Die Konstruktion der Zigeuner-Figur in Prosper Mérimées "Carmen" und ihre Dekonstruktion in George Sands "La Filleule"


Bachelorarbeit, 2018

42 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Das Zigeunerbild in Frankreich
1.1. Zur Geschichte der Zigeuner und ihr Bild in der europäischen Gesellschaft bis zum 19. Jahrhundert
1.2. Das Zigeunerbild Frankreichs im 19. Jahrhundert

2. Zigeunerfiguren in der französischen Literatur
2.1. Von den ersten Zigeunererscheinungen in der französischen Literatur bis zum 19. Jahrhundert
2.2. Zigeunerfiguren in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts

3. Die Konstruktion der „Zigeuner“-Figur in Prosper Mérimées Carmen
3.1. Die Darstellung von Carmen
3.2. Die Konstruktion der „Zigeuner“Figur durch Mérimée

4. Die Dekonstruktion der „Zigeuner“-Figur in George Sands La Filleule
4.1. Die Darstellung von Moréna
4.1.1. Der gesellschaftskritische Einfluss von George Sand auf die Darstellung von Moréna
4.2. Vergleich von Carmen und Moréna
4.2.1. Die Dekonstruktion der Zigeunerfigur in La Filleule

Fazit

Literaturverzeichnis

Einleitung

Seit ihrer Ankunft in Europa fasziniert das Volk der Boh é miens die europäische Gesellschaft und insbesondere ihre Schriftsteller. Diese Faszination ist besonders in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts wiederzukennen. Vor allem die Figur der Zigeunerin gilt als „poetisches Ideal“1 vieler Autoren dieser Zeit. Sie fremdartig, exotisch und schön, eine Kontrastfigur zur mitteleuropäischen Frau und sie trägt somit die Wünsche der Autoren dieser Zeit in sich.2

Frankreich, im 19. Jahrhundert, ist geprägt von sozialen, kulturellen und industri- ellen Umbrüchen. Die Französische Revolution und die Industrialisierung verän- dern das gesellschaftliche Klima des Landes und rufen bei einigen Schriftstellern den Wunsch hervor, sich zu verwirklichen und den Enttäuschungen der eigenen Realität zu entkommen. Sie sehnen sich nach Weisheit, Mysterium, Orgien und Exotik; diese Dinge glauben sie im Orient wiederfinden zu können. Spanien wird, aufgrund der dort herrschenden Trockenheit und Hitze, aber auch aufgrund des maurischen Einflusses, als orientalisches Land definiert. Es gilt als zivilisations- fern, „ terre de la couler et de la passion3, als Land der Banditen, Schmuggler und Zigeuner.4

Der Wunsch nach dem Exotismus und dem Ausbruch aus der eigenen Realität ist allerdings von den eigenen kulturellen Normen befrachtet, sodass sich, um die eigene kulturelle Norm zu bewahren, vom Fremden wertend distanziert wird.5 Aus diesem Grund gelten die Bohémiens als marginalisierte, von Stereotypen geprägte Gruppe, was sich ebenfalls auf die Literatur des 19. Jahrhunderts auswirkt.

