Linguistische Variationen im Sprachgebrauch von Jugendlichen

Die Reflexion des Sprachgebrauchs unter Einflüssen des Kiezdeutsch


Bachelorarbeit, 2013

46 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Forschungsstand, Forschungsfrage, Forschungsmethode

3. Linguistische Konzeptionen jugendsprachlicher Varietäten
3.1. Language Awareness
3.1.1. Ursprung des Konzepts
3.1.1.1. Voraussetzung für Language Awareness
3.1.2. Definition von Language Awareness
3.1.3. Language Awareness als Grundlage für Spracheinschätzung
3.2. Eine Sprache - viele Ausprägungen
3.2.1. Sprachliche Varietäten
3.2.1.1. Das Standarddeutsche
3.2.1.2. Der Substandard
3.2.2. Die dialektalen Varietäten
3.2.3. Das Spannungsfeld zwischen der standardisierten Varietät und den nicht standardisierten Varietäten
3.2.3.1. Wie entstehen unterschiedliche Sympathiewerte für Dialekte?
3.3. Problematik der jugendsprachlichen Varietäten
3.3.1. Bewusstsein von Jugendlichen über ihre Sprache
3.3.2. Das Phänomen Kiezdeutsch
3.3.3. Kiezdeutsch: Varietät, Stil oder Dialekt?
3.3.3.1. Kiezdeutsch als Varietät

4. Empirische Instrumente
4.1. Konzept meiner Studie
4.1.1. Die Bedingungen
4.1.2. Der Ablauf
4.2. Bevorzugte Sprachvarietäten der Jugendlichen
4.3. Sprachbewusstsein der Jugendlichen
4.3.1. Einschätzung: Was ist gutes Deutsch?
4.3.2. Bewusstsein über regionale Varietäten: der „Minden-Slang“
4.3.3. Bewertung: Testsätze einordnen
4.3.4. Spracheinschätzung am Beispiel: Kiezdeutsch
4.4. Reflexion der Interviews

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Viele mögens asozial nennen wie die Jugendlichen heutzutage sprechen, für unsisses irgendwie normal geworden “ (Interview 1, Z. 68-69)

Diese Bachelorarbeit befasst sich mit Jugendsprachvarietäten, genauer gesagt mit linguistischen Variationen im Sprachgebrauch von Jugendlichen. Ausgehend davon wird das Bewusstsein thematisiert, welches Jugendliche selbst für verschiedene Sprachvarietäten entwickeln.

Jugendsprache wandelt sich - die Zeiten, in denen „geil“ als Neuaufnahme in das Jugendsprachrepertoire aufgenommen wurde, sind lange vorbei. Mittlerweile entwickeln sich Subvarietäten der Jugendsprache immer schneller und vielfältiger: ein Beispiel, welches auch intensiv in dieser Arbeit diskutiert wird, ist das von Heike Wiese in Berlin untersuchte Kiezdeutsch.

Deutsch als Sprache verändert sich. Durch Medieneinflüsse, Migration und das Verschwimmen der einzelnen Varietäten. Jugendsprache wird, interessanterweise, meist nur als Beispiel für eine negative Sprachentwicklung angesehen (vgl. Neuland 2000: 107), Kiezdeutsch im Speziellen als Beweis für mangelnde Integration und Sprachvermischung.

Über die Köpfe der Jugendlichen hinweg wird viel geschrieben, gesagt und ge- forscht. In dieser Bachelorarbeit versuche ich, durch Interviews mit Jugendlichen herauszufinden, was sie selbst über ihre Sprache, andere Varietäten und Kiezdeutsch denken.

Ziel ist es, durch die Beschäftigung mit Language Awareness und verschiedenen Sprachvarietäten eine Einordnung zu geben, wie Varietäten und Kiezdeutsch von Jugendlichen gesehen werden. Abschließend eröffnen sich weitere Fragestellungen, die das Feld öffnen.

