aufsatz von Karsmaker, die eine detaillierte Analyse des Romans vorlegt. Wichtig für die Arbeit ist außerdem das Vorlesungsskript von W. G. Sebald, der mit seiner Vorlesung die Diskussion um die literarische Verarbeitung des Bombenkrieges entfacht. Ferner beziehe ich mich auf die Zeitungrezensionen, die infolge der Ersterscheinung gedruckt wurden.

2) Der Titel: Vergeltung als Teufelskreis

Der Titel von Ledigs Roman zieht sich als Leitmotiv durch den gesamten Roman. Er fungiert als Handlungsmotiv für viele Charaktere auf personaler Ebene, zwischen Gruppen und sogar zwischen Nationen. Bereits auf der ersten Seite des Romans zeigt sich der „Beginn“ der Vergeltung. Die erste amerikanische Bombe fällt auf die toten Körper deutscher Kinder und schleudert sie gegen die Friedhofsmauer, noch ehe man ihre Leichen identifizieren kann. „Sie waren vorgestern in einem Keller erstickt. (...) So sah die Vergeltung aus.“ (9) Der Grund für dieses Ziel wird einige Seiten später genannt: Sergeant Strenehen, der sich in dem entsprechenden Bomber befindet „hatte dieses Ziel gewählt, in der Hoffnung, dort träfe es nur Tote.“ (11) Doch ungewollt tritt er damit den nächsten Stein los. „Dass sie deswegen sechzig Minuten später einen der Ihren mit Schaufeln erschlagen würden, wusste er nicht.“ (11)

Strenehens Bomber gerät kurz darauf unter feindlichen Fliegerbeschuss. Dabei stirbt der Turmschützte durch ein Explosivgeschoss. Der Tod des Kameraden scheint Strenehen nicht zu berühren. Mechanisch tut er seinen Job weiter. Doch als er selbst im Turm sitzt packt ihn die Gier nach Rache: „Wenn jetzt der Deutsche käme: Er würde alles vergelten.“ (29) Die Erfüllung seines Wunsches lässt nicht lange auf sich warten. Die feindlichen Maschinen rasen aufeinander zu. „Jetzt, dachte Strenehen. (...) Der Deutsche war im Fadenkreuz. Die drei Maschinengewehre arbeiteten präzis. Er hielt auf den Piloten. Kein Schuss ging daneben. Die Leuchtfäden zischten alle ins Ziel. (…) (Strenehen; nach P.M.) war glücklich. Eine Sekunde lang grenzenlos glücklich. Bis er das Blut (seines Kameraden; nach P. M.) an den Händen sah, da wurde ihm schlecht.” (30)

Zur erhofften Rückkehr nach England mit dem Geschwader kommt es nicht. Als die Staffel entlassen wird, streift die Nachbarmaschine Strenehens Bomber und bringt ihn zum Absturz. Strenehen rettet sich mit einem Fallschirm und sucht Schutz in der deutschen Stadt. Doch statt des erhofften Schutzes wird er wiederum Ziel eines deutschen Vergeltungswunsches. Ein Ingenieur und ein Mechaniker finden ihn, doch ersterer hat kein Mitleid mit ihm und weigert sich, ihm zu helfen: „,Das Dringendste, was er braucht, ist eine Hose!` (so der Mechaniker; nach P. M.) ,Wir dürfen ihm keine geben.` ,Warum nicht?` ,Das wissen Sie doch!`” (90) Für den Ingenieur ist Strenehens Nationalität Grund genug, ihn zu hassen und sogar zu töten. Er hat mitgeholfen „meine Frau umzubringen; mit seinen Bomben!“ (91) Der Ingenieur versucht seinen Mechaniker zu zwingen, den Amerikaner zu töten, doch dieser stößt Strenehen in einem unbeobachteten Moment hinaus auf die Straße und verriegelt die Tür hinter ihm. Er möchte ihn nicht töten, vermag aber auch nicht, ihn zu retten.

