Zwischen Konstitutionalismus und Absolutismus. Die Griechische Verfassungsfrage 1821-1832


Hausarbeit, 2017

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Wurzeln des griechischen Konstitutionalismus

3 Johannes Kapodistrias: Von der Republik zur Autokratie

4 Griechenland nach 1832 - Ein Sieg des Absolutismus?

5 Zusammenfassung

6 Quellenverzeichnis

7 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

In der vorliegenden Arbeit möchte ich mich mit der ideengeschichtlichen Evolution der konstitutionellen Bewegung in Griechenland sowohl in Hinblick auf deren theoretische Grundlagen als auch in der verfassungsgeschichtlichen Praxis im Spannungsfeld der antinomischen politischen Konzepte des repräsentativ-demokratisch fundierten Republikanismus sowie des präsidial bzw. monarchisch verfassten Absolutismus vor dem geschichtlichen Hintergrund der turbulenten Epoche seit dem Ausbruch der Griechischen Revolution 1821 bis zur Machtübernahme der Wittelsbacher-Monarchie im Jahr 1832 auseinandersetzen. Hierbei soll insbesondere die Distinktion spezifischer Entwicklungsstufen und Phasen in der Ausgestaltung der individuellen Kompetenzbereiche der exekutiven Verfassungsorgane im sorgsam austarierten Spannungsfeld von Kompetenzdiffusion bzw. Zentralismus von den präkonstitutionellen Staatsentwürfen des 18. Jahrhunderts über die „konstitutionelle Phase“ der griechischen Revolution bis hin zur schlussendlichen Installation einer monarchischen Regierungsspitze durch die westeuropäischen Garantiemächte im Vordergrund stehen. Anhand der Analyse des konkreten Verfassungsentwicklungsprozesses soll die dabei vielfach postulierte Diskontinuität bzw. Inkompatibilität autoritärer Tendenzen im konstitutionstheoretischen Denken der griechischen Revolutionäre mit der zentralistischen Herrschaftskonzeption der sukzessiven monarchischen Epoche1 hinterfragt und durch eine abschließende Synopse der subsequenten historischen wie konstitutionellen Entwicklung in Griechenland kontextualisiert werden.

Mithilfe der paradigmatischen Fokussierung auf den Zeitraum der Präsidentschaft des Johannes Kapodistrias (1828-1831) soll schließlich die Leitfrage nach den politischen wie konzeptionellen Gründen und Ursachen des vorläufigen Scheiterns der republikanisch motivierten konstitutionellen Bestrebungen der griechischen Revolutionäre in der Auseinandersetzung mit den innergriechischen absolutistischen Tendenzen und subsequent den monarchischen Bestrebungen der europäischen Mächte des metternichschen „Konzerts“ der Pentarchiemächte bis zum „Epochenjahr“ 1832 analysiert werden. Als inhaltliche Basis der Untersuchung soll hierbei die vergleichende Analyse der divergierenden Verfassungstexte2 der konstitutionellen Entwürfe der revolutionären Phase, ausgehend von den „vorläufigen Verfassungen“ von Epidauros (1822) und Astros (1823) sowie deren anschließender Vergleich mit dem 1827 als Kulminationspunkt dieser Entwicklung entstandenen „Syntagma von Troizen“ als Rezeptionsdokument des aufkommenden Absolutismus3 in Griechenland dienen. Ihren Ausgang soll die Untersuchung dabei von der Betrachtung der konkreten Ursachen des Aufkommens der konstitutionellen Bewegung in Griechenland nehmen.

2 Die Wurzeln des griechischen Konstitutionalismus

Die Erforschung der Genese und sukzessiven Evolution des griechischen Konstitutionalismus als phasenweise dominanter Problematik innerhalb des gesellschaftspolitischen Diskurses der liberalen Vordenker und intellektuellen Wegbereiter des Unabhängigkeitskrieges sowie der sukzessiven revolutionären griechischen Staatsgründung bildet als sog. „Verfassungsfrage4 “ eine fundamentale Kontroverse der historiographischen Auseinandersetzung mit der griechischen Revolution. Die grundlegende Divergenz in der fachdiskursiven Bewertung der konstitutionellen Bewegung in Griechenland hinsichtlich ihres Einflusses auf die politische Entwicklung des revolutionären Staatswesens liegt hierbei zunächst in der Heterogenität ihrer ideellen Wurzeln, ihrer gesellschaftstheoretischen Zielsetzung mit teilweise widerstreitenden Positionen und Meinungen, jedoch ebenso wesentlich in der ambivalenten Beurteilung der vielschichtigen politischen Rolle ihrer führenden Exponenten in der sog. „konstitutionellen Phase“ der Griechischen Revolution begründet.