2. Forschungsstand, Forschungsfrage, Forschungsmethode

Jugendsprache ist seit den Nachkriegsjahren (vgl. Schlobinski 2002: 16) ein Phänomen, welches intensiv und breit untersucht wird. Liest man alte Publikatio- nen, sind nach heutiger Einschätzung fehlerhafte Erkenntnisse, Vorurteile und Generalisierungen an der Tagesordnung. Der Diskurs hat bis heute einen starken Wandel vollzogen. Es wurde erkannt, dass es nicht eine Jugendsprache gibt, sondern dass der Gegenstand vielschichtiger ist (vgl. Neuland 2000: 114). Mittler- weile ist das Thema umfassend und erschöpfend aufgearbeitet und wird fortlaufend weiter untersucht.

Jugendsprache ist das theoretische Objekt dieser Arbeit und wird untersucht, indem ich es mit mit den Theorien der Language Awareness und der damit ver- bundenen, für meine Arbeit wichtigen Schwerpunktsetzung auf Wahrnehmung von Jugendlichen auf Sprache in Verbindung bringe. Die Language Awareness soll den inhaltlichen Kern bilden, um den die restliche Arbeit aufgebaut wird.

Ich habe nun versucht, auch mit der Konzentration auf vergleichsweise aktuelle Studien, meine Arbeit auf neue Konzepte zu lenken. Dazu gehört, dass ich die subkulturelle Varietät „Kiezdeutsch“ mit einbezogen habe. Sie wird zwar schon länger unter verschiedenen Namen untersucht, ist aber erst durch die 2012 er- schienene Publikation der Sprachforscherin Heike Wiese außerhalb der Forschung publik gemacht worden. Mich hat interessiert, wie Jugendliche Kiezdeutsch wahrnehmen. Des Weiteren habe ich versucht, Kiezdeutsch einzuordnen, da Heike Wiese es mit ihrem provokativen Titel „Kiezdeutsch: Ein neuer Dialekt entsteht“ veranschlagt. Kann der Titel als reine Provokation oder als Krönung der allmählichen Neubesetzung der Dialekte gelten?

Im ersten Teil dieser Arbeit steht eine umfassende Theorie voran, danach stelle ich meine eigene Studie vor. Zu diesem Zweck habe ich elf heterogene Jugendliche im dialektfreien, kleinstädtischen Raum mit Hilfe von Leitfadeninterviews befragt.

Ziel ist es, erst allgemein die linguistischen Variationen von Jugendlichen zu untersuchen: Wie sehen die Variationen aus, die sie benutzen - und inwiefern ist ein Bewusstsein für die Nutzung des Standarddeutschen,„gängiger“Jugendsprache(n) und Kiezdeutsch vorhanden?

Besonders der letzte Punkt interessierte mich außerordentlich, da Heike Wiese in ihrer Publikation feststellt, es handele sich um einen Dialekt, der sich langsam aus den größeren multiethnisch geprägten Städten über den gesamten deutschen Sprachraum verbreitet (vgl. Wiese 2006: 8). Der Ort meiner Befragung ist prädestiniert dafür, das zu überprüfen: kleinstädtisch, aber multiethnisch. Ich schließe die folgende Forschungsfrage an, die ich anhand der Antworten der Ju- gendlichen in den Interviews beantworten möchte: „Wie wird Kiezdeutsch bewertet? Ist es bekannt, gehört es zum eigenen Sprachrepertoire oder wird es stigmatisiert?

3. Linguistische Konzeptionen jugendsprachlicher Varietäten

3.1. Language Awareness

Da die Language Awareness mit anderen Konzepten in Verbindung gebracht werden soll, stelle ich dieses Konzept voran.

Language Awareness beschreibt, wenn man es ins Deutsche übersetzt, Sprachbewusstsein und Sprachwissen, aber auch Sprachreflexion. Für die nähere Beschäftigung mit der Einschätzung von Sprachvarietäten oder -stilen ist sie eine unabdingbare Forschungsgrundlage, da sie die Bewertung und das Bewusstsein von Sprechern1 auf Sprache untersucht.

