Der Kibbutz. Eine gelebte Utopie?

Die Kibbutzidee und ihre Umsetzung von der ersten Alija bis in die 70er Jahre


Hausarbeit (Hauptseminar), 2018

30 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Literatur und Forschung

3. Ideengeschichtliche Wurzeln der Kibbutzbewegung
3.1. Ideen der osteuropäischen Juden
3.2. Die jüdische Jugendbewegung

4. Die praktische Umsetzung der Ideen im Kibbutz
4.1. Ökonomische Strukturen
4.2. Politische und soziale Strukturen
4.3. Die Kollektiverziehung

5. Zusammenfassung

Literatur.

1. Einleitung

Der Kibbutz[1] repräsentiert als genuin israelische Genossenschaftssiedlung mit ursprünglich landwirtschaftlichem Schwerpunkt den Versuch die zionistische Besiedlung Palästinas nach dem Vorbild einer kollektiven egalitären Gesellschaftsutopie sozialistischen Zuschnitts zu gestalten.[2] In die Kibbutzidee sind neben zionistischem und sozialistischem Gedankengut unterschiedliche konzeptionelle und theoretische Ansätze, etwa aus der Reformpädagogik und der Psychoanalyse, eingeflossen.[3] Es ging den Pionieren der Kibbutzbewegung, die anfangs fast ausschließlich aus Osteuropa vor Pogromen und Diskriminierung nach Eretz Israel flohen, um nichts weniger, als für den erhofften jüdischen Nationalstaat auf palästinensischem Boden einen ״neuen Menschen“ zu schaffen.[4] Dieser neue Mensch sollte nach dem Grundsatz ״gib nach deinen Fähigkeiten und empfange nach deinen Bediirft1issen“[5] m kollektiver Selbstarbeit, grundsätzlicher Geschlechtergleichheit und ohne Privatbesitz die kargen oder sumpfigen Böden Palästinas urbar machen.[6]

Trotz der Tatsache, dass der Anteil der zionistischen Siedler, die im ehemaligen Palästina und späteren Israel in Kibbutzim lebten, damals wie heute eine kleine Minderheit darstellt, hat der Kibbutz als einzigartige Lebensgemeinschaft und Verwirklichung einer sozialistischen Utopie weltweite Bekanntheit erreicht und eine bedeutende Rolle auf dem Weg zum israelischen Nationalstaat gespielt.[7]

Angesichts dieser utopischen Ideale drängt sich natürlich die Frage auf, ob und wie die verschiedenen Kibbuzim diesen in der praktischen Umsetzung gerecht werden konnten. In der Folge sollen nun zunächst in einem ersten Teil die ideengeschichtlichen Einflüsse der Kibbutzbewegung näher untersucht werden. Hier wird der Fokus auf Bewegungen und Institutionen des 19. Jahrhunderts in Ost- und Westeuropa liegen, die das soziale Milieu der Kibbutzgründer entscheidend prägten. In diesem Kontext ist auch die Situation der Juden in der Diaspora in den Blick zu nehmen, die zunächst im Osten später auch massiv im Westen von Diskriminierung und Verfolgung geprägt war und schließlich den Zionismus für viele Juden als Rettungsidee erscheinen ließ.[8]

Im zweiten Teil soll die praktische Umsetzung verschiedener Elemente der herausgearbeiteten Kibbutzidee exemplarisch untersucht werden. Dafür sind die typischen Strukturen des Kibbutz in ihrer historischen Entwicklung in den Blick zu nehmen. Neben der ökonomischen und politisch-sozialen Dimension des Kibbutzlebens kommt dem Konzept der Kollektiverziehung ein bedeutender Stellenwert zu. Als Quellenbasis für diesen zweiten Teil bieten sich neben der Forschungsliteratur Tagebuchnotate von Kibbutznikim[9] und Berichte von Kibbutznikim an, die zwar einen subjektiven aber unmittelbaren Eindruck vom Leben im Kibbutz geben. Zunächst werde ich versuchen, einen groben Überblick über die Forschungsliteratur zu geben.

2. Literatur und Forschung

Mit dem Kibbutz als einzigartigem wirtschaftlichem und sozialem Phänomen haben sich verschiedene wissenschaftliche Disziplinen beschäftigt.[10] Es ist somit eine Fülle von Literatur zum Thema verfügbar, die im Rahmen dieser Arbeit nur exemplarisch vorgestellt werden kann. Grob lässt sich die Kibbutzliteratur nach BRIK in vier Kategorien einteilen: In Leitfäden und Handbücher für Volontäre, historische Darstellungen, Analysen der Sozial- bzw. Wirtschaftsstrukturen und in pädagogische Untersuchungen zum Konzept der Kollektiverziehung.[11] Darüber hinaus gibt es Tagebücher[12] und prosaische Autobiographien von Kibutznik.[13] Die narrativ-romanhafte Textgestaltung bei VOGHERA lässt vermuten, dass es sich hier mehr fiktionale und stilisierte Retrospektive handelt als um einen nüchternen Tatsachenbericht. Dennoch ist dem Text ein gewisser Quellenwert für die Lebensweise im Kibbutz nicht abzusprechen. Die Volontärsliteratur bietet neben ihrer hauptsächlichen Funktion als Ratgeber für Menschen, die einen Kibbutz besuchen wollen, häufig einen knappen geschichtlichen Hintergrund. Meist werden auch Informationen über grundsätzliche Verhaltensregeln, Sozi al Strukturen und Arbeitsbedingungen thematisiert.[14] Zudem finden sich hier Berichte ehemaliger Volontäre und Interviews mit Kibbutznikim, die für die historische Analyse als nützliche Ego-Dokumente gelten können.[15] Im Bereich der historischen Darstellungen ist zunächst MEIER-CRONEMEYERs Monographie zu nennen, die die Geschichte der Kibbutzbewegung von den Anfängen um etwa 1909 bis zur israelischen Staatsgründung erzählt. Dabei geht es MEIER-CRONEMEYER darum, die Geschichte der Kibbutzim in den Kontext der zionistischen Kolonisation einzubetten.[16] Die historische Perspektive ist für den Autor unabdingbar, um die idealisierende Legendenbildung über die Kibbutzim aufzubrechen und deren ideologische Vorbedingungen in den Blick zu nehmen. So wird hier die jüdische Jugendbewegung als wesentlicher Einfluss auf die Kibbutznikim der dritten Alija genannt.[17] Der ideengeschichtliche Ansatz wird von späteren Autoren weiter ausgebaut. MELZER untersucht die Utopien und Ideen, die nachhaltig auf die ursprüngliche Kibbutzidee wirkten sehr eingehend, auch wenn er dabei eher ein erziehungswissenschaftliches Erkenntnisinteresse verfolgt.[18] Beide Autoren führen die Kibbutzidee auf Vorbilder zurück, mit denen die Pioniere in der Diaspora in Berührung kamen und die sie bildlich gesprochen im Reisegepäck nach Palästina mitführten. Hierzu gibt es auch Gegenpositionen, die die Entstehung der Kibbutzim entkoppelt von ״äußeren Vorbildern“ als pragmatische Lösungsversuche für Probleme, die die Siedler in Palästina vorfanden, darstellen.[19] Nach MEIER-CRONEMEYER sind das Schutzbehauptungen, mit denen die Gründergeneration der ersten Kibbutzim mit scheinbarer Ideologielosigkeit etwa anarchistische Ideale rechtfertigen wollte, die mit der späteren Staatsgründung in Widerspruch standen.[20] Eine pragmatische eher ereignisgeschichtlich orientierte Herangehensweise verfolgt an prominenter Stelle NEAR, der in seiner englischsprachigen chronologischen Darstellung der Kibbutzbewegung von 1909-1939 ideologische Vorbilder weitgehend unberücksichtigt lässt und das historische Geschehen ״limited in time and place “ verstanden wissen will.[21] Eine relativ aktuelle historische Darstellung zum Thema bietet LINDENAU, dessen Erkenntnisinteresse auf Transformationspro 1980er Jahre gerichtet ist.[22] Die Vorgehensweise ist hier klar ideengeschichtlich orientiert. Im ersten und zweiten Teil untersucht LINDENAU die ideengeschichtlichen Wurzeln der Kibbutzidee sowie die politischen Utopien, die für die Gründergeneration prägend waren und prüft in der Folge ihre Umsetzung in die Praxis. Zwar geht LINDENAU auf die Jugendbewegung als wichtiges Vorbild ein, Aspekte der Kollektiverziehung als zentralem Element der Kibbutzidee werden in dieser Arbeit nur knapp behandelt. Eine sehr kritische Position zur Kibbutzbewegung nimmt BRIK in seiner Monographie zum Thema ein. Im Vorwort lässt der Autor, ein in Palästina geborener Araber, seine ablehnende Haltung gegenüber dem Zionismus erkennen, wenn er erzählt, wie er als Leiharbeiter den von den Zionisten geraubten Boden bestellen musste und diese einen Kibbutz an der Stelle errichteten, wo zuvor ein arabisches Dorf gestanden hatte.[23] Wenig später wird der Kibbutz ״(...) als ein militärisches, politisches, ökonomisches und ideologisches Instrument in den Händen der Zionisten (Uj “[24] charakterisiert. Autoren, die diese Sichtweise nicht teilen, wie etwa MEIER-CRONEMEYER bescheinigt BRIK einen ״Mangel an theoretischer Analyse “.[25]

Da mein Hauptaugenmerk auf der historischen Darstellung liegt, werde ich die Literatur zu den sozialen und wirtschaftlichen Strukturen nur knapp und exemplarisch skizzieren. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Ansätze finden sich beispielsweise bei BESCH und BOCKENHEIMER, die dementsprechend teils mit quantifizierenden Methoden arbeiten, wirtschaftliche Bilanzen und Statistiken aufführen.[26]

Sehr umfangreich ist die erziehungswissenschaftliche Literatur zu den Kibbutzim. Im Zuge der Wiederbelebung der Reformpädagogik Ende der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts wuchs in der Pädagogik das Interesse an alternativen Erziehungskonzepten, was zu einer Fokussierung des Konzeptes der Kollektiverziehung in Kibbutzim führte. [27] Zentrale Themen dieser Arbeiten sind etwa die Auflösung familiärer Strukturen, die Entwicklung des kindlichen Individuums im Rahmen kollektiver Erziehung und die Veränderung der weiblichen Geschlechterrolle durch die Veränderungen in der Mutter-Kind-Beziehung. Bei MELZER, der auch den pädagogischen Autoren zugerechnet werden kann, steht das pädagogische Konzept der Kibbutz-Erziehung in einem direkten Zusammenhang mit ideologischen Vorbildern und Utopien, die auf die Gründergeneration in Ost und Westeuropa eingewirkt hatten.

3. Ideengeschichtliche Wurzeln der Kibbuzbewegung

3.1. Ideen der osteuropäischen Juden

Da die ersten Kibbutzim von Siedlern aus Osteuropa gegründet wurden und hier zionistisches und sozialistisches Gedankengut zunächst weiter verbreitet war als im westlichen Galuth, bietet es sich an zuerst die Situation der osteuropäischen Juden und ihre ideengeschichtliche Entwicklung hin zur Kibbutzidee in den Blick zu nehmen. Die meisten Juden in Osteuropa, damit ist vor allem Russland und Galizien gemeint, hatten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert einen schweren gesellschaftlichen Stand. Antisemitismus war weit verbreitet. Die Juden lebten hier weniger assimiliert als ihre Glaubensbrüder und Schwestern im Westen und wurden von großen Teilen der Bevölkerung als gesellschaftlicher Fremdkörper empfunden.[28] Unter Zar Alexander III. entluden sich die antisemitischen Ressentiments seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in äußerst brutalen und gewaltsamen Pogromen, die die ersten Alijot auslösten.[29] Zwar gab es auch in Osteuropa parallel zum Westen eine jüdische Minderheit, die im Handel und Bankwesen zu Wohlstand gelangt war, aber das Gros der osteuropäischen Juden lebte in bescheidenen, wenn nicht gar ärmlichen wirtschaftlichen Verhältnissen.[30]

Unter diesen Prämissen stellte sich für die jüdische Bevölkerung die Frage, wie die prekäre Situation gelöst werden könnte. Dabei schwankten die Optionen zwischen Assimilation und Russifizierung auf der einen und der Hinwendung zum Zionismus auf der anderen Seite.[31]

Die Haskalah als jüdische Aufklärungsbewegung war bereits im 18. Jahrhundert im Westen entstanden und verband sich im Osten des 19. Jahrhunderts, im Rahmen des allgemeinen Trends zum Nationalismus jener Zeit, mit der Idee eines säkularen Nationalstaates, in dem Juden mit Angehörigen anderer Religionen gleichberechtigt leben könnten.[32] Hier ging es also nicht um einen jüdischen Nationalstaat, sondern letztlich um Assimilation. Die Verschärfung antisemitischer Tendenzen im späten 19. Jahrhundert ließen aber sehr bald kritische Stimmen aus Kreisen jüdischer Intellektueller zu diesen Assimilationsstrategieen laut werden.[33] Vor allem, da die Assimilationsversuche antisemitische Stimmungen häufig eher verstärkten als abbauten.[34] Nach LINDENAU ist die Attraktivität des Zionismus weniger auf einen verschärften Antisemitismus als vielmehr auf eine tiefgehende Identitätskrise des Judentums zurückzuführen, die im Zuge der Emanzipation und rechtlichen Gleichstellung das jüdische Selbstverständnis als randständige religiöse Minorität erschütterte.[35] Für Osteuropa erscheint diese These fraglich, da von Emanzipation und Gleichstellung hier keine Rede sein kann und der Zionismus dennoch eine größere politische Anziehungskraft ausübte als im Westen.[36] Gescheiterte Assimilation und die politische wie wirtschaftliche Notlage der osteuropäischen Juden scheinen dem Zionismus daher eher Auftrieb gegeben zu haben. Als einer der ersten einflussreichen Theoretiker des Zionismus in Russland ist Leon PINSKER zu nennen, der anstelle einer Emanzipation der Juden von außen bereits 1882 als Reaktion auf die ersten Pogrome eine ,rAutoemanzipation “ der Juden forderte.[37] Die Lösung für die Situation der Juden sah er altemativlos in der Emigration nach Palästina und der ״Schaffung eines eigenständigen Lebens“[38] in einem jüdischen Nationalstaat:[39]

״Nicht die bürgerliche Gleichstellung der Juden in dem einen oder anderen Staate vermag diesen Umschwung herbeizufiihren, sondern einzig und allein die Autoemanzipation des jüdischen Volkes als Nation, die Gründung eines eigenen jüdischen Kolonistengemeinwesens, welches dereinst unsere ureigene, unveräußerliche Heimat, unser Vaterland werden soll. “[40] ° Interessant für die spätere Kibbutzbewegung ist hier der Umstand, dass neben einer Nationalgründung auch eine eigenständige jüdische Lebensform etabliert werden soll, ohne dass diese in diesem Zitat näher beschrieben wird. Nach LINDENAU weckte PINSKERs Schrift unter den Juden Osteuropas wieder das Interesse für die nationale Idee und trug zur Formierung zionistischer Gruppen, wie der Chove Zion (Liebhaber Zions) und der Palästinasiedlungsbewegung Chibbat Zion (Liebe zu Zion) entscheidend bei.[41] Im westlichen Judentum wurden diese Ideen dagegen kaum rezipiert.[42] Auch HERZLs Konzeption eines politischen Zionismus, der die noch sehr abstrakt gehaltenen Gedanken PINSKERs und anderer Theoretiker in seinem 1896 veröffentlichten Werk ״Der Judenstaat“ detailreich konkretisierte und den Zionismus letztlich als internationale Bewegung etablierte, fand unter den assimilierten Juden Westeuropas aber auch in religiösen Kreisen zunächst wenig Zuspruch.[43] Die Basis seiner Anhängerschaft fand der Zionismus in dieser frühen Phase im proletarisch geprägten Milieu des Judentums in Osteuropa.[44] Auch HERZLs Pläne eines jüdischen Staatswesens beziehen sich zuerst nicht alternativlos auf Palästina als Siedlungsraum. Im Gespräch waren auch Argentinien, Zypern oder Uganda.[45] Handfester wurde die zionistische Idee erst mit der Balfour-Deklaration von 1917, die den Juden von britischer Seite eine Heimstätte in Palästina in Aussicht stellte.[46]

Ein entscheidender ideologischer Schritt hin zur Kibbutzbewegung wurde mit der Verknüpfung des Zionismus mit dem Sozialismus gemacht.[47] Einer der ersten Denker, der die Idee eines sozialistischen Zionismus entwickelte, war einer der Führer der jüdischen Arbeiterpartei Poalei Zion in Russland Nachman SYRKIN.[48] Für SYRKIN war die soziale Ungleichheit eine wesentliche Ursache des Antisemitismus. Wo Neid und Missgunst herrschten, würden neue Ressentiments entstehen. Ein jüdisches Staatswesen kann nach SYRKIN darum ausschließlich auf der Basis sozialistischer Gleichheit begründet werden:

״ The Jewish State can come about only if it is socialist; only by fusing with socialism can Zionism become the ideal of the whole Jewish people - of the proletariat, the middle class, and the intelligentia. All Jews will be involved in the success of Zionism, and none will be indiferent. The messianic hope, which was always the greatest dream of the Jewry, will be transformed into political action. “[49]

Ein weiterer Mitbegründer der Poale Zion und Theoretiker des sozialistischen Zionismus war Beer BOROCHOW. Anders als SYRKIN bezieht sich BOROCHOW stärker auf die marxistische Theorie und setzt auf das Mittel des Klassenkampfes:

״Die Erlangung der territorialen politischen A utonomie für die Juden in Palästina ist das Ziel die zionistische Bewegung. Für den bürgerlichen Zionismus bedeutet sie das Endziel, für den proletarischen aber ist sie eine Etappe auf dem Weg zum Sozialismus. Dieses politische Ziel wird durch den politischen Kampf erreicht werden. “[50]

Bei einigen nichtjüdischen Sozialisten stieß die Fusion von Zionismus und Sozialismus nicht gerade auf Begeisterung. Schließlich gab es unverkennbar Widersprüche zwischen den beiden Bewegungen. Während sich der Sozialismus als universelle internationale Bewegung verstand, die die Befreiung der Arbeiter aller Nationen und Völker aus ihren Ausbeutungsverhältnissen zum Ziel hatte, fühlte sich der sozialistische Zionismus als nationale Bewegung nur für das jüdische Volk zuständig.[51]

Die Poale Zion brachte im Zuge der 2. Alija (1904-1914) mit vielen Ihrer Mitglieder auch ihr Gedankengut nach Palästina und nahm großen Einfluss auf die in der Folge gegründeten Kibbutzim. Aus der Poale Zion gingen zum einen die Kibbutz-Verbände Hamenchad und Takam hervor, zum anderen steht sie auch in enger Verbindung mit der späteren Gründung der linken Mapai-Partei.[52]

Zionistische und sozialistische Ideen bündeln sich in der Folge neben anderen ideologischen Einflüssen in der Arbeit jüdischer Jugendbewegungen.

Der Einfluss der osteuropäischen Jugendbewegung auf die Kibbuzim werden unten im Kontext der westeuropäischen deutschen Jugendbewegung behandelt, da die beiden Bewegungen viele Parallelen aufweisen.

Zuvor soll mit dem Tolstoj anismus eine wirkungsmächtige Utopie des 19. Jahrhunderts dargestellt werden, die weit über Russland hinaus Anhänger fand und auch einen gewissen Einfluss auf die Kibbutz-Bewegung ausübte.[53]

Der Romancier Leo TOLSTOI konzipierte in seiner späten Schaffenszeit eine fundamental­christliche Utopie, die auf zentralen Aussagen der Bergpredigt im neuen Testament basiert.[54] Tolstoi entfaltete seine recht wortgetreue Bibel-Interpretation vor allem in seiner Schrift Das Reich Gottes ist in Euch. Wesentliche Elemente seiner Lehre sind Pazifismus, Askese und die Erwirtschaftung des eigenen Lebensunterhalts vorzugsweise durch Feldarbeit:

״ Verändere dein eigenes Leben, übe dich in Entsagung, gib ein ermutigendes Beispiel, und sei es noch so klein. Widerstehe nicht dem Bösen. Ferner lasse niemanden für dich arbeiten, sondern arbeite selbst: erwirb dein tägliches Brot mit deiner eigenen Hände Arbeit, am besten auf dem Lande. “[55]

[...]


[1] Die hier gebrauchte Schreibweise ist in der deutschsprachigen Forschungsliteratur am häufigsten zu finden und wird daher auch in dieser Arbeit verwendet. Alternativ findet sich noch die Schreibweise Kibbuz.

[2] Vgl. MELZER, Wolfgang; NEUBAUER, Georg. Der Kibbutz als Utopie. Mit einem Nachwort von Ludwig Liegie. Hrsg. Wolfgang Melzer; Georg Neubauer. Weinheim/Basel 1988. s. 17ff. Vgl. BRIK, Nazdı. Kibbuz: Legende und Wirklichkeit. Die Rolle des Kibbuz in der zionistischen Siedlungspolitik. Hamburg 1991.

[3] Vgl. Zur ideengeschichtlichen Begründung des Kibbutzkonzepts vgl. LINDENAU, Matilias. Requiem für einen Traum? Transfonnation und Zukunft der Kibbutzim in der israelischen Gesellschaft. Berlin 2007.

[4] Vgl. MELMAN, Yossi. Knessethund Kibbuz. Die Geschichte des Staates Israel. München 1993. s. 219. Vgl. BOCKHEIMER, Philipp. Struktur und Entwicklung ausgewählter Kibbuzim in Israel. Gießen 1978. s. 45ff.
Vgl. BEN-CHANOCH. Adam. Der Mensch in der Heimat. In: Jeckes erzählen. Aus dem Leben deutschsprachiger Einwanderer in Israel. Hrsg. Slilomo Erei. Wien 2004. s. 55ff.

[5] MLI.MAN. Yossi. Ebd. s. 220.

[6] Vgl. FÖLLING-ALBERS, Maria. Erziehung und Frauenfrage im Kibbutz. In: Der Kibbutz als Utopie. Ebd. s. 88­120 s. 91.

[7] Vgl MELMAN, Yossi. Ebd. s. 219.

[8] Vgl. LINDENAU, Matilias. Ebd. s. 61-74.

[9] Alternativ findet sich auch der Ausdruck Chawerim für Mitglieder eines Kibbutz.

[10] Vgl. BRIK, Na/eh. Ebd. s. 10.

[11] Vgl Ebd. s. 10.

[12] Vgl. SHLOMO, Erei. Aus dem Tagebuch eines Kibbuz-Sekretärs. Stuttgart 1979.

[13] VOGHERA, Giorgio. Meine Heimat ist die ganze Welt. Stuttgart 1997.

[14] Exemplarisch für die Volontärsliteratur vgl. Fölling, Werner; Kricncr.Tobias (Hrsg). Kibbuz-Leitfaden. Karlsruhe 1994. Vgl. VAN SOER, Josh; MAREK, Michael. Kibbutz. Handbuch. Leben und Arbeiten in Kibbuz und Moshav.
Hinweise für Volunteers. Stuttgart 1981.

[15] Für Berichte von Kibbutznikim vgl. GODENS CH WEGER, Walter в.; VILMAR, Fritz. Die rettende Kraft der Utopie. Deutsche Juden gründen den Kibbuz Hasorea. Frankfurt am Main 1990.

[16] Vgl. MEIER-CRONEMEYER, Hennáim. Kibbuzim. Geschichte, Geist und Gestalt. Erster Teil. Hannover 1969. s. 8

[17] Vgl. Ebd. s. 73ff.

[18] Vgl. MELZER, Wolfgang. Die Bedeutung von Utopien für die Genese der Kibbutzim und lines Erziehungsarrangements. In: Der Kibbutz als Utopie. Ebd. s. 38-69.

[19] Vgl. RON-POLANI, J. Von der Kollektiverziehung zur Erziehung im Kollektivismus In: Kollektiverziehung im Kibbuz. Hrsg. Ludwig Liegie. München 1971.

[20] Vgl. MEIER-CRONEMEYER, Hennáim. Ebd. s. 9. Gemeint ist liier etwa der christliche Anarchismus, der von Leo Tolstoi vertreten wurde. Vgl. MELZER,, Wolfgang. Ebd. s. 5 Iff. Vgl. DE LANGE, Dennis. Die Revolution bist Du! Der Tolstojanismus als soziale Bewegung in den Niederlanden. Berlin 2016.

[21] Vgl. NEAR, Henry. The Kibbutz Movement. A History. Origins and Groth, 1909-1939. Oxford 1992. s. 7.

[22] Vgl. LINENAU, Mathias Ebd. s. 296.

[23] Vgl BRIK, Nazdı. Ebd. s. 10.

[24] Ebd s. 11.

[25] Ebd s. 11.

[26] Vgl. BESCH, Nikolaus.Die israelischen Genossenschaften, Besonders die Siedlungsgenossenschaften des Kibbutz, des Moschaw Owdimund des Moschaw Schitufi. Münster 1995. Vgl. BOCKENHEIMER, Philipp. Ebd.

[27] Vgl. FÖLLING-ALBERS, Maria. Die Einheit von Leben und Lemen in der Kibbutz-Erziehung. Köln 1987. Vgl. LIEGLE, Ludwig. Familie und Kollektiv im Kibbutz. Eine Studie über die Funktionen der Familie in einem kollektiven Erziehungssystem. Weinheim/ Basel. 1972. Vgl.BREITBACH, Irmgard. Identitätsentwicklung im Kindergartenalter unter den Bedingungen kollektiver Erziehung. Die Analyse dreier Kindergärten in israelischen Kibbutzim. München 1979.

[28] Vgl. LINDENAU, Mathias. Ebd. s. 65.

[29] Vgl. Ebd. s. 38. Die Wiedergabe eines Augenzeugenberichts des Pogroms in Kischinew (1904), der schreckliche Gewaltexzesse gegenüber jüdischen Frauen, Kindern und Männern darstellt.

[30] MELZER spricht von etwa 20 000 im Jalu1897 ־ bei einer jüdischen Gesamtbevölkerung von fünf Millionen. Vgl. MELZER, Wolfgang. Ebd. s. 46.

[31] Vgl. Ebd. s. 48.

[32] Vgl. Ebd. s. 48. Allgemein zur Haskalah in Russland vgl. MEISL, Josef. Haskalah. Geschichte der Aufklärungsbewegung unter den Juden in Russland. Berlin 2009.

[33] Als erster Kritiker der Haskalah-Idee ist Perez SMOLENSKIN zu nennen vgl. MELZER, Wolfgang. Ebd. s. 48.

[34] Vgl. MELZER, Wolfgang. Ebd. s. 48. vgl. LINDENAU, Malllias. Ebd. s. 62.

[35] Vgl LINDENAU Matinas. Ebd. s. 62.

[36] Vgl MELZER, Wolgang. s. 45ff

[37] Vgl. FEINGOLD-STUDNIK, Shoshana. Der Kibbuz im Wandel. Wirtschaftliche und politische Grundlagen.Wiesbaden2002. s. 13.

[38] Ebd. s. 13.

[39] Vgl. Ebd. s. 13.

[40] Zitat nach LINDENAU, Mathias. Ebd. s. 67.

[41] Vgl. Ebd. s. 67.

[42] Vgl. Ebd. s. 67.

[43] Vgl. Ebd. s. 68. Vgl. BRIK, Nazdı. Ebd. s. 18-19.

[44] Vgl 1.indėnai;. Malllias. Ebd. s 67.

[45] Vgl BRIK, Nazdı, s. 19.

[46] Vgl. Ebd. s. 25.

[47] Vgl. FEINGOLD-STUDNIK, Shosliana. Ebd. s. 13. Vgl. LINDENAU, Matilias. Ebd. s. 71.

[48] Der Poalei Zion gehörten auch andere einflussreiche Persönlichkeiten wie der sozialistische Zionist Beer BOROCHOW und David BEN-GURION an. Vgl. Ebd. s. 13.

[49] Zitat nach LINDENAU, Matilias. Ebd. s. 73.

[50] Zitat nach LINDENAU, Matilias Ebd s 75

[51] Vgl. LINDENAU, Matilias. Ebd. s. 71.

[52] Vgl MELZER, Wolfgang. Ebd. s. 57.

[53] Vgl. MELZER, Wolfgang. Ebd. s. 5 Iff. In den Niederlanden gab es zu Beginn des 20. Jahrhundert eine große tolstojanische Bewegung, vgl. DE LANGE, Dennis. Ebd.

[54] Vgl. DE LANGE, Denms. Ebd. s. 36.

[55] Zitiert nach DE LANGE, Dennis. Ebd. s. 36.

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Der Kibbutz. Eine gelebte Utopie?
Untertitel
Die Kibbutzidee und ihre Umsetzung von der ersten Alija bis in die 70er Jahre
Hochschule
Universität Stuttgart  (Historisches Institut)
Veranstaltung
Geschichte Israels
Note
2,0
Autor
Jahr
2018
Seiten
30
Katalognummer
V438061
ISBN (eBook)
9783668796218
ISBN (Buch)
9783668796225
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kibbutz, Israel, Zionismus, Sozialismus, Utopie, Tolstoi, Ideengeschichte
Arbeit zitieren
Sascha Dankudis (Autor:in), 2018, Der Kibbutz. Eine gelebte Utopie?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/438061

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