Hyperaktive Kinder im Unterricht und der Sportförderunterricht als mögliche Hilfe


Examensarbeit, 2004

104 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1 EINFÜHRUNG
1.1 Zur Themenauswahl
1.2 Aufbau der Arbeit
1.3 Zur Relevanz des Themas

2 HYPERAKTIVITÄT
2.1 Allgemeine Begriffsklärung
2.2 Definitionsversuche
2.3 Historischer Abriss
2.4 Mögliche Ursachen
2.4.1 Genetische Faktoren
2.4.2 Organische Faktoren
2.4.3 Ökologische Faktoren
2.4.4 Psycho- soziale Faktoren
2.4.5 Störung der sensorischen Integration der Sinne
2.4.5.1 Das Körperschema
2.4.6 Veränderte Kindheit
2.5 Welche Symptome zeigen hyperaktive Kinder im Alltag?
2.5.1 Welche Symptome kommen in der Schule hinzu?
2.5.2 Wie sollte ein Lehrer mit einem hyperaktiven Kind im Unterricht umgehen?
2.6 Die Diagnose
2.7 Verschiedene Therapieformen
2.7.1 Verhaltenstherapie
2.7.3 Kinderpsychotherapie
2.7.4 Logopädie
2.7.5 Ergotherapie
2.7.6 Spieltherapie
2.7.7 Psychomotorik
2.7.8 Medikamentöse Behandlung
2.7.9 Familientherapie

3 SPORTFÖRDERUNTERRICHT ALS SPEZIELLE THERAPIEFORM IN DER SCHULE
3.1 Was ist Sportförderunterricht?
3.2 Warum Sportförderunterricht in der Schule?
3.2.1 Verändertes Gesundheitsverständnis
3.2.2 Veränderte Kindheit
3.3 Entstehungsgeschichte des Sportförderunterrichts
3.4 Aufgabenbereiche und Zielsetzungen
3.5 Zielgruppe
3.6 Die Auswahl der Kinder
3.7 Inhaltsbereiche
3.7.1 Wahrnehmungsförderung
3.7.2 Motorische Wahrnehmung
3.7.3 Soziale, emotionale und kognitive Förderung
3.8 Organisatorische und didaktische Überlegungen

4 PRAKTISCHER TEIL
4.1 Beschreibung der Schule
4.2 Zur Auswahl der Kinder für den Sportförderunterricht
4.3 Eine Beschreibung der Sportfördergruppe an der Schule
4.4 Entwicklungsgeschichte eines ADHS- Jungen von der Geburt bis heute
4.5 Auffälligkeiten des ADHS- Jungen im Unterricht
4.6 Möglichkeiten des Sportförderunterrichts in Hinblick auf seine Auffälligkeiten
4.7 Eine Sportförderstunde zum Thema Sozialverhalten
4.7.1 Verhalten des ADHS- Jungen in dieser Stunde
4.8 Eine Sportförderstunde zum Thema Körperschema
4.8.1 Verhalten des ADHS- Jungen in dieser Stunde
4.9 Kurzfristige Auswirkungen des Sportförderunterrichts im regulären Unterricht
4.10 Langfristige Veränderungen durch den Sportförderunterricht seit Schulbeginn
4.11 Eine Zusammenfassung der praktischen Beobachtungen

5 FAZIT

6 QUELLEN UND LITERATURVERZEICHNIS
6.1 Literaturverzeichnis
6.2 Internet Quellen
6.3 Zusätzlich verwendete Literatur

7 ERKLÄRUNG

8 Anhang

1 EINFÜHRUNG

1.1 Zur Themenauswahl

Im Rahmen der Vorüberlegungen zu meiner Examensarbeit habe ich mir über viele pädagogische Handlungsfelder Gedanken gemacht. Da ich seit meinem Studienbeginn die Problematik der Lern- und Erziehungsprobleme heranwachsender Kinder mit zunehmendem Interesse verfolge, möchte ich mich auch in meiner Arbeit diesem Thema widmen.

Erste, sehr spannende Einblicke bekam ich in diversen Seminaren, die sich mit dieser Thematik beschäftigten. Hinsichtlich des Gedankens, mit diesen Problemen auch in meiner späteren Berufspraxis konfrontiert zu werden, entschied ich mich dafür, die Lebens- und Lernsituationen von Kindern mit Lern- und Verhaltensauffälligkeiten näher zu betrachten. Mein Anliegen ist es, ihre Situation besser zu verstehen, um ihnen dann in meinem späteren Berufleben eventuell effektive Hilfestellungen anbieten zu können.