3.1.1. Ursprung des Konzepts

Entwickelt wurde das Konzept von Eric Hawkins. Es stammt ursprünglich aus der englischen Muttersprachendidaktik (vgl. Fehling 2005: 44). Das Ursprungskon- zept von Hawkins ist eine noch sehr praxisnahe Idee, welche er ursprünglich entwickelt hat, um wachsende sprachliche Schulprobleme in Großbritannien zu bekämpfen. Das Konzept war stark auf die Anwendung im schulischen Kontext zugeschnitten und sollte den Lehrern helfen, sprachliche Probleme ihrer Schüler sinnvoll aufzuarbeiten (vgl. Hawkins 1984: 5). Seine ursprüngliche Definition war noch sehr vage, doch er betont in ihr bereits, dass sie nah an der Linguistik sei und es Überschneidungen gebe, da sie von der Linguistik nicht ganz abzugrenzen sei. In beiden Fällen geht es um das Nachdenken und Bewusstwerden über Sprache, nur dass bei der Language Awareness nicht die Sprache, sondern das Bewusstsein an erster Stelle steht. Außerdem bezieht Hawkins sich bereits sehr stark auf das, was Language Awareness ausmacht: Bewertung und Reflexion von Sprache. Seiner Meinung nach gibt es Dialekte, die besser oder schlechter bewertet werden und so zur Distinktion führen und fordert, ein Bewusstsein für sprachliche Kom- petenzen, angepasst an den jeweiligen Dialekt, zu schaffen (vgl. Hawkins 1984: 72). Auch dadurch, dass er die Begriffe Slang, Varietät und Dialekt explizit und ausführlich definiert (vgl. Hawkins 1984: 173-175), stellt er ein Bindeglied zwischen der klassischen Dialektologie und dem Sprachbewusstsein her. In seiner Publikation erscheint es fast so, als hätte er die Dialektologie der damaligen Zeit erweitert.

Dieser Ansatz ist für die vorliegende Arbeit als Ursprungskonzept wichtig, auch wenn bei Hawkins die Language Awareness an sich noch unzureichend für die Arbeit mit der hier gestellten Forschung definiert ist. Dennoch wird der Zusam- menhang zwischen verschiedenen Sprachvarietäten und deren Bewertung deutlich.

3.1.1.1. Voraussetzung für Language Awareness

Was bedeutet Bewusstsein (=Awareness) in Bezug auf Sprache? Bewusstsein wird als eine Reflexionsebene verstanden, die über das Verhalten und die Verwendung von Sprache hinausgeht. Deswegen ist die Language Awareness eine spezifische Art von Wissen über Sprache und Kommunikation (vgl. Knapp-Potthoff 1997: 11- 14).

3.1.2. Definition von Language Awareness

Language Awareness zu definieren ist schwierig. Die Problematik zeigt sich bereits darin, dass eine sprachgetreue Übersetzung ins Deutsche kaum möglich ist, da der Ausdruck in verschiedenen Publikationen unterschiedlich, beispielsweise mit Sprachbewusstsein, Sprachreflexion oder Sprachaufmerksamkeit übersetzt wird (vgl. Gürsoy 2010: 1). Deshalb wird in dieser Arbeit, wie in vielen anderen Publikationen zu diesem Thema auch, der englische Begriff der Language Awareness beibehalten.

Eine Definition, die noch sehr offen ist, jedoch eine erste Idee des Begriffs vermittelt, ist von Donmall entwickelt worden: „Language Awareness is a person's sensitivity to and conscious awareness of the nature of language and its role in human life“ (Donmall 1985: 7). Hier wird der Kern des Gegenstands beschrieben. Donmalls Definition betont den Punkt, der sich auch „Intuitive Awareness“ nennt. Es bedeutet, das angenommen wird, dass Sprecher intuitive Fähigkeiten haben, Äußerungen und Sätze (ihrer Muttersprache) in ihrer sprachlichen Korrektheit, Akzeptierbarkeit und Angemessenheit zu erkennen (vgl. Fehling 2005: 46).