Diese pluralistische Deutungsvielfalt speist sich aus dem genuinen Entstehungskontext der „griechischen Variante“ des europäischen Konstitutionalismus, wie sie sich seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert im literarischen Diskurs des aufkeimenden griechischen Freiheitsstrebens zu einem polyvalenten Amalgam konstruiert hatte. Anhand der Analyse der historischen Genese dieses konstitutionellen Aspektes des revolutionären Diskurses soll im Folgenden zunächst die Evolution der „Verfassungsfrage“ ausgehend von den intellektuellen Austausch- und Neuerungsprozessen der geistigen Väter des griechischen Konstitutionalismus ab dem späten achtzehnten Jahrhundert bis hin zur Formulierung konkreter Verfassungsentwürfe im Rahmen verfassungsgebender Nationalversammlungen verdeutlicht und hierbei Gemeinsamkeiten und Differenzen in der jeweiligen Konzeptualisierung des dort geäußerten Staatsverständnisses sowie der Skizzierungen konstitutioneller Strukturen die Heterogenität dieser gesamtgesellschaftlichen Entwicklung aufgezeigt werden.

Wenngleich sich die jüngere griechische Geistesgeschichte seit dem 15. Jahrhundert auf wiederholte Ansätze zu einer prototypischen Rationalisierung des Staatswesens in Gestalt zunächst rudimentärer konstitutioneller Gesellschaftsentwürfe berufen kann5, so sind doch die eigentlichen Ursprünge des frührevolutionär-republikanischen Konstitutionalismus im Wirken der „Griechischen Aufklärung6 “ aber der Mitte des 18. Jahrhunderts zu verorten. Dieses in der rezeptiven Auseinandersetzung mit den Werten der westeuropäischen Aufklärung entstandene gesellschaftliche Phänomen nahm seinen Ausgang als Adaptionsprozess der intellektuellen wie gesellschaftspolitischen Errungenschaften und Ideale der Französischen Revolution in einen griechischen Kontext. Im Gefolge der revolutionären Eroberungskriege hatten sich die Forderungen nach republikanischer Selbstbestimmung auch auf die aus westeuropäischer Sicht „peripheren“ europäischen Balkanprovinzen des osmanischen Reiches ausgedehnt und dort insbesondere in Griechenland ein dankbares Aufnahmepublikum in Gestalt einer wirtschaftlichen erfolgreichen, sozial aufstrebenden Gesellschaftsschicht gefunden, welche sich im ausgehenden 18. Jahrhundert in zunehmenden Maße politisch zu artikulieren begann. Als wirkmächtigste Rezipienten der revolutionären Ideale erwies sich hierbei eine Gruppe einflussreicher Schriftsteller und Nationaldichter, welche mit ihrem von den aufklärerischen Ideen des „Diaphotismos7 “ durchdrungenen literarischen Schaffen erst die Grundlage für die Entstehung eines griechischen Nationalbewusstseins schufen. Wesentlich beeinflusst von den Vordenkern der französischen Revolution konstruierte diese Gruppe, zu deren bedeutendsten Vertretern der Schriftsteller Adamantios Korais sowie der ikonische Poet und Freiheitskämpfer Rhigas Pheraios gehören, neben dem nationalistischen Kernelement des Appells zum Kampf für die Wiedergewinnung der nationalen Unabhängigkeit8 sowie den „importierten“ Idealen des zeitgenössischen europäischen Liberalismus die Forderung nach einer verfassungsmäßigen Ordnung des erst noch zu begründenden Staatswesens als untergeordnetes Element zu einer idiosynkratischen Synthese9.