Die Problematik von ADHS- Kindern ist schon seit langem ein zentraler Bestandteil schulpädagogischer Handlungsräume, die im Rahmen einer ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung an Grundschulen nicht vernachlässigt werden darf. Neben der Bearbeitung des ADH- Syndroms werde ich des Weiteren noch genauer auf den Sportförderunterricht in der Schule eingehen, der lediglich als „eine“ mögliche Hilfe verhaltensauffälliger Kinder angesehen werden kann.

Auf die Problematik der Hyperaktivität bin ich im Zusammenhang mit meinem Fachpraktikum Anfang des Jahres gestoßen. In meiner damaligen ersten Klasse befand sich ein Junge, der immer wieder durch übermäßige Impulsivität, ständige Unruhe und einen ausgesprochenen Bewegungsdrang in der Gruppe auffiel. Bei einem Gespräch mit der Klassenlehrerin erfuhr ich wenig später, dass der Junge unter Umständen das ADH- Syndrom haben könnte. Eine genaue Diagnose stand zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht fest. Laut Anamnese und Aussagen der Eltern sind bestehende Auffälligkeiten im Vorschulalter (Kindergarten) noch nicht behandelt worden. Erst im Rahmen der schulischen Unterrichtssituationen bemerkte die Klassenlehrerin bei ihm jene Auffälligkeiten, auf die ich im Laufe meiner Arbeit noch genauer eingehen werde.

Bezüglich meiner Examensarbeit erinnerte ich mich an diesen Jungen und fragte mich, inwieweit sich Diagnosestellung und Verhaltensauffälligkeiten in der Zwischenzeit entwickelt haben mochten. Ich nahm Kontakt zur Klassenlehrerin auf und erfuhr, dass zu diesem Zeitpunkt bereits eine gefestigte Diagnose des ADH- Syndroms feststand. Er nahm des Weiteren seit ca. einem halben Jahr regelmäßig einmal in der Woche am Sportförderunterricht der Schule teil, welcher ihm helfen soll, sich im Alltag und in der Schule besser zurecht zu finden.

Da ich mich, wie bereits erwähnt, an der Universität schon sehr viel mit dem Sportförderunterricht beschäftigt habe, interessiert mich in diesem Zusammenhang besonders, inwieweit dieser Unterricht durch praxisrelevante Förderstrukturen Einflüsse auf das psycho- motorische Verhalten und die Persönlichkeitsentwicklung des Jungen nehmen kann.

Aufgrund dieser Überlegungen entschied ich mich im Rahmen meiner Examensarbeit für eine theoriegeleitete Arbeit, welche anhand eines erfahrungsorientierten Vorgehens (Beobachtungen des Jungen im regulären Unterricht und im Sportförderunterricht) erörtert und analysiert werden soll.

1.2 Aufbau der Arbeit

In meiner Arbeit möchte ich mich als erstes mit dem ADH- Syndrom beschäftigen. Hierzu werde ich einleitend die Entwicklung der verschiedenen Begrifflichkeiten dieser Störung erläutern, da die Begrifflichkeit zu diesem Thema sehr undurchsichtig sowie vielfältig ist und sich im Laufe der Jahre immer wieder verändert hat. Anschließen werden sich Definitionsversuche, die nur wenige von sehr vielen darstellen, welche jedoch die Thematik und Problematik meiner Meinung nach sehr gut beleuchten. Ein kurzer historischer Abriss soll Kenntnisse darüber vermitteln, wann das Syndrom zum ersten Mal in der Fachliteratur auftauchte und welche Vermutungen es bis heute noch über seine Ursachen gibt. Im nächsten Punkt möchte ich mich dann mit diesen Vermutungen beschäftigen. Ich werde verschiedenste Theorien komprimiert vorstellen, um einen Überblick darüber zu geben, welch widersprüchliche und verschiedene Ansichten es über die Ursache eines Syndroms gibt, welches bis heute noch so unerforscht ist. Des Weiteren wird eine Beschreibung der Probleme folgen, die das ADH- Syndrom Kindern von der Geburt bis hin ins Schulalter bereitet und welche speziellen Probleme noch im Schulalltag hinzukommen. Ich möchte sodann auf einen Punkt eingehen, der mich persönlich besonders interessiert, da er Einblicke in die Möglichkeiten vermittelt, wie ein Lehrer/eine Lehrerin mit einem hyperaktiven Kind in der Klasse umgehen sollte. Da ich selber überhaupt nicht weiß, an welche Grenzen man mit so einem Kind im Unterricht stößt und wie man am besten darauf eingeht, ist es für mich sehr aufschlussreich zu erfahren, welche Tipps einem Lehrer im Umgang mit ADHS an die Hand gegeben werden. Anschließend werde ich auf die Frage eingehen, wer eine Diagnose stellen sollte und wie und mit welchen Methoden diese Feststellung allgemein erfolgen sollte. Daraus resultierend möchte ich mich mit verschiedenen Therapieformen und ihren Zielen beschäftigen. Ich werde dazu die gängigsten Formen kurz erläutern, auf die medikamentöse Therapie etwas genauer eingehen und mich dann dem Sportförderunterricht als möglicher Therapieform in der Schule widmen. Den Sportförderunterricht werde ich im nächsten Punkt sehr genau erläutern, da er eine der Therapiemethoden in der Schule ist, mit der ich mich in meiner späteren Berufpraxis beschäftigen möchte. Zu Beginn möchte ich hierzu einige Definitionsversuche geben, erläutern, warum es den Sportförderunterricht in der Schule überhaupt geben sollte und in Bezug darauf auf das veränderte Gesundheitsverständnis und die veränderte Kindheit eingehen. Ein kleiner historischer Exkurs soll darstellen, wie sich der Sportförderunterricht an Schulen entwickelt hat, seit wann es ihn gibt und wie er sich seitdem weiterentwickelt hat. Anschließend möchte ich die Ziele und Aufgaben des Sportförderunterrichts erläutern, seine Zielgruppen nennen, auf die Auswahl der Kinder für den Unterricht eingehen und seine Inhaltsbereiche anführen. Hierzu werde ich mich auf die drei großen Inhaltsbereiche, die Wahrnehmung, die motorische Förderung sowie die emotionale, soziale und kognitive Förderung von Kindern beziehen. Abschließend werde ich zu diesem Punkt einige didaktisch-methodische Überlegungen zum Sportförderunterricht an Schulen anführen, um dann zum praktischen Teil meiner Arbeit zu kommen.