Language Awareness soll dazu dienen, eine aktive Akzeptanz von sprachlicher Vielfalt herzustellen und sprachanalytische Fähigkeiten zu stärken. Sie soll aber auch sprachliches Handeln im soziokulturellen Kontext bewusst machen, metasprachliche Kommunikation entwickeln und das Verhältnis von Sprache und Manipulation kritisch durchleuchten (vgl. Gürsoy 2010: 2).

Garrett und James haben die Language Awareness in fünf Dimensionen differen- ziert, die jeweils unterschiedliche Funktionen des Gegenstands ausmachen (vgl. Garrett/James 1995: 12-20). Die fünf Dimensionen werden in dieser Arbeit nicht einzeln vorgestellt, da sie sich zum Teil wieder auf den schulischen Kontext beziehen und die letzte Dimension (Performanz) in der Forschung sehr umstritten ist (vgl. Fehling 2005: 50-51). Die Dimension, welche für diese Arbeit wichtig ist, ist die kognitive Dimension. Sie beschreibt, dass Language Awareness einerseits sprachliches Wissen beschreibt, aber in jedem Sprecher eine „kognitive Ausstattung“ vorhanden ist, die ein Gefühl für die Richtigkeit von Grammatik, Sprachaufbau und Struktur vermittelt (vgl. Fehling 2005: 46). So ist sie auch eng mit der Definition von Donmall verbunden.

Bereits Kinder verfügen über viel intuitives Wissen über ihre Muttersprache und eventuelle frühe Zweitsprachen, auch wenn dies im frühkindlichen Alter noch nicht bewusst verfügbar ist (vgl. Fehling 2005: 54). Das ändert sich mit dem Alter, Jugendliche beispielsweise können bereits differenziert über Sprachunterschiede nachdenken (vgl. Neuland 12008: 138).

3.1.3. Language Awareness als Grundlage für Spracheinschätzung

Es muss ein Bewusstsein dafür vorhanden sein, dass „Sprache nicht nur als sprachlich-kommunikatives System und als Lerngegenstand, sondern auch als gesellschaftlich-politisches Phänomen im Kontext von Mehrsprachigkeit und Multikulturalität betrachtet [werden muss]“ (Gnutzmann 2003: 337). Das heißt, dass Sprache mehr als nur ein Kommunikationsmittel ist: Individuen, aber auch ganze Gruppen in der Gesellschaft definieren sich über Sprache.

Language Awareness ist als Sprachbewusstsein natürlich die Grundlage dafür, wie wir Sprache einschätzen und definieren. Erst, wenn man sich seiner Sprache bewusst ist, kann man sie und andere Sprachen, Sprachstile etc. bewerten.

Eine Bewertung anderer Sprachvarietäten erfolgt unterbewusst. Doch was hat sie für Folgen?

Positive Bewertung einer Sprachvarietät führt zu einer positiven Auffassung deren Sprecher. Doch andersherum führt eine negative Bewertung von bspw. Dialekten zu einer negativen Bewertung der Sprecher (vgl. Wiese 2012: 169). Diesem Um- stand sollte man sich bewusst sein, bevor der Einstieg in den sprachlichen Teil dieser Arbeit übergeht.

3.2. Eine Sprache - viele Ausprägungen

Um zu untersuchen, wie und wo sprachliche Unterschiede in verschiedenen Gruppen zu finden sind, muss man sich zunächst über das Konzept „Sprache“ bewusst werden.

Die traditionelle Dichotomie der Sprachwissenschaft besagt, dass es einerseits die Standardsprache und andererseits die Dialekte gibt. Zwischen Standardsprache und den Dialekten lässt sich noch die Umgangssprache einordnen (Hartmann 1990: 41-42). Dies ist eine sehr grobe und unzureichende Einteilung, die noch tiefer gehend aufgeschlüsselt werden muss. Denn sonst würde das bedeuten, dass jeder Sprecher entweder Dialekt, Standard oder die von Hartmann so bezeichnete Umgangssprache spräche.