Damit liefert er Strenehen einer weiteren rachsüchtigen Gruppe aus. Strenehen sucht Unterschlupf im benachbarten Hochbunker. Doch dort fällt er einem vergeltungssüchtigen Arzt in die Hände, der ihn schwer misshandelt und diskriminiert. Er tritt ihn von einer Bahre, stößt dem am Boden liegenden einen Stuhl ins Gesicht. Doch auch damit nicht genug: „,Was ich jetzt brauche` flüsterte der Arzt, ,ist eine Peitsche!`“ (186). Und ein kleiner Junge bekräftigt sein Tun: „Totschlagen!” (186) „Schlagt den Gangster tot!” (193) Mit einer Eisenstange prügelt er ihn voll „Wollust“ (188) ins Nebenzimmer, wo andere deutsche Zivilisten Zuflucht genommen haben. „,Ich schäme mich`, sagte eine Stimme von der Mauer, ,für die, die das getan haben!`“ (194). Hier endet die pingpongartige Vergeltung um Strenehen. Die Deutschen im Bunker werden sich gewahr, dass Rache an ihrer Situation nichts mehr ändern wird. Strenehen ist bereits dem Tode geweiht. Statt Vergeltung geben sie ihm Wasser und eine Decke. Sie beginnen zu beten. (vgl. 194 f)

Doch nicht nur um Strenehens Schicksal zieht sich das Vergeltungsmotiv wie ein Netz zusammen. Auch innerhalb der deutschen Truppen wird es zum Thema. Der deutsche Leutnant Wieninger erhält den Befehl, Soldaten aus dem Hochbunker hinaus zu schicken, um amerikanische Piloten während der Bombardements gefangen zu nehmen. (vgl. 55) Angesichts der Gefährdung seiner Truppen denkt der Leutnant an Befehlsverweigerung, doch ihm sind die Hände gebunden. Als er den Befehl an einen Obergefreiten weiter gibt, ignoriert dieser ihn und lässt ihn stehen. „Der Leutnant sah seinen Rücken. Es verlockte ihn, zuzuschlagen, aber er ging trotzdem weiter. Mit dem, dachte er, rechne ich auch noch ab.“ (102)

Nikolai Petrovich, wahrscheinlich ein Zwangsarbeiter aus Russland, verflucht die Deutschen für den Krieg. Er hat seine Kameraden (vgl. 82) und seine Familie (vgl. 57) verloren, aus seinem Arm tropft Eiter aufgrund einer alten Verletzung. Als seine Landsmänner bei der Flucht vor den Bomben getötet werden, übermannt ihn die Wut: „Er schrie plötzlich: ,Verreckte Germanskis!` Er ballte die Faust und drohte in die Flammen, dann spuckte er aus. Es lohnte sich nicht. Kein Mensch war da. Sie hatten sich verkrochen.” (111) Daraufhin uriniert er auf eine zerbrochene Statue: seine Art der Vergeltung. „Nikolai trat näher, öffnete seine Hose. Sein Harnstrahl spritzte der Figur ins Gesicht. Die Hälfte davon drückte der Sturm gegen sein Bein.” (111)

„Nach dieser Stunde (des Bombenangriffs; nach P. M.) wurden etwa 300 Menschen vermisst. Davon fand man zwölf.“ (199) Und immer noch öffnet sich der Teufelskreis nicht: „Nach der siebzigsten Minute wurde weiter gebombt. Die Vergeltung verrichtete ihre Arbeit. Sie war unaufhaltsam.“ (199)

Ledig zeigt, wie im Kriegsgeschehen verschiedene Arten der Vergeltung Form annehmen und zum Ausdruck von Hilflosigkeit und Handlungsunfähigkeit werden. Das Verhalten der Figuren jedoch wird ad absurdum geführt. Es löst den Konflikt nicht, Vergeltung führt bloß zu einer weiteren Vergeltung und wird zum Teufelskreis, welcher keinen sinnstiftenden Fluchtpunkt erkennen lässt.[7]

[...]


[1] Sebald 1999, S. 96.

[2] Sebald 1999, S. 21.

[3] Hornung 1956, S. 5.

[4] Schwerbrock 1956, o. S..

[5] Hornung 1956, S. 5.

[6] Dollontano 1956, o. S..

[7] Vgl. Karsmaker 2002/ 03, o.S..

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
"Es helfen nur Menschen, wo Menschen sind": Die Darstellung des Bombenkriegs in Gert Ledigs "Vergeltung"
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
16
Katalognummer
V43897
ISBN (eBook)
9783638415910
Dateigröße
476 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Menschen, Darstellung, Bombenkriegs, Gert, Ledigs, Vergeltung
Arbeit zitieren
Petra Maier (Autor:in), 2005, "Es helfen nur Menschen, wo Menschen sind": Die Darstellung des Bombenkriegs in Gert Ledigs "Vergeltung", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/43897

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