Für meinen praktischen Teil werde ich an der „Grundschule am Hagenberg“ in Bad Iburg einen ADHS- Jungen einer zweiten Klasse beobachten. Ich möchte herausfinden, welche Probleme der Junge aufgrund des Syndroms im Schulalltag bekommt und möchte meine eigenen Beobachtungen im Laufe des praktischen Teils mit denen in der Literatur vergleichen. Vorab werde ich kurz die Schule vorstellen, erklären, warum es dort den Sportförderunterricht gibt, bzw. warum es an der Schule möglich ist Sportförderunterricht zu erteilen. Anschließend erläutere ich wie man dort die Kinder für den Sportförderunterricht auswählt und werde die Sportfördergruppe beschreiben, an der der Junge teilnimmt. Eine kurze Entwicklungsgeschichte des Jungen von der Geburt an bis heute, welche ich mit Hilfe der Eltern erstellen möchte, soll einen kleinen Überblick darüber geben, wie sich das problematische Verhalten des Kindes im Alltag äußert. Andersherum möchte ich auch erläutern, welche besonderen Talente dieser hyperaktive Junge hat und inwieweit er anderen Kindern in seiner Entwicklung oft voraus ist. Danach werde ich den Jungen im Schulalltag beobachten und konkret auf die Probleme und Auffälligkeiten eingehen, die sich dort zeigen um mir dann drei für ihn markante Auffälligkeiten herauszugreifen. Diese möchte ich dann näher erläutern. In Bezug auf diese Auffälligkeiten werde ich mir überlegen, wie man als Lehrerin den Sportförderunterricht gestalten kann, damit der Junge seine Schwierigkeiten im Unterricht besser kompensieren kann. In Zusammenarbeit mit seiner Lehrerin werde ich ein bis zwei Stunden für den Sportförderunterricht planen, in denen gezielt auf seine Auffälligkeiten eingegangen werden soll. Diese Stunden werde ich protokollieren und das Verhalten des Jungen in den Stunden dokumentieren. In den darauf folgenden Tagen werde ich den Jungen erneut im regulären Unterricht beobachten um festzustellen, ob ihm die Inhalte im Sportförderunterricht in irgendeiner Weise helfen können sein problematisches Verhalten zu verbessern. Ich werde versuchen gezielt auf seine markanten Auffälligkeiten zu achten jedoch auch sein gesamtes Verhalten dabei nicht außer Acht zu lassen. Ich möchte am Ende der Beobachtung zu einem Ergebnis kommen, welches mir Aufschlüsse darüber vermittelt, inwieweit der Sportförderunterricht einem hyperaktiven Zweitklässler helfen kann, sein problematisches Verhalten in der Schule und eventuell auch im Alltag zu verbessern. Ein Gespräch mit der Klassen- und Sportförderlehrerin soll danach verdeutlichen, welche Veränderungen durch den Sportförderunterricht auf langfristige Weise zu erzielen sind und welche Fortschritte der Junge seit seiner Einschulung gemacht hat. Eine Zusammenfassung meiner Beobachtungen soll dies am Ende des praktischen Teils verdeutlichen.