Während Korais in seinem Hauptwerk „Memoire sur l’etat actuel de la civilisation dans la Grece“ für das vom „osmanischen Despotismus“ unterdrückte Griechenland die Vision eines von den Prinzipien des Liberalismus sowie des Konstitutionalismus geprägten Gemeinwesens entwarf, verfolgte Pheraios, welcher nach seiner Flucht aus dem Osmanischen Reich ab 1793 in Wien eine rege publizistische Tätigkeit entfaltete, einen ungleich radikaleren Ansatz. Zu den einflussreichsten Werken des Poeten gehört das Memorandum „Neue Politische Verwaltung der Einwohner von Rumeli, Kleinasien, der Mittelmeerinseln und der Moldau und Walachei“ von 179710. In der Flugschrift geht Pheraios weit über die zumeist nationalistisch motivierten Befreiungsaufrufe seiner griechischen Zeitgenossen hinaus und skizziert vielmehr einen von allen Ethnien des Balkans gemeinsam zu errichtenden, multiethnischen und von religiöser Toleranz geprägten Idealstaat. Entscheidend für die aufkeimende konstitutionelle Bewegung in Griechenland erwies sich dabei Pheraios‘ Versuch, diesem aus heutiger Perspektive utopisch anmutenden Staatswesen durch die konkrete Formulierung eines kohärenten Verfassungsentwurfes eine konkrete Grundlage zu verleihen.

In der hypothetischen Konzeption der Verfassung seines „Balkan-Staates“ als repräsentativ organisierte Republik lehnte sich Pheraios dabei eng an die unlängst erlassene französische „Constitution du 5. fructidor an III“ von 1795 an11. Dabei wies der freiheitlich gesinnte Pheraios in seinem Entwurf jegliche monarchischen/absolutistischen Institutionen kategorisch zurück und erklärte vielmehr das Prinzip der absoluten Volkssouveränität zur obersten Maxime. Wenngleich sich die egalitäre Vorstellung vom konstitutionell fundierten Miteinander aller Balkannationen letztlich nicht durchsetzen konnte, lässt die „Nea Politiki Diokisis“ des Pheraios, dessen Hinrichtung durch die osmanische Verwaltung 1798 der Stilisierung zum „Proto-Märtyrer der Revolution“12 Vorschub leistete, die ideengeschichtlichen Grundlagen der konstitutionellen Bewegung in Griechenland fassbar werden. Der idealistische, sozialutopische und von der Gleichheit aller Bürger geprägte Charakter dieser Etablierungsphase des Konstitutionalismus13 verweist dabei im Vergleich mit ihrem französischen Vorbild auf ein inhärentes Problem der griechischen Verfassungsbewegung in Gestalt der feudalistisch organisierten Gesellschaftsstruktur des Osmanischen Reiches und dem resultierenden weitgehenden Fehlen einer liberal gesinnten bürgerlichen Mittelschicht, so dass das Phänomen des griechischen Konstitutionalismus in Kontrast zur sozialgeschichtlich starken Stellung des „Dritten Standes“ im französischen Constitutionnalisme populaire in seinem Wirkungskreis zunächst weitgehend auf die gesellschaftlichen Führungszirkel der intellektuellen wie gesellschaftlichen Eliten beschränkt blieb.

Eine Ausnahme von diesem Befund stellt die sozialgeschichtliche Entwicklung auf den westgriechischen Ionischen Inseln dar, deren geographische wie kulturelle Mittlerstellung die Herausbildung einer selbstbewussten bürgerlichen Gesellschaftsschicht beförderte hatte. Unter dem Eindruck der politischen Verwerfungen im Gefolge der Französischen Revolution sollte sich die multikulturelle Inselnation bald zu einem Laboratorium der konstitutionellen Bewegung Griechenlands entwickeln. Ihren historischen Ausgangspunkt nahm diese Entwicklung mit dem napoleonischen Italienfeldzug ab 1796, in dessen Folge die Ionischen Inseln von französischen Truppen besetzt wurden. In der zweijährigen Besatzungsperiode erfuhren die Einwohner der Heptanesoi als erste griechischsprachige Entität durch die Abschaffung der oligarchischen Herrschaft und Einführung der französischen Revolutionsverfassung von 1795 in den eigens gegründeten „Départements français de Grèce“ das transformatorische Potenzial des Konstitutionalismus am eigenen Leibe. Die Franzosen förderten zudem die Bildung eines Bürgerparlamentes, welches dem jungen korfiotischen Abgeordneten und späteren prominenten Staatsmann der Revolution Johannes Kapodistrias14 erste Gelegenheiten zur Erprobung in konstitutioneller Praxis gewähren sollte.

Der 1776 in eine einheimische Adelsfamilie geborene Kapodistrias hatte bereits im Zuge seines mehrjährigen Medizinstudiums an den Universitäten Padua und Venedig erste Erfahrungen mit Vertretern liberalen Gedankenguts gemacht und sich dort für die Werte der französischen Aufklärung begeistert15. Nach Beendigung seiner Studien war er 1797 in seine Heimat zurückgekehrt und betrieb dort eine aktive Politik gegen die einheimischen Oligarchen, welche nach der Vertreibung der Franzosen durch eine russisch-osmanische Militäroperation im März 1800 das entstandene Machtvakuum zur Wiederherstellung ihrer angestammten Rechte durch die von der Hohen Pforte in Konstantinopel sanktionierte sog. „Byzantinische Verfassung“ wiederherzustellen suchten. Die abermalige Unterdrückung der Bürgerschaft resultierte jedoch in stetigen gesellschaftlichen Spannungen, welche sich drei Jahre später in der ersten konstitutionell motivierten Erhebung Griechenlands entluden. Unter der Aufsicht des zur Lageberuhigung entsandten russischen Diplomaten Georgios Monsenigos setzte Kapodistrias schließlich die Einführung einer im europäischen Vergleich äußerst liberalen Verfassung durch, welche unter anderem auf dem Prinzip des allgemeinen Wahlrechts und der Gewaltenteilung fußte. Protegiert von Monsenigos gelang Kapodistrias, welcher der jungen ionischen Republik zeitweilig als paritätischer Vorsitzender gedient hatte, wenig später durch die Berufung ins russische Außenministerium 1809 der gesellschaftliche Aufstieg16. Die dort in den Wirren des „Vaterländischen Krieges“ gegen die napoleonische Revolutionsarmee gesammelten Eindrücke und Erfahrungen sollten die ursprüngliche Begeisterung des Kapodistrias für revolutionäre Erhebungen dämpfen und den Grundstock für seine ambivalente Haltung in dieser Hinsicht legen.

Kapodistrias diente dem russischen Zaren Alexander I. über ein Jahrzehnt lang als Diplomat, Staatssekretär und Außenminister und erlangte auf diese Weise wertvolle Einsichten und Beziehungen in den diplomatischen Vertretungen Europas. Seine exponierte Stellung als Diasporagrieche ließ den russischen Außenminister wiederholt zum Anlaufpunkt philhellenischer Bestrebungen und Vereinigungen werden; so übernahm er 1814 etwa den Vorsitz der „Philomusischen Gesellschaft“17. Gleichzeitig lehnte Kapodistrias alle revolutionären Bestrebungen seiner Landsleute zur gewaltsamen Befreiung der Griechen, wie sie insbesondere die Geheimgesellschaft „Philiki Hetaireia“ anstrebte, mit Verweis auf die Unausgereiftheit dieser Umsturzpläne ab18. Als der Vorsitzende dieser nationalistischen Vereinigung, Andreas Ypsilantis, schließlich 1821 zur militärischen Befreiung aller Griechen und sonstigen Balkanvölker gegen die osmanischen Unterdrücker aufrief, positionierte sich der russische Außenminister klar gegen diesen Aufstandsversuch19.