Prosper Mérimée, einer der wichtigsten Autoren, wenn es um Zigeunerliteratur geht, lässt sich ebenfalls vom Exotismus des Orients faszinieren und unternimmt mehrere Spanienreisen. Während dieser Reisen beschäftigt er sich mit Spanien und den Bohémiens und erschafft später mit Carmen die, für diese Zeit typische Zigeunerfigur. Seine Darstellung der Carmen ist sowohl von Stereotypen des 19. Jahrhunderts geprägt, als auch von seinem persönlichen Bild der Boh é miens, wel- ches er sich durch seine Reisen nach Spanien, bzw. Andalusien macht. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ändert sich die Darstellungsweise der Zigeunerfigur. Die Bohémiens faszinieren französische Autoren zwar noch immer, doch nutzen einige von ihnen das Fremde um Gesellschaftskritik auszuüben. Au- rore Dupin, ebenfalls unter dem Namen George Sand bekannt, zählt zu den besten Autoren dieser Epoche. Sie gilt als Verkünderin eines mystischen und humanitä- ren Sozialismus. Dies beweist ebenfalls die Tatsache, dass sie während der Revo- lution von 1848 auf Seiten der Sozialisten kämpft. Charakteristisch für ihre Werke sind autobiografische Schriften, Schlüsselromane, emanzipatorische Romane und Übertragungen persönlicher Erlebnisse und Eindrücke in den fiktionalen Bereich.6 Als Kommunistin begeistert sie sich für das Proletariat und eine bessere Gesell- schaft. Am 03. Juni 1864 erscheint ihr Werk „La Filleule“ in der französischen Zeitschrift „Le siècle“. Ihr feministischer und gesellschaftskritischer Einfluss ist, wie in all ihren Werken, auch in diesem zu spüren, was sich ebenfalls auf ihre Darstellung der Zigeunerin auswirkt.

In der folgenden Arbeit sollen die Funktion und die Wirkung von der, von Prosper Mérimée konstruierten, Zigeunerfigur Carmen, dargestellt werden. Ebenfalls sollen diese Aspekte bei der Moréna in La Filleule herausgearbeitet werden. Außerdem soll untersucht werden, inwieweit George Sand der ’’ Carmen -Darstellung’’ in La Filleule widerspricht und die marginalisierte Figur der Bohémienne als femme fatale aufgreift und dekonstruiert.

Im Folgenden wird die Entwicklung des gesellschaftlichen Zigeunerbildes, das in Europa und vor allem in Frankreich bis zum 19. Jahrhundert herrscht, aufgezeigt. Dieses Bild spielt eine wichtige Rolle bei der Darstellung der Bohémiens in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Um die literarische Bedeutung der beiden in dieser Arbeit zu untersuchenden Werke verstehen zu können, werden ebenfalls die unterschiedlichen Darstellungsweisen der Zigeunerfiguren, unter besonderer Berücksichtigung der Frauenfigur, in der französischen Literatur dieser Zeit untersucht. Im weiteren Verlauf wird anhand von Beispielen die Darstellung der Carmen konkret aufgezeigt, um im Anschluss deuten zu können, welche Rolle Prosper Mérimées persönliches Spanien- und Zigeunerbild bei der Konstruktion der ‚Carmen-Figur‘ spielt. Auch die Darstellung von Moréna in La Filleule wird anhand von Beispielen aufgezeigt, um zu verstehen, welche Bedeutung der gesell- schaftskritische Einfluss Sands in diesem Werk hat. Beide Darstellungen werden anschließend miteinander, unter besonderer Berücksichtigung des Aspektes der Marginalisierung, verglichen. Dies ist essenziell um das Anliegen der beiden Wer- ke zu deuten und aufzuzeigen, welche Aspekte zur Dekonstruktion der ‚Carmen- Figur‘ in La Filleule führen.

1. Das Zigeunerbild in Frankreich

1.1. Zur Geschichte der Zigeuner und ihr Bild in der europäischen Gesellschaft bis zum 19. Jahrhundert

Obwohl die Abstammungsidentität der Bohémiens wegen der vielen widersprüchlichen Quellen unklar ist, lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, dass sie eine indische Herkunft haben. Sie sollen im 9. Jahrhundert ihre Heimat, Indien, verlassen haben, um sich in Persien niederzulassen. Dort sollen sie sich über einen längeren Zeitraum aufgehalten haben.7

Erste europäische Berichte über die Bohémiens werden von Stadtschreibern im 13. Jahrhundert verfasst.8 Zu Beginn ihrer Ankunft in Europa genießen die Bohé- miens besonderes Ansehen, da sie sich auf die religiösen Sitten und Bräuche der Völker einstellen, bei denen sie leben. Sie haben außerdem ein stolzes Unabhän- gigkeitsbewusstsein, welches gern gesehen wird. Vor allem die Frauen werden mit Hochachtung gesehen, da vermutet wird, dass sie die Zukunft deuten können.

Diese Gabe verleiht ihnen Macht und verschafft ihnen den Status und das Anse- hen von Priesterinnen.9 Schon in den ersten europäischen Erwähnungen wird berichtet, dass sie Wahrsager und Tierheilkundige sind, aber auch Diebe und Giftmischer. Da nomadische Lebensweisen in der damaligen europäischen Gesellschaft nicht existieren, versucht man eine plausible Erklärung für diese zu finden. Die nomadische Lebensweise der Bohémiens wird unter religiösen Aspekten erklärt. Sie sollen der heiligen biblischen Familie auf der Flucht nach Ägypten die Beherbergung verweigert haben und wurden deshalb von Gott verstoßen.10

Ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts setzt ein Wandel in der Einstellung gegenüber den Bohémiens in Europa ein. Ihnen wird unterstellt, dass sie von Bettelei und Diebstahl leben und somit werden sie von der christlichen Bevölkerung nicht weiter toleriert. Vor allem in Frankreich versucht man sie durch verschiedene politische Maßnahmen zu vertreiben.

In Spanien ist die Gesellschaft weniger skrupellos als in Frankreich. Dort sieht man die Gitanos ab dem 16. Jahrhundert nicht mehr als ein fremdes Volk, sondern als eine Organisation spanischer Verbrecher. In der zweiten Hälfte des 18. Jahr- hunderts werden sie, wenn sie sich niederlassen, der restlichen Bevölkerung gleichgestellt. Dies führt dazu, dass der überwiegende Teil der spanischen Gitanos sesshaft wird.11

In Frankreich hingegen verschwinden die Bohémiens im 18. Jahrhundert fast gänzlich, da sie durch die staatlichen Maßnahmen und die harte Verfolgungspolitik ausgerottet oder verdrängt werden. Ab 1800 sind in Frankreich Bohémiens nur noch in den Grenzprovinzen, vor allem in den Pyrenäen, zu finden. In diesen Gebieten sind sie ansässig und üben „bürgerliche“12 Berufe aus. Trotzdem werden sie von der übrigen Bevölkerung gemieden und verachtet.

1.2. Das Zigeunerbild Frankreichs im 19. Jahrhundert

Im 19. Jahrhundert festigt sich das Vorurteil des klauenden Zigeuners; Frauen stehlen Essen und die Männer stehlen Pferde. Diebstahl, Jagd und Fischerei sichern ihre Existenz. Es wird berichtet, dass selbst die ehemals angesehenen Priesterinnen, sich als organisierte Banden zusammenschließen, unter dem Versprechen Geld und Schmuck zu segnen, um es am nächsten Tag dem Besitzer zurückzubringen, was sie aber letztendlich nicht tun.13

Der Bohémienne wird weiterhin ein Heilwissen zugeschrieben. Man findet heute noch zahlreiche Kupferstiche, Zeichnungen und Gemälde, die handlesende Zigeunerinnen zeigen.14 Des Weiteren sollen sie eine mangelnde Körperhygiene haben; man sagt ihnen sogar nach die Pest im Mittelalter gebracht zu haben. Obwohl es nie Beweise für solche Tatsachen gab, sagt man, dass sie Kinder rauben sollen, um sie bei sich aufwachsen zu lassen und später als Künstler auftreten zulassen. Einigen Gerüchten nach sollen sie sogar Kinder verspeisen.

Die Presse unterstützt und verstärkt die Stereotype gegenüber den Bohémiens, da sie erreichen will, dass sie vertrieben werden.15 Es gibt viele rassistische Beiträge, wie zum Beispiel im M é morial des Vosges am 13. März 1894:

Qu´ils soient belges, allemands ou tsiganes, qu´on nous en débarasse au plus tôt. Qu´ils se disent musiciens ambulants, gymnasiarques ou accrobates, que leurs compagnes fécondes professent le somnambulisme, fassent le petit jeu ou le grand jeu, et justement parce qu ´elles n´ont pas d´autre métier avouable, ce sont tous des ribauds, des truands, des Bohémiens en un mot. Ils sont la terreur des campagnes, ces nomades crasseux […].16

Es wird hier klar der Wunsch artikuliert, die Bohémiens so schnell wie nur möglich zu vertreiben. Die Angst vor dem Fremden und dem Künstlerdasein der Bohémiens ist deutlich zu erkennen. Sie werden mit Dirnen und Ganoven gleichgestellt; das Wort Boh é miens wandelt sich zu einer Beleidigung. Das Dictionnaire de l ´ Acad é mie fran ç aise definiert das Wort Boh é mienne in seinen Ausgaben aus den Jahren 1855 und 1878 wie folgt:

c´est une vraie Bohémienne: se dit d´une femme adroite qui sait employer les cajoleries pour arriver à ses fins; ou d´une femme dont les manières sont trop libres, d´une femme dévergondée.17

Die Bohémienne soll also mit Hilfe ihrer Wortgewandtheit Menschen ausnutzen und schamlos sein. Im Dictionnaire universel d ´ histoire et de g é ographie von Bouillet werden in der Ausgabe aus dem Jahr 1895 die übrigen Stereotype bestä- tigt:

Bohémiens: nom que l´on donne vulgairement en France à des bandes nomades d´aventuriers qui parcourent les campagnes en faisant des tours d´adresse et en disant la bonne aventure… La France en est presque tout à fait délivrée… Ils parlent une langue très différente de celles de l´Europe. Ils sont vagabonds et voleurs.18

Hier wird deutlich, dass sich nicht nur die Presse, sondern auch der Staat gegen die Bohémiens stellt und dass ein Großteil der Bohémiens gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus Frankreich vertrieben wurde.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich das anfänglich positive gesellschaft- liche Zigeunerbild im Laufe der Zeit wandelt. Das fremde Volk, welches sich nicht an die Werte und Normen der europäische Gesellschaft hält, scheint jener Angst zu bereiten. Besonders im 19. Jahrhundert ist das gesellschaftliche Zigeu- nerbild von stark negativen Stereotypen geprägt, welches von der Presse und vom Staat bestätigt und propagiert wird. Im folgenden Kapitel wird deutlich, welche Auswirkungen dies auf die Darstellung von Bohémiens in der Literatur hat.

2. Zigeunerfiguren in der französischen Literatur

2.1. Von den ersten Zigeunererscheinungen in der französischen Literatur bis zum 19. Jahrhundert

Die erste Erwähnung der Bohémiens in französischer Sprache wurde im „Journal d´un Bourgeois de Paris“19 gefunden. Es handelt sich hierbei um einen Tagebucheintrag aus dem Jahr 1427 und ist einer der berühmtesten Berichte, wenn es um Zigeunerforschung geht:

Le dimenche d´après la my-aoust, qui fut le dix-septiesme jour d´aoust ou dit an mil quatre cent vingt-sept, vindrent à Paris douze penanciers, comme ils disoient; c´est à sçavoir ung duc et ung comte, et dix hommes tous à cheval; et lesquels se disoient très-bons chrestiens, et estoient de la Basse-Égypte.20

Hier wird von Männern berichtet, die auf Pferden angeritten kommen und von sich behaupten Herzöge und Grafen aus Ägypten zu sein. Außerdem behaupten sie von sich gute Christen zu sein. Weiter wird ebenfalls von Zigeunerinnen ge- sprochen:

Les plus laides femmes que on pust voir, et les plus noires; toutes avoient le visage de plaie […], les cheveux noirs comme la queue d´ung cheval, pour toutes robes une vielle flaussoie très-grosse,…; et, néanmoins leur pauvreté, en la compaignie avoit sorcieres qui regardoi- ent ès mains des gens, et disoient ce que adevenu leur estoit ou à advenir, et mirent contans en plusieurs mariages; car elles disoient: Ta femme, ta femme, ta femme, t´a fait coux; ou à la femme: Ton mari t´a fait couple. Et qui pis estoit, en parlant aux créatures, par art magi- que ou autrement, ou par l´ennemi d´enfer, ou par entreget d´abilité, faisoient vuides les bourses aux gens; et le mettoient en leur bourse, comme on disoit21

Sie werden hier als hässlich, arm und schwarz beschrieben. Die Stereotype der Hexerei und Wahrsagerei tauchen hier ebenfalls auf. Nach diesen ersten schriftlichen Aufzeichnungen verlieren die Bohémiens zunächst ihren Reiz und werden lange nicht in schriftlichen Quellen erwähnt.

In der unterhaltenden Literatur Frankreichs erscheinen Bohémiens erstmals im Jahr 1596, im Werk „Vie genereuse de Mercelots, Gueuz et Boesmiens“ von Pechon de Ruby. In diesem Werk geht es um einen Jungen, der sein zu Hause ver- lässt und sich einer Zigeunerbande anschließt. Er nimmt an ihrem Leben Teil, welches durch Raub, Diebstahl und Falschspiel bestritten wird.22 Es ist hier zu erkennen, dass bereits diese erste Zigeunerdarstellung von Stereotypen geprägt ist. Bis zum 17. Jahrhundert gibt es allerdings keine weiteren nennenswerten Werke in denen Bohémiens auftauchen.

Im 17. Jahrhundert erscheint ein wichtiges Werk, welches als Vorbild für die Zi- geunerfigur in der französischen Literatur dieser Zeit dient. Es handelt sich um das, 1613 erschienene, Werk „La Gitanilla“ vom spanischen Autoren Miguel de Cervantes. Cervantes inspiriert viele französische Autoren, wie zum Beispiel Mo- lière. Viele von ihnen bedienen sich der Figur der ’’falschen Zigeunerin’’; so schreibt zum Beispiel J.P. Camus das Werk „L´innocente Egyptienne“. In dem Werk werden Zigeuner für eine Organisation einheimischer Landstreicher gehal- ten. Die dunkle Hautfarbe der Zigeuner sei mit Hilfe eines Pflanzensafts erzeugt und abwaschbar. Der Gitanilla von Cervantes folgen zahlreiche andere Geschich- ten, die die Stereotype dieser Zeit beinhalten, zum Beispiel Entführungen durch Zigeuner, Wahrsagung, usw.23

Trotz der mehrheitlichen gesellschaftlichen Abneigung gegen die Zigeuner sind sie nach wie vor als Tänzerinnen auf öffentlichen Plätzen und in den Salons Frankreichs begehrt. Um 1650 bricht deshalb in Paris die Zeit der Zigeunerfrau an. Es ist Mode sie zu bewundern, während sie ihre Auftritte auf öffentlichen Plätzen vollführt. Die fremdartige Schönheit reizt nicht nur das Publikum, son- dern auch die Schriftsteller; Zigeunerinnen treten auch in Theaterstücken und Bal- letten auf.24 Die Darstellungsweise der Zigeunerfiguren in der französischen Lite- ratur des 17. Jahrhunderts ist eine besondere, da sie sich von den italienischen und spanischen unterscheidet. Französische Autoren beschäftigen sich, im Gegensatz zu den Nachbarländern, nicht nur mit fiktiven Figuren, sondern mit real existie- renden Charakteren. Vor allem in Gedichten sind tanzende Zigeunerinnen ein be- liebtes Objekt.25 Eines der zahlreichen Beispiele für ein solches Gedicht ist das Sonett „La belle Egiptienne“ von Georges de Scudéry:

Sombre divinité, de qui la splendeur noire

Brille de feux obscurs qui peuvent tout brûler : La neige n'a plus rien qui te puisse égaler, Et l'ébène aujourd'hui l'emporte sur l'ivoire.

De ton obscurité vient l'éclat de ta gloire, Et je vois dans tes yeux, dont je n'ose parler, Un Amour africain, qui s'apprête à voler, Et qui d'un arc d'ébène aspire à la victoire.

Sorcière sans démons, qui prédis l'avenir, Qui, regardant la main, nous viens entretenir, Et qui charmes nos sens d'une aimable imposture : Tu parais peu savante en l'art de deviner ; Mais sans t'amuser plus à la bonne aventure, Sombre divinité, tu nous la peux donner. (26 )

Die Zigeunerin wird hier als dämonisch, verführerisch und exotisch dargestellt. Es werden außerdem Stereotype wie zum Beispiel die Wahrsagerei aufgegriffen. Im 18. Jahrhundert verschwinden Zigeuner so gut wie gänzlich aus der französischen Literatur und sind nur noch in Romanen zu finden, die im Ausland spielen.27

2.2. Zigeunerfiguren in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts

Im 19. Jahrhundert finden Begegnungen mit Zigeunern, anders als im 17. Jahr- hundert, nicht mehr im „fröhlichen Leben eines Zigeunerlagers“28 statt, sondern in der Natur, zum Beispiel im Wald. Zu dieser Zeit assoziieren Franzosen das Finste- re, Geheimnisvolle, mit dunklen Mächten Verbundene mit der Zigeunerfigur. Au- ßerdem bleibt die französische Zigeunerin eine seltene Erscheinung. Es werden fast ausschließlich russische, spanische, deutsche oder englische Zigeuner behan- delt.29

Im Jahr 1845 veröffentlicht schließlich Prosper Mérimée sein Werk „Carmen“ in der Zeitschrift „Revue des deux mondes“. Sie gilt als die bekannteste literarische Behandlung der Bohémienne, da Mérimée mit Carmen einen neuen Typus schafft, welcher auch „Carmenliteratur“30 genannt wird. Zwar gibt es nach Carmen zunächst, bis zum Jahr 1860, eine Pause in der “Zigeunerliteratur“, doch dann bricht eine Flut an literarischen Darstellungen der Zigeunerin aus, welche vom literarischen Bild der Carmen bestimmt wird.31

Im Jahr 1864 veröffentlicht schließlich George Sand das Werk „La Filleule“ und bricht damit die Carmenliteratur. Die Zigeunerfigur wird in diesem Werk aus einer anderen Perspektive betrachtet. Hans-Dieter Niemandt schreibt dazu Folgendes:

Es ist […] der einzige Versuch in der europäischen Literatur, das Seelenleben des Zigeuners - am Beispiel eines heranwachsenden Mädchens - eindringend, gleichsam von innen zu erfassen. […] meines Erachtens gelungenste und tiefste Charakterisierung einer Zigeunerin in der ganzen europäischen Literatur.32

Durch die Briefe und Tagebucheinträge lässt George Sand nicht nur in die physi- sche, sondern auch in die psychische Entwicklung der Zigeunerin blicken. Sie zeigt eine „objektive Einstellung“33 zu den Zigeunern. „Sie übersieht weder ihre Fehler, noch verdammt sie um diese Fehler Willen das ganze Volk.“34 Einige Au- toren übernehmen später das Handlungsgerüst von La Filleule, z.B. Ponson du Terrail, der „La Bohémienne du grand monde“ schrieb. Auch Émil Erckmann und Alexandre Chatrian schreiben aus der Perspektive der Zigeuner. In ihrem Werk „Les Bohémiens d´Alsace sous la Révolution“ schreiben sie aus der Perspektive eines alten Zigeuners, der von seiner Jugend im Elsass erzählt. So geben sie dem Leser einen Einblick in das alltägliche Leben der Bohémiens in dieser Region Frankreichs. Außerdem erscheinen Werke, in denen über Zigeuner, die, ähnlich wie George Sands Mor é na, bürgerlich erzogen werden und zum Leben ihres Vol- kes zurückkehren müssen, berichtet wird.35 Darüber hinaus gibt es nach der Veröf- fentlichung von La Filleule viele Kindererzählungen mit dem „Umgekehrten ‚Fil- leule‘-Motiv“ , d. h. ein französisches Kind wird von Zigeunern erzogen.

In diesem Kapitel wurde deutlich, dass ein Wandel in der französischen „Zigeu- nerliteratur“ stattgefunden hat. Während man sich zu Beginn ihrer Ankunft in Eu- ropa lediglich auf die Beschreibung ihres Aussehens und der beobachteten Tätig- keiten des Volkes der Bohémiens beschränkt, tritt ab dem 17. Jahrhundert die Zi- geunerfrau in den Vordergrund. Der größte Teil der Zigeunerdarstellungen ist von Stereotypen geprägt.

[...]


1 Von Hagen, 2009, S. 16.

2 Vgl. Kalkuhl, 2003, S. 68.

3 Hölz, 2002, S.105.

4 Mit dem Begriff Zigeuner ist in der gesamten folgenden Arbeit lediglich eine literarische Figurgemeint oder eine pejorative Darstellung des Volkes der Sinti und Roma.

5 Vgl. Hölz, 2002, S.108.

6 Vgl. Thieltges, 1979, S. 275ff.

7 Vgl. Niemandt, 1992, S.6.

8 Vgl. Bogdal, 2011, S. 23.

9 Vgl. Niemandt, 1992, S. 15.

10 Vgl. Bogdal, S. 37.

11 Vgl. Niemandt, 1992, S.18.

12 Ebd., S.22.

13 Vgl. Vaux De Foltier, 1981, S. 156.

14 Vgl. Bogdal, 2011, S. 80.

15 Vgl. Vaux De Foltier, 1981, S. 162.

16 Ebd.

17 Vaux de Foltiers, 1981, S. 166.

18 Ebd.

19 Niemandt, 1992, S.108.

20 Ebd.

21 Ebd.

22 Vgl. Ebd., S. 111.

23 Vgl. Ebd. S.112.

24 Vgl. Ebd. S. 120.

25 Vgl. Ebd. S. 123.

26 http://poesie.webnet.fr/lesgrandsclassiques/poemes/georges_de_scudery/la_belle_e- gyptienne.html (Zugriff: 17.01.2018)

27 Vgl. Niemandt, 1992, S. 127.

28 Ebd., S. 215.

29 Ebd., S. 224.

30 Ebd., S. 226.

31 Vgl. Ebd., S. 228.

32 Ebd., S. 231-235.

33 Ebd., S. 231.

34 Ebd.

35 Vgl. Ebd. S. 238.

Ende der Leseprobe aus 42 Seiten

Details

Titel
Die Konstruktion der Zigeuner-Figur in Prosper Mérimées "Carmen" und ihre Dekonstruktion in George Sands "La Filleule"
Hochschule
Universität zu Köln
Note
1,3
Autor
Jahr
2018
Seiten
42
Katalognummer
V437193
ISBN (eBook)
9783668774704
ISBN (Buch)
9783668774711
Dateigröße
507 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
konstruktion, zigeuner-figur, prosper, mérimées, carmen, dekonstruktion, george, sands, filleule
Arbeit zitieren
Sabina Basic (Autor:in), 2018, Die Konstruktion der Zigeuner-Figur in Prosper Mérimées "Carmen" und ihre Dekonstruktion in George Sands "La Filleule", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/437193

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