Zum Abschluss meiner gesamten Arbeit werde ich im Fazit anhand einer kurzen Zusammenfassung meine Meinung darlegen. Ich werde versuchen mir durch die in der Literatur gewonnen Kenntnisse eine Meinung darüber zu bilden, warum der beobachtete Junge hyperaktiv ist und welche Therapieformen meines Erachtens nach für ihn sinnvoll sind. Außerdem ist es mir wichtig, in meiner Arbeit abschließend darauf einzugehen, welche Bedeutung das Lehrerverhalten im Umgang mit hyperaktiven Kindern im Unterricht hat.

1.3 Zur Relevanz des Themas

Die weltweit häufigste kinderpsychiatrische Diagnose lautet zurzeit Aufmerksamkeitsstörung mit und ohne Hyperaktivität. In Deutschland sind inzwischen rund 500.000 (2-6%) Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 18 Jahren betroffen. Diese Kinder sind impulsiv, störend, unaufmerksam und unruhig (vgl. Skrodzki: „Purzelbaum und Trampolin- Hilfen bei ADHS“, In: Zimmer/Hunger: „Wahrnehmen, Bewegen, Lernen- Kindheit in Bewegung“, 2004, Seite 54). Sie stoßen in allen Lebensbereichen auf erhebliche Schwierigkeiten und müssen lernen ihr Störverhalten zu kompensieren.

Auch eine Untersuchung des Mannheimer Zentralinstituts für Seelische Gesundheit, die schon vor 20 Jahren veröffentlicht wurde, zeigte bei 15,8% aller untersuchten achtjährigen Grundschüler eine psychiatrische Auffälligkeit (vgl. Schiffer: „Warum Huckleberry Finn kein Ritalin brauchte“, In: Zimmer/Hunger, 2004, Seite 261). Hierbei wurde insbesondere eine hypermotorische Symptomatik festgestellt und es erscheint bemerkenswert, dass der Fernsehkonsum bei den psychiatrisch auffälligen Kindern deutlich höher war als der der nicht auffälligen Kinder (vgl. ebd., Seite 261). Unter diesem Aspekt lässt sich der Bogen zur „Veränderten Kindheit“ spannen, in der die Kinder von heute ihre freie Zeit sitzend vor dem Fernseher oder dem PC verbringen und sich zunehmend weniger bewegen oder Sinneserfahrungen im freien Spiel sammeln.

Obwohl das hyperkinetische Syndrom mittlerweile als die international bestuntersuchteste Störung in der Kinderpsychiatrie gilt ( etwa 6.000 publizierte Studien (vgl. Neuhaus: „Das hyperaktive Kind und seine Probleme“, 1996, Seite 12)), ist die genaue Ursache bis heute nicht geklärt. Ebenso wenig ist die daraus resultierende Frage geklärt, ob es plötzlich so viele Kinder mit einer hyperkinetischen Störung gibt oder ob es unter Umständen eine „Modediagnose“ ist, um Erziehungsfehler der Eltern zu vertuschen (vgl. ebd., Seite 12). Aufgrund der fehlenden Ursachenklärung kann man auch nicht genau sagen, inwieweit man die Störung behandeln kann und diese Tatsache bereitet in jeglicher Hinsicht viele Probleme.

Im Hinblick auf die erschreckend hohen Zahlen der Kinder, die heute unter dem Syndrom leiden, der Tatsache, dass die Ursache noch nicht geklärt ist und dem daraus resultierenden Fakt, dass man nicht genau weiß, welche Behandlungsmethode die richtige ist, halte ich es, insbesondere für Pädagogen, für äußerst wichtig sich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen. Pädagogen stoßen in der Schule, im Kindergarten oder in sonstigen Einrichtungen auf Kinder mit den verschiedensten Problemen und da es aufgrund der Unterschiede und Vielfältigkeit der Schwierigkeiten kein Patentrezept für die richtige Behandlung gibt, ist es sehr schwer, den Kindern mit den richtigen Methoden gegenüber zu treten.

Es gilt also allgemein die Frage zu klären, ob das Syndrom genetisch, organisch oder psycho-sozial bedingt ist, oder unter Umständen sogar durch die veränderte Kindheit und eine Störung der Integration der Sinne hervorgerufen wird. Obwohl Pädagogen leider zur Klärung der Ursachen nicht befähigt sind, sollten sie dennoch wenigstens über das Syndrom Bescheid wissen und es im Unterricht erkennen können. Sie müssten in der Lage sein dem Kind Hilfen an die Hand zu geben und es entsprechend seiner Fähigkeiten zu fördern. Sie sollten sich dessen bewusst sein, dass das Syndrom eventuell eine Krankheit sein könnte, und dass die Kinder nicht mit Absicht ein derartiges Störverhalten an den Tag legen. Ich halte es, speziell für die Grundschule, für eine Verpflichtung sich mit besonders durch die veränderte Kindheit bedingten Symptomatiken auseinanderzusetzen und zu beschäftigen. Es sollte an allen Schulen verpflichtend sein, sich dementsprechend fortzubilden, damit so genannte „Problemkinder“ mit den vielfältigsten Auffälligkeiten ebenfalls eine Chance haben schulisch erfolgreich zu sein.