Ungeachtet der russischen Verweigerungshaltung hatten die peloponnesischen Griechen trotz der Niederlage des Ypsilantis 1821 den allgemeinen Aufstand gewagt und erwiesen sich im Verlaufe der ersten Kriegsjahre als unvorhergesehen erfolgreich in der Vertreibung der osmanischen Besatzungsmacht. Die anfänglichen militärischen Erfolge und die gelungene Mobilisierung weiter Teile der griechischen Gesellschaft standen dabei in zunehmendem Missverhältnis zum unzulänglichen administrativen Organisationsgrad der Aufständischen, welche zunächst unabhängig voneinander zunächst drei provisorische „Lokalregierungen“ begründet hatten, unter denen vor allem der „Westgriechische Senat“ unter Alexandros Mavrokordatos, der seit dem 9. November 1821 seine Arbeit aufgenommen hatte, sowie die „Gesetzmäßige Verwaltung Ostgriechenlands“ unter Theodoros Negris im mittelgriechischen Amphissa, entstanden am dem 15. Dezember 1821, hervorstechen20.

Bereits unmittelbar nach der Revolution hatten diese adhoc gebildeten Gremien das Problem erkannt, den bisher ungeordneten militärischen Widerstand auf ein zunächst vorläufiges rechtliches Fundament zu stellen, und begannen demgemäß mit der Anfertigung erster individueller Verfassungsentwürfe21, wobei sie sich vorwiegend am Beispiel der französischen Verfassungen der Revolutionszeit orientierten22. Da jedoch in der Folge zwischen den Lokalregierungen Rivalitäten um den repräsentativen Führungsanspruch über die vereinigten griechischen Revolutionäre aufkeimten, entschlossen sich deren Vertreter zur Schaffung zentralisierter Strukturen, welche sowohl die koordinierte Verwaltung der befreiten Gebiete als auch eine effektivere Vertretung der Revolutionsziele gegenüber dem teils philhellenisch, teilweise jedoch auch reaktionär-interventionistisch gestimmten europäischen Ausland garantieren sollten. Eine im Dezember 1821 zu diesem Zweck in das peloponnesische Epidauros einberufene Nationalversammlung von 59 Delegierten unter dem Vorsitz des Mavrokordatos und Beteiligung des europäischen Verfassungstheoretikers Vincenzo Gallina23 wurde demgemäß mit der Aufgabe der Ausarbeitung eines zunächst als provisorisch gekennzeichneten Verfassungsentwurfes für die junge Nation betraut.

Das 110 Artikel umfassende Ergebnis dieses Aushandlungsprozesses stellt die am 1. Januar 1822 ratifizierte sog. „Verfassung von Epidauros“ dar. Die Bestimmungen dieser offiziell „Vorläufigen Regierungsgrundlage Griechenlands“ (Προσωρινό Πολίτευμα της Ελλάδος) lesen sich dabei abermals als Imitation des politisch wie legislativ normativen Vorbilds der Revolutionsverfassungen Frankreichs von 1793 und 179524. Die adaptierende Inkorporierung der französischen Terminologie wird dabei bereits durch die demonstrative Voranstellung der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte (Dispositions Générales) von 1789 in griechischer Übersetzung offensichtlich sowie dem revolutionär-republikanischen Pathos der Präambel deutlich25. Die in den nachfolgenden Paragraphen niedergelegten administrativen Grundlagen des neuen Staates entwickeln das Bild einer stark repräsentativ orientierten parlamentarischen Republik, als deren oberstes Prinzip die Verhinderung jeglicher Machtkonzentration im Sinne der „checks and balances“ fungiert, wie sie etwa durch das konsequent angewandte Prinzip der Kollegialität sowie der institutionalisierten Gewaltenteilung sichergestellt werden sollte26. Dieser egalitäre Ansatz reflektiert das endemische Misstrauen der unterschiedlichen Revolutionsfraktionen, welches sich beispielsweise im gegenseitige Initiativ- wie Vetorecht für exekutive und legislative Organe sowie dem Grundsatz der Annuität für sämtliche Exekutivorgane wie auch die Deputierten beider Häuser des Zweikammersystems, bestehend aus einem Parlament und Senat widerspiegelt. Die skizzierten Vorsichtsmaßnahmen wirkten sich jedoch auch auf die praktische Funktionalität der revolutionären Administration aus und zeugen vom provisionellen Charakter dieses ersten konstitutionellen Entwurfes.

Die resultierende systemische Dysfunktionalität trat bald offen zu Tage und machte bereits ein Jahr später die Revision der Verfassung auf der sog. Nationalversammlung von Astros im März 1823 erforderlich. Der grundlegende Fortschritt dieser zweiten griechischen Verfassung besteht in der Verschiebung der ursprünglichen paritätischen Machtbalance von der Domäne der Exekutive zu den legislativen Verfassungsorganen. Durch die elaborierten Statuten zur Neutralisierung der Exekutive, beispielsweise durch den Entzug des Vetorechtes für die sechs leitenden Staatsminister, konnte die Paralyse des Gesetzgebungsprozesses27 kurzfristig überwunden werden. Gerade diese Bevorzugung der Legislative erwies sich in der Folgezeit jedoch als wesentliche Faktor für die Spaltung der konstitutionellen Bewegung in eine liberale konstitutionell orientierte Partei unter dem Vorsitz des Mavrokordatos und den Vertretern der einheimischen peloponnesischen Oligarchie unter der Führung des Militärs Kolokotronis28. Wenngleich sich die liberale Fraktion im anschließenden Bürgerkrieg der Jahre 1824-1825 mithilfe internationaler Unterstützung durchzusetzen vermochte, so bedeutete die in den Bürgerkriegsmonaten offen zu Tage getretene Inkompatibilität der verfassungsmäßigen Institutionen mit den Erfordernissen eines fragilen revolutionären Staatswesens eine schwere.

[...]


1 Diese These wird etwa vertreten von Tsapogas, Staatsrationalisierung und Verfassungsbestrebung in Griechenland, S. 63. Eine gegenteilige Position bezieht bspw. Stamatis, Οι φιλελεύθερες και δημοκρατικές ιδέες των επαναστατικών συνταγμάτων, S. 21.

2 Als textueller Referenzrahmen der Auseinandersetzung dient hierbei die vom griechischen Parlament publizierte Quellensammlung Αρχεία της ελληνικής παλιγγενεσίας III. Εθνικές Συνελεύσεις.

3 Vgl. Alivizatos, Tο Σύνταγμα και οι εχθροί του στη νεοελληνική ιστορία 1800-2010, S. 67-78.

4 Einen Überblick gewährt Kaltchas, Introduction to the Constitutional History of Modern Greece, S. 34-57.

5 Hierzu zählt etwa das staatsphilosophische Schaffen des Georgios Plethon, vgl. Hlepas, Ein romantisches Abenteuer? Nationale Revolution, moderne Staatlichkeit und bayerische Monarchie in Griechenland, S. 166 sowie Gourgouris, Dream Nation: Enlightenment, Colonization, and Institution of Modern Greece, S. 18-40.

6 Vgl. Pizanias, From Reaya to Greek Citizen: Enlightenment and Revolution 1750-1832, S. 91.

7 Vgl. Kitromilides, Enlightenment and Revolution. The Making of Modern Greece, S. 260-291.

8 Ein zeitgenössisches Paradigma einer erfolgreichen Revolution auf dem Balkan ohne republikanischkonstitutionalistische Konnotation bietet hingegen die nationale Erhebung der Serben ab 1804, vgl. Jelavich, The Establishment of the Balkan National States 1804-1920, S. 26-37.

9 Nachdem sich dieses „Trikolon“ der Revolutionsideale im nationalliberalen Diskurs bald zu einer semantischen Einheit verfestigt hatte, sahen sich die griechischen Revolutionäre ähnlich wie die Vordenker der 1848er-Revolution in den deutschen Territorialstaaten mit dem Problem der „doppelten Revolution“,d.h. der Schaffung eines Nationalstaates bei gleichzeitiger Konstitutionalisierung konfrontiert, vgl. Apostolidis-Kusserow, Die griechische Nationalbewegung, S. 148-156.

10 Vgl. Kitromilides, An Enlightenment Perspective on Balkan Cultural Pluralism. The Republican Vision of Rhigas Velestinlis, S. 465-479.

11 Vgl. Woodhouse, Rhigas Velestinlis. The Proto-Martyr of the Greek Revolution, S. 42.

12 Myrogiannis, The Emergence of a Greek Identity 1700-1821, S. 83-131.

13 Auf diese sozialrevolutionäre Komponente verweist auch der zeitgenössische Verfassungsentwurf „Elliniki Nomarchia“ (Griechisches Grundgesetz). Zu Konzeption und Zielsetzung der Nomarchie vgl. Kitromilides, Republican Patriotism to National Sentiment. A Reading of Hellenic Nomarchy, S. 60.

14 Zur Person des J. Kapodistrias v.a. Kaldis, John Capodistrias and the modern Greek State.

15 Einen Überblick über das frühe politische Engagement des Kapodistrias bietet etwa Dakin, The Greek Struggle for Independence 1821-1833, S. 223-237.

16 Frary, Russia and the Making of Modern Greek Identity 1821-1844, S. 26.

17 Vgl. Philippou, Der Philhellenismus in Deutschland: Philhellenische Bekundungen der Deutschen am Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Gründung des griechischen Staates, S. 24.

18 Woodhouse, Kapodistrias and the Philiki Etairia 1814-21, S. 104-134.

19 In dieser ablehnen Haltung korrelierte die von Kapodistrias gehegte Überzeugung von der fehlenden Reife des griechischen Volkes zur Selbstregierung mit den monarchistischen Überzeugungen des russischen Zaren Alexander I. sowie der verbündeten Vertreter der europäischen Pentarchie.

20 Dimitropulos, Τα Ελληνικά Συντάγματα από την Επανάσταση έως το 1864 και συγκριτική μελέτη των Συνταγμάτων του 1844 και του 1864, S. 3 sowie Stamatis 2014, S. 23.

21 Vgl. Tsapogas 1992, S. 39-41. Während der Verfassungsentwurf der westgriechischen Provinzregierung rekurrierend auf den republikanischen Gesellschaftsentwurf des Pheraios sowie in Anlehnung an die Prinzipien der französischen Revolution an der perspektivischen Errichtung eines republikanischen Staatswesens im befreiten Griechenland festhält, schlossen die Delegierten unter Negris in der Konzeption ihres mit diesem Entwurf konkurrierenden Pendants auch die Möglichkeit einer konstitutionell eingehegten Monarchie explizit nicht aus. Dieser Umstand deutet auf die divergierende Zielsetzung innerhalb der griechischen Verfassungsbewegung hin: Während ein revolutionär orientierter liberaler Flügel mit dem Schlagwort der Konstitutionalisierung mit der Errichtung eines republikanischen Staatswesens assoziierte, sahen sich national gesinnte Kreise nicht zuletzt aufgrund der tiefen Verankerung des royalen Prinzips besonders in der einfachen Landbevölkerung, aber auch in den oligarchischen Machtstrukturen Griechenlands zur Abmilderung dieses radikalen Projektes veranlasst, vgl. Korisis, Das politische System Griechenlands, S. 13.

22 Michaelidis-Novaros, Georgios, S. 1-27.

23 Loukia Droulia, Towards modern Greek consciousness, S. 66.

24 Vgl. Manesis, Η φιλελεύθερη και δημοκρατική ιδεολογία της εθνικής επανάστασης του 1821, S. 269.

25 Fortsakis/Spyropoulos, Constitutional Law in Greece, S. 42.

26 Vgl. Paragraphen III und IV der Verfassung von Epidauros, 21-35 sowie Wilharm, Die Anfänge des Griechischen Nationalstaates 1833-1843, S. 57-71.

27 Daskalakis, Die Verfassungsentwicklung Griechenlands, S. 265.

28 Antoniu/Gerapetritis, Οι θεσμοί της ελληνικής επανάστασης και τα έξωθεν πρότυπά τους, S. 15-19.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Zwischen Konstitutionalismus und Absolutismus. Die Griechische Verfassungsfrage 1821-1832
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
19
Katalognummer
V437399
ISBN (eBook)
9783668781382
ISBN (Buch)
9783668781399
Sprache
Deutsch
Schlagworte
zwischen, konstitutionalismus, absolutismus, griechische, verfassungsfrage
Arbeit zitieren
Paul Sommer-Weisel (Autor:in), 2017, Zwischen Konstitutionalismus und Absolutismus. Die Griechische Verfassungsfrage 1821-1832, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/437399

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