Dass es eine einheitliche Sprache „Deutsch“ im engeren Sinne nicht gibt, ist in der Forschung unbestritten. Jochen Bär geht davon aus, dass es „'das' Sprachensystem des Deutschen in der Realität nicht gibt“ (Bär 2000: 22). Das Deutsche ist keine in sich geschlossene Gesamtheit, sondern vielmehr eine Gesamtheit von Subsystemen, die er als Varietäten bezeichnet (vgl. Bär 2000: 22). Es gibt einer- seits die standardisierten Varietäten wie die Standardsprache und nicht standardi- sierte Varietäten wie Dialekte und Umgangssprachen (vgl. Ammon 2006: 101). Sprache variiert, und das in verschiedenen Kriterien. So können ein unterschiedli- ches Vokabular genutzt und Einflüsse aus anderen Sprachen übernommen werden, sowie Grammatik und Aussprache variieren. Sowohl Bär als auch die Sprachwissenschaftlerin Eva Neuland sind der Ansicht, dass alles, auch die Standardsprache, grundsätzlich als Varietäten zu bezeichnen seien (vgl. Neuland 12008: 136).

3.2.1. Sprachliche Varietäten

Varietäten sind Subsysteme der Sprache (vgl. Bär 2000: 22), die durch sprachliche und außersprachliche Merkmale gekennzeichnet sind. Man spricht jedoch nur dann von einer Varietät, wenn die untersuchte Sprachform eindeutige sprachliche Gemeinsamkeiten in der Grammatik oder im Wortschatz aufweist (vgl. Ammon 1995: 9-11). Das heißt, das neben der rein sprachlichen Andersartigkeit auch soziale und funktionale Merkmale hinzutreten, wie die Situation (z.B. formell oder informell) oder der unterschiedlich angemessene Sprachgebrauch innerhalb verschiedener Gruppen (z.B. ein Gespräch unter Freunden oder ein Kundengespräch) (vgl. Neuland 22008: 67).

In der Varietätenlinguistik definiert Coseriu (vgl. Coseriu 2007: 141) drei große Varietätenklassen nach ihrer Funktion:

- diatopische/dialektale Varietäten
- diatrastische/soziolektale Varietäten
- diaphasische/situative Varietäten

Diese Varietätenebenen verlaufen nicht parallel, sondern können untereinander kombiniert werden mit jeweils unterschiedlich verlaufenden Grenzen.

Eva Neuland ergänzt diese Varietätenklassen 2008 um eine vierte Dimension, die „diachronische Varietät“ (Neuland 22008: 67), die allerdings sprachhistorische Entwicklungen beschreibt und deshalb für diese Arbeit außer Acht gelassen werden kann. Neuland erwähnt die Kombinationsmöglichkeiten der Varietätenebenen nicht mehr.

Zwei Punkte müssen in Coserius Modell näher erläutert werden. Zum einen ist der dritte Punkt eigentlich ein Unterpunkt der anderen zwei, da situativ keine - in dem Sinne - neue Varietät gesprochen wird, sondern der Sprecher auf eine andere dialektale oder soziolektale Varietät zurückgreift und diese situativ anwendet.

Zum anderen wird die dialektale Varietät ausschließlich geographisch definiert, was problematisch erscheint. Natürlich ist es sinnvoll, eine rein geographische Varietät aufzulisten, doch kann eine Varietät niemals ausschließlich geographisch entstehen. Dazu ist der Dialektbegriff derart weit gefächert, dass Verständnisdifferenzen entstehen können. Coseriu gibt zwar an, dass sich die Varietäten vermischen können, jedoch ist die Dreiteilung überflüssig, wenn immer alle drei Varietäten in Betracht gezogen werden müssen.

Alles in allem ist diese Einteilung von Varietäten in Klassen für die hier diskutierte Fragestellung in dieser Form nicht hilfreich. Neuland sagt zum Beispiel auch, dass das Standarddeutsche eine Varietät sei (Neuland 12008: 136) - wo ist sie dann in dieser Einteilung zu finden? Auch der zunehmend wichtige

Substandard kann in dieser Einteilung nicht angemessen erfasst werden. Die Problematik, dass situative, geographische und situative Kontexte unterschiedlich zusammenfallen können und sich gegenseitig beeinflussen, wird zwar erwähnt, aber in der Anwendung nicht näher beschrieben. Theoretisch ist dieses Modell gut, allerdings für Grenzfälle in der Sprache nur bedingt anzuwenden.

Ich plädiere für meine Arbeit dafür, dass man nicht die Varietäten in vordefinierte Klassen einordnen, sondern den umgekehrten Weg einschlagen sollte. Die Varietät sollte als solche definiert werden: In welchem Grad ist sie regional oder soziolektal geprägt? In welchen Situationen und von welchen Sprechern wird sie angewandt? So erreicht man ein differenziertes Bild. Denn das sollte der Sinn der Einteilung in Varietäten sein.

Warum auf einer genaueren Einteilung so beharrlich an dieser Stelle bestanden wird, kann man kurz erklären: Natürlich ist es sinnvoll, zum Teil zu generalisie- ren, um nicht eine zu kleine Einteilung zu generieren. Doch eine kleine Einteilung soll keinesfalls das Ergebnis sein: Es sollen am Ende nicht mehr Varietäten entste- hen, sie sollen nur in sich genauer definiert sein. Denn eine Generalisierung führt oft zu falschen Rückschlüssen. Trotzdem bleibt der Fokus weiterhin so, dass Varietäten eigenständige Sprachsysteme innerhalb der deutschen Sprache sind.

3.2.1.1. Das Standarddeutsche

Das, was wir im Deutschen als Standardsprache bezeichnen, weicht in den meisten Fällen von dem ab, was im Alltag wirklich gesprochen wird. Auch Dieter Hartmann bezeichnet den Standard als eine Varietät und definiert ihn so, dass er den Nutzen hat, Sprechern und Schreibern einer großen Sprachgemeinschaft eine überregionale Verständigung zu ermöglichen. Die Standardvarietät hat einen ho- hen Prestigewert und genießt eine hohe Sprachloyalität, die ihr entgegen gebracht wird (vgl. Hartmann 1990: 42). Die Standardvarietät zeichnet sich dadurch aus, dass sie sowohl mündlich gesprochen wird als auch verschriftlicht ist. Außerdem besitzt sie, wie schon oben erwähnt, eine überregionale Geltung (gerade in Abgrenzung zu den lokalen Varietäten) und hat ihre eigene Sprachstruktur, die, in Unterschied zu nicht standardisierten Varietäten, in Grammatiken und Wörterbüchern erfasst ist (vgl. Hartmann ebd.).

3.2.1.2. Der Substandard

Der Substandard lässt sich einordnen als Sprachvarietät, die sich graduell zwischen Dialekt und Standard bewegt (vgl. Neuland 12008: 137). Sie wird immer mehr zur Sprachvarietät, die von den meisten Menschen in Deutschland - je nach Region und sozialem Umfeld - gesprochen wird.

„Tatsächlich muss man wohl davon ausgehen, dass es so etwas wie eine bairische, schwäbische oder auch Hamburger Variante des Standarddeutschen gibt, die im jeweiligen regionalen Kontext das höchste Prestige trägt und die in allen offiziellen Situationen angemessen ist.“ (Auer 1997: 36)

Regional geprägte Sprachvarietäten ersetzen die Standardsprache also in funktionaler (also anwendungstechnischer) Hinsicht (vgl. Smits/Kloots 2011: 303).

3.2.2.Die dialektalen Varietäten

Was den Dialekt als Varietät ausmacht, sind „eigenständige Systemstrukturen vor allem auf der Ebene der Lautung, der Wortbildung und dem Wortschatz, aber auch der Syntax“ (Neuland 12008:135). Sie existieren aber, im Gegensatz zum Stan- darddeutschen, primär in mündlicher Form und werden nicht verschriftlicht (vgl. Hartmann 1990: 42). Der Dialektbegriff wird sehr unterschiedlich definiert und ausgedehnt gefasst. Dialekte wurden in der früheren Forschung (und in wenigen aktuellen Publikationen) regional verstanden, so wie Schwäbisch oder Sächsisch (vgl. Wiese 2012: 129). Die dialektale Varietät beschränkte sich also auf eine Region, in der ein bestimmter Dialekt verwendet wurde und die sich somit von anderen Regionen abgrenzte. Diese Dialekte werden heute als Basisdialekte be- zeichnet. Es gibt sie noch, allerdings in weitaus geringerem Maße als früher.

Heutzutage kann man diese simple Einteilung in dieser Form nicht mehr befürworten, denn das setzt eine homogene Region mit einem homogenen Sprecheranteil voraus. Diejenigen Sprachwissenschaftler, die den Dialektbegriff so eng fassen, kommen nun zwangsläufig zu dem Schluss, es würde ein Dialektrückgang stattfinden (vgl. Hartig 1981:11).

Das ist nicht der Fall, doch man muss, genauso wie man den Sprachwandel des Deutschen immer mit berücksichtigen muss, auch den Dialektwandel vor Augen haben. Dass die Basisdialekte zurückgehen, ist richtig (vgl. Maitz 2004: 23). Doch seit den 1980er Jahren wird der Dialektbegriff nicht nur horizontal (also geographisch) definiert, sondern auch vertikal: Das heißt, soziale Faktoren werden mit einbezogen (vgl. Wiese 2012: 131). Das können fremdsprachliche Einflüsse ebenso wie eine hohe Mobilitätsrate sein (vgl. Hartig 1981: 10). Der soziale Faktor, der früher noch den Soziolekten vorbehalten war, fließt also immer stärker in den Dialektbegriff mit ein.

Von Polenz sagt, dass an die Stelle des regionalen Sprachgebrauchs nun ein sozialer tritt. Man kann ihn bezeichnen als einen regionalspezifischen allgemeinen neuen Substandard (v. Polenz 1999: 459). Dessen hohe Sprecherzahlen, welche die Dialektsprecher mehr und mehr ablösen, lassen die Grenzen verschwimmen. Dieses Phänomen erkennt auch Bär, der anmerkt, dass die Grenzen zunehmend unscharf werden (vgl. Bär 2000: 26).

Das ist einerseits notwendig, gerade weil die immer größere Heterogenität des Deutschen erfasst werden muss. Andererseits müssen Einteilungen irgendwo Grenzen haben, um den gewünschten Gruppierungs/- und Abgrenzungseffekt zu bewahren. Doch der Dialekt muss trotz aller Einflüsse vordergründig regional definiert werden.

In der Sprachbewertung hat das zur Folge, dass momentan oft Unklarheiten und Irrtümer über die jeweilige Bedeutung des Begriffs 'Dialekt' vorhanden sind. Fast jede Publikation hat eine eigene Definition von Dialekt. Über dieses Phänomen muss man sich im Klaren sein. Deswegen erscheint es präziser, mit dem Varietä- tenbegriff zu arbeiten und die jeweilige Varietät nach ihren Merkmalen zu definieren.

3.2.3.Das Spannungsfeld zwischen der standardisierten Varietät und den nicht standardisierten Varietäten

Was sowohl Neuland als auch Wiese in ihren Definitionen zur Standardsprache berücksichtigen, ist ihr Ursprung bzw. ihre soziale Verortung. Während Neuland das Standarddeutsche am Rande als „oberschichtlich“ (Neuland 22008: 67) einordnet, geht Wiese ausführlicher auf diesen Punkt ein: Ihrer Meinung nach ba- siert das Standarddeutsche auf einer hochdeutschen (deshalb auch „Hochdeutsch“ genannten) Varietät und hat sich während des 17./18. Jahrhunderts herausgebildet, und zwar zunächst als Kanzleisprache. Standarddeutsch ist also nie „aus dem Volk heraus“ entstanden, sondern „als die gesprochene Sprache einer neuen Mittelschicht“ (Wiese 2012: 132). Was hat das für Folgen in der Bewertung und Benutzung des Standarddeutschen?

Der Standard wurde also in erster Linie nie regional, sondern sozial festgelegt, da er als abgrenzender Sprachgebrauch einer bestimmten sozialen Schicht entstanden ist. Dadurch, dass Standarddeutsch einer höheren Schicht zugeordnet wurde, wurden die Varietäten des Volkes abgewertet (vgl. Wiese 2012: 133). Wiese geht in ihren Überlegungen noch weiter und bezeichnet die Festlegung des Standards auch als „Mittel zur sozialen Statusmarkierung und als Instrument zur sozialen Diskriminierung“ (Wiese nach Voeste 1999: 133). Dieser Meinung kann man kritisch gegenüberstehen, da der Standard doch in erster Linie aus nützlichen Gründen festgelegt wurde. Es ist nicht abzustreiten, dass eine soziale Markierung und eine Abwertung der verschiedenen Schichten mit einher geht, doch dass der Standard unter anderem zu diesem Zweck eingeführt wurde, erscheint nicht folge- richtig. Wieses Formulierungen implizieren eine einseitige, negative Bewertung des Standards. Denn auf der anderen Seite ist die Festlegung eines Standards, den jede Person versteht und der überregional gelehrt wird, unabdinglich. Darauf geht sie nicht ein.

Auch außer Acht gelassen werden neuere Ansätze, die auf den Rückgang des Standarddeutschen als „Leitvarietät“ eingehen. Damit ist die Entwicklung gemeint, die in dieser Stelle bereits unter Punkt 3.1.2. als „Substandard“ erklärt wurde. Bär vermutet, dass sich die deutlich abgehobene Anerkennung, so wie sie ihr in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch entgegengebracht wurde, relativiert.

„In dem Maße, in dem sich Dialekt- oder Regiolektsprecher ihr annähern und sie - adaptierend - selbstständig realisieren, verringert sich [die] Qualität [der Standardsprache] als sprachliches Ideal, als absoluter Maßstab 'guten' und 'richtigen' Sprechens (wenngleich nicht so sehr, dass sie ihres Leitbildcharakters ganz verlustig ginge; die Rede kann hier allenfalls von einer Relativierung, nicht von einer völligen Planierung der Prestigeverhältnisse sein).“ (Bär 2000: 23)

Die Grenzen verschwimmen also immer mehr, so dass sich Dialekte, Umgangs-

[...]


1 Wenn die männliche Form im Text verwendet werden, sind selbstverständlich auch alle Sprecherinnen, Schülerinnen etc. angesprochen. Die Verwendung der rein männlichen Form dient lediglich der besseren Lesbarkeit.

Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Linguistische Variationen im Sprachgebrauch von Jugendlichen
Untertitel
Die Reflexion des Sprachgebrauchs unter Einflüssen des Kiezdeutsch
Hochschule
Universität Bremen  (Fachbereich 10: Germanistik)
Veranstaltung
Abschlussmodul
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
46
Katalognummer
V437573
ISBN (eBook)
9783668777309
ISBN (Buch)
9783668777316
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kiezdeutsch, Jugendsprache, slang, Dialekt, Heike Wiese, Soziolinguistik, qualitativ, Sprachgebrauch, Migration, Integration, Veränderung der Sprache, Germanistik
Arbeit zitieren
Marlene Schulze (Autor:in), 2013, Linguistische Variationen im Sprachgebrauch von Jugendlichen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/437573

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