2 HYPERAKTIVITÄT

2.1 Allgemeine Begriffsklärung

Die begriffliche Vielfalt in der Fachliteratur zum Thema „Hyperaktivität“ ist nach meiner Erfahrung sehr verwirrend und es gibt weder eine allgemein anerkannte Definition noch eine einheitliche Begrifflichkeit.

„Die Begriffe „hyperkinetisches Syndrom“, „hyperkinetische Störung“ oder „Hyperaktivität“ betonen zunächst einmal das ständige Zappeln und exzessive Ruhelosigkeit.“ (Neuhaus, 1996, Seite 14).

In früheren Zeiten gehörte die Minimale cerebrale Dysfunktion (MCD) zu den häufigsten Bezeichnungen dieser Störung (vgl. Imhof/Skrodzki/Urzinger: „Aufmerksamkeitsgestörte, hyperaktive Kinder und Jugendliche im Unterricht“, 2001, Seite 9), aber seit 1991 hat sich in Deutschland die Bezeichnung der „hyperkinetischen Störung“ durchgesetzt, welche sich aus hyperaktivem Verhalten und deutlicher Aufmerksamkeitsstörung zusammensetzt (vgl. Neuhaus, 1996, Seite 15). Der Begriff „hyperkinetische Störung“ wird vor allem im Diagnosekatalog ICD 10 der WHO (Weltgesundheitsorganisation) verwendet und ist in Deutschland für Ärzte und Psychotherapeuten beim Kontakt mit Krankenkassen bindend. Die Abkürzung ICD steht für „Diseases and Related Health Problems“ und bedeutet übersetzt soviel wie: Die „Internationale statistische Klassifikation von Krankheiten und deren damit in Verbindung stehenden Gesundheitsproblemen“ (www.dimdi.de 27.7.2004, 16:16). Die Ziffer 10 bezeichnet deren 10.Revision. Auch das Aufmerksamkeits- Defizit- Syndrom ist von der WHO in der ICD 10 erfasst und in der DSM IV (Diagnostic and Statistic Manual of Mental discorder) beschrieben (vgl. www.dimdi.de 27.7.2004, 16:16).

Der Begriff „Minimale Cerebrale Dysfunktion“ (MCD) ist veraltet und sollte nicht mehr gebraucht werden, da er bei den Patienten einen nicht nachweisbaren Hirnschaden voraussetzt. Dabei wird den Kindern ein Schaden unterstellt, der einen Umgang mit der Problematik erschwert.

Die des Weiteren gültigen Begriffe, die auch in den USA und bei der WHO gebräuchlich sind, lauten:

- Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS)

- Aufmerksamkeitsstörung mit Hyperaktivität (ADHD)

aus dem Englischen: attention deficit hyperactivity disorder (vgl. Imhof/Skrodzki/Urzinger, 2001, Seite 9).

Das amerikanische diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen (DSM) unterscheidet zudem 3 Untertypen:

a) Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADS),

vorwiegend unaufmerksamer Typ ohne Hyperaktivität

b) Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung,

vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typ

c) Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung,

kombinierter Typ (vgl. www.ads-wesermarsch.de 22.9.2004, 21:40)

Den ersten, vorwiegend unaufmerksamen Typ ohne Hyperaktivität, möchte ich aus meiner Arbeit ausklammern und mich nur auf die anderen beiden Typen, vorwiegend auf den hyperaktiven - impulsiven Typen, beziehen.

Die beiden fett gedruckten Begriffe werden in meiner Arbeit einen größeren Stellenwert einnehmen, da ich den Begriff ADHS verwenden möchte und das Kind, das ich in meinem praktischen Teil vorstellen werde, an dem Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung- Symptomen leidet und dabei ein vorwiegend hyperaktiver- impulsiver Typ ist.

Um in meiner Arbeit eine eindeutige Begrifflichkeit verwenden zu können, möchte ich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass ich den allgemein gültigen Begriff ADHS in der gesamten Arbeit stellvertretend für alle anderen Begriffe gebrauchen werde.

Zugunsten einer besseren Lesbarkeit meiner Arbeit werde ich bei Berufbezeichnungen und Kindern auf eine gleichzeitig maskuline und feminine Schreibweise verzichten. Es sind aber stets beide Geschlechter gemeint.

2.2 Definitionsversuche

Wie in Punkt 2.1 bereits erwähnt, gibt es keine allgemein anerkannte Definition zur „Hyperaktivität“ aber ich möchte dennoch versuchen, einige mögliche Erklärungen des Begriffes zu liefern. Zunächst ein Zitat aus dem Kinderbuch „Der Struwwelpeter“ des deutschen Nervenarztes Dr. Heinrich Hoffmann aus dem Jahre 1845, welches das Verhalten eines hyperaktiven Kindes bei Tische sehr gut beschreibt:

„Ob der Philipp heute still

wohl bei Tische sitzen will?“

Also sprach in ernstem Ton

der Papa zu seinem Sohn,

und die Mutter blickte stumm

auf dem ganzen Tisch herum.

Doch der Philipp hörte nicht,

was zu ihm der Vater spricht.

Er gaukelt und schaukelt,

er trappelt und zappelt

auf dem Stuhle hin und her.

„Philipp, das missfällt mir sehr!“

(www.struwwelpeter.com 22.9.2004, 21:45)

( Hoffmann 1845 )

○ „Hyperaktivität meint eine desorganisierte, mangelhaft regulierte und überschießende motorische Aktivität, verbunden mit exzessiver Ruhelosigkeit“ (www.dr.oehler.de 31.5.2004, 19:02).

„Als Folge findet man verstärktes Störverhalten, unsystematische und langsame Aufgabenlösung, Ablenkbarkeit und geringe Frustrationstoleranz. Nicht jedes „hyperaktive“ Kind muss dauernd zappeln, aber alle Kinder fallen aus dem Rahmen sowohl in der Schule als auch im häuslichen Umfeld“ (Imhof/Skrodzki/Urzinger, 2001, Seite 9).

○ Hyperaktivität meint auch „Störungen, deren wesentliche Merkmale kurze Aufmerksamkeitsspannen und erhöhte Ablenkbarkeit sind. In der frühen Kindheit ist das auffallende Symptom eine ungehemmte, wenig organisierte und schlecht gesteuerte, extreme Überaktivität, an deren Stelle aber in der Adoleszenz Hypoaktivität treten kann. Impulsivität, ausgeprägte Stimmungsschwankungen und Aggressivität sind ebenfalls häufige Symptome. Oft bestehen Verzögerungen in der Entwicklung bestimmter Fähigkeiten sowie gestörte und eingeschränkte zwischenmenschliche Beziehungen“ (Steinhausen: „Das konzentrationsgestörte und hyperaktive Kind“, 1998, Seite 13).

Diese Definitionen sind nur zwei von sehr vielen Definitionsversuchen, welche im Laufe der Zeit von diversen Autoren vorgenommen wurden.

2.3 Historischer Abriss

Der Nervenarzt Dr. Heinrich Hoffmann beschrieb 1845 in seinem „Struwwelpeter“ zum ersten Mal viele Einzelsymptome der Hyperaktivität. Nach heutigen Erkenntnissen hat es Menschen mit diesem „Störungsbild“ schon zu jeder Zeit gegeben und sie wurden schon immer durch gesellschaftliche oder erzieherische Maßnahmen behandelt (vgl. Neuhaus, 1996, Seite 47).

In England wurden solche Kinder Anfang des 20.Jahrundets von Dr. Georg Still „willensschwach mit ernstem Defekt in der moralischen Kontrolliertheit ihres Verhaltens“ (ebd., Seite 47) genannt und er erkannte, dass mögliche neurologische Defizite die Ursache der Störung sein könnten. Das Forscherpaar Bradley bewirkte 1937 durch beeindruckende Untersuchungen, dass die Störungen ab diesem Zeitpunkt ausschließlich Kindern zugeschrieben wurden. Das Syndrom wurde nun „Unruhesyndrom“ (Neuhaus, 1996, Seite 48) genannt und auffälliges Kinderverhalten noch über Jahre hinweg schlechter Erziehung zugeschrieben. Erst in den 60er Jahren entfernte man sich von dieser Annahme und in Deutschland wurde die Diagnose „leichte frühkindliche Hirnschädigung“ (ebd., Seite 49) gestellt. In Amerika prägte sich der Begriff „Minimale cerebrale Dysfunktion (MCD)“ (ebd., Seite 49), welcher heute nicht mehr verwendet wird. Es folgten des Weiteren in der Forschung viele verschiedene Erklärungsansätze, bis Virginia Douglas 1984 erkannte, dass hyperaktive Kinder nicht in der Lage zu sein schienen Impulse zu hemmen. 1986 wiederum beschrieb Chelune die „Frontalhirn-Hypothese“ (Neuhaus, 1996, Seite 50), welche besagte, dass das Frontalhirn bei diesen Kindern anscheinend keine Reize hemmen kann und sie sich somit nicht auf alles konzentrieren können. Mittlerweile wurde das Syndrom „Attention Deficit Disorder (ADD)“ (Neuhaus, 1996, Seite 51) genannt. Alan Zametkin erzielte 1990 hervorragende Fortschritte in der Forschung und wies nach, dass speziell im Frontalhirnbereich des Großhirns und im prämotorischen Bereich zu wenig Stoffwechselaktivität von Glukose bestand, welche für die Hirnfunktion von großer Bedeutung ist. Die rechte Gehirnhälfte sei etwas weniger durchblutet, was dazu führen kann, dass viele Details nicht richtig wahrgenommen werden können (Neuhaus, 1996, Seite 47-57).

Diese Hypothesen, die bis heute noch nicht endgültig bewiesen sind, aber dennoch den höchsten Wahrscheinlichkeitsgrad beinhalten, wurden 1995 von Patricia Quinn (Neuhaus, 1996, Seite 52) vorgestellt. Auf diese Hypothesen möchte ich jedoch in meinem nächsten Unterpunkt „Mögliche Ursachen der Hyperaktivität“ eingehen.

2.4 Mögliche Ursachen

Die Schwierigkeiten, die sich schon bei einer eindeutigen Definition oder Be-griffsklärung hinsichtlich der Hyperaktivität ergeben, setzen sich auch bei Erklärungen möglicher Ursachen fort, da die Vielfalt der Literatur die unterschiedlichsten Ansätze zu diesem Thema liefert. Die grundlegende Ursache der ADHS ist bis heute noch nicht geklärt.

Da es aber zum heutigen Zeitpunkt so viele Kinder gibt (in Deutschland rechnete man im Jahre 2002 etwa mit 170000 bis 350000 behandlungsbedürftigen Kindern (Hüther/Bonney: „Neues vom Zappelphilipp“, 2002, Seite 12)), die keine fünf Minuten mehr still sitzen oder sich auf eine Aufgabe konzentrieren können, muss es einen Grund für die Symptome geben. Bei der Suche nach der Ursache für diese Verhaltensstörung scheiden sich jedoch die Geister.

Dennoch gibt es viele Forschungsergebnisse, Studien, Spekulationen und Schlussfolgerungen diverser Autoren, die sich mit den möglichen Ursachen beschäftigt haben und sich mittlerweile unversöhnlich gegenüberstehen. Ihre Argumente unterscheiden sich so grundlegend voneinander, dass es dem einen unmöglich erscheint den anderen zu verstehen (vgl. Hüther/Bonney, 2002, Seite 7-9).

2.4.1 Genetische Faktoren

Es gibt noch keine Belege darüber, dass es sich bei ADHS um eine Chromosomenstörung handelt. Das gehäufte Auftreten des Krankheitszeichens in Familien über mehrere Generationen hinweg zeigt jedoch deutlich, dass es einen genetischen Faktor geben kann (vgl. Imhof/Skrodzki/Urzinger, 2001, Seite 62). Es gibt vermutlich erbliche Faktoren, welche die Störungen der bereits erwähnten Hirnfunktionen auslösen (vgl. Döpfer/Frölich/Lehmkuhl: „Ratgeber Hyperkinetischer Störung“, 2000, Seite 19).

2.4.2 Organische Faktoren

Eine Fülle von Faktoren, die wir heute kennen, weist darauf hin, dass es bei hyperaktiven Kindern einen organischen Unterschied im Vergleich zu „normalen“ Kinder gibt (vgl. Imhof/Skrodzki/Urzinger, 2001, Seite 61).

Patricia Quinn, die ich in Punkt 2.3 schon anführte, referierte 1995 erstmalig zusammenfassend über ein „Integrationsmodell der neurochemischen und neuroanatomischen Forschungen“ (Neuhaus, 1996, Seite 52). Sie führte an, dass die Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung als eine Dysregulation von Neurotransmittern, speziell Dopamin und Noradrenalin, gesehen werden könne, die die Verarbeitung interner und externer Reize beeinflusst. Besonders Dopamin und Noradrenalin als Nerotransmitter scheinen laut Quinn Auswirkungen auf die Produktion, den Verbrauch und die Regulation anderer Neurotransmittersysteme im Gehirn zu haben. Die Funktion und Reifung einiger Hirnstrukturen sowie die gewöhnliche Funktionsweise des Frontalhirns werden dadurch augenscheinlich sehr beeinträchtigt. Impulse wie Stimmung, Wahrnehmung oder Wachheit, welche vom Stammhirn ausgehen, können somit nicht mehr hinreichend kontrolliert werden. Die Folgen dieser Störung im Gehirn sind neben Ablenkbarkeit und mangelnder Daueraufmerksamkeit die gefühlsmäßige Labilität dieser Kinder (vgl. Neuhaus, 1996, Seite 52).

Obwohl Qiunns Modell noch nicht eindeutig bewiesen ist, wird dieser Störung im Gehirn im Zusammenhang mit der veränderten Kindheit, auf die ich später noch eingehen werde, heute die größte Aufmerksamkeit geschenkt und viele Informationsseiten zum Thema Hyperaktivität geben diese Störung als einzige Ursache der Hyperaktivität an.

Russel Barkley (vgl. Neuhaus, 1996, Seite 53) allerdings geht, ebenfalls 1995, von einem neuen modellhaften Erklärungsansatz aus. Bei ihm heißt es, dass im Gehirn eigentlich „zu viel“ (Neuhaus, 1996, Seite 53) los sei. Kinder mit ADHS hätten ein Defizit der zentralen Hemmung. Sie können sich nicht selbst regulieren und steuern. Die Informationsverarbeitung an sich sei ungestört aber die Kinder können nicht erkennen, wann welcher Reiz für sie wichtig ist. Sie sind viel zu anfällig für viel zu viele innere und äußere Reize ihrer Umgebung und springen von einem Reiz zum nächsten (vgl. Neuhaus, 1996, Seite 53).

Im Hinblick auf die Bedeutung von Neurotransmittern haben Untersuchungen in der Neurochemie jetzt belegen können, dass keine Störung eines einzigen Neurotransmitters nachgewiesen werden kann. Imbalanzen zwischen den drei Transmittern, Dopamin, Serotonoin und dem Neuroadrenalin führen zu Störungen. Es wird jedoch hervorgehoben, dass es ADHS - Betroffenen besonders im synaptischen Spalt am Frontallappen an Dopamin mangelt und es deshalb zu ADHS- Symptomen kommen kann. Eine schützende Rolle wird an dieser Stelle dem Östrogen zugeschrieben, welches der Grund dafür sein könnte, warum Mädchen seltener an Hyperaktivität leiden (vgl. Imhof/Skrodzki/Urzinger, 2001, Seite 63).

Neuroanatomisch konnten in einer Studie mit aufmerksamkeitsgestörten Erwachsenen (vgl. Flick: „Ganz bei der Sache. Aufmerksamkeitstraining für impulsive Kinder“, 1996, Seite 56), Unterschiede im Glukosestoffwechsel des Frontalhirns der ADHS - Betroffenen festgestellt werden. Der Glukoseumsatz im Gehirn ist ein Maß dafür, wieviel Arbeit dort geleistet wird und ein verminderter Umsatz verändert den allgemeinen Wachheitsgrad sehr negativ, der Betroffene kann sich somit nicht mehr konzentrieren (vgl. ebd., Seite 56).

Abschließend kann festgestellt werden, dass die Forschung in diesem Bereich noch nicht ausgereift ist und es noch keine eindeutigen und belegten Aussagen über organische Ursachen zur Hyperaktivität gibt. Neueste Stimmen sind ebenfalls der Ansicht, dass kritische Fragen und begründete Zweifel heute nicht nur berechtigt sondern zwingend notwendig sind um ein Konzept zu hinterfragen, welches dem vorigen Jahrhundert entstammt. Es sei lediglich ein in sich geschlossener Argumentationsring, der auf Vorstellungen und Annahmen beruhe, die in der heutigen Zeit ins Wanken geraten sind (vgl. Hüther/Bonney, 2002, Seite 22-23).

2.4.3 Ökologische Faktoren

Als äußere Ursache können unter anderem auch Allergien hyperaktives Verhalten verursachen. Die Autorin Doris Rapp schreibt darüber, dass unerkannte Allergien auf Nahrungsmittel, Pollen, Schimmelpilze oder auch Chemikalien oft verheerende Auswirkungen haben können. Unsere immer effektivere High-Tech-Gesellschaft und die Verschmutzung von Luft, Wasser und Erde seien ebenfalls ein hoher Risikofaktor für die Gesundheit der Menschen (vgl. Rapp: „Ist das ihr Kind? Versteckte Allergien aufdecken und behandeln“, 1996, Seite 173-176).

In den 70er Jahren ging man noch davon aus, dass vor allem der Farbstoff Tartazingelb in hohen Dosierungen nachweislich Hyperaktivität auslöst. In der heutigen Forschung wird allerdings davon ausgegangen, dass nur etwa 5% aller Kinder, die an Hyperaktivität leiden, allergisch auf Lebensmittelzusatzstoffe und ähnliches reagieren (vgl. Flick, 1996, Seite 57).

Es konnte bislang in keiner großen Studie ein Zusammenhang nachgewiesen werden (vgl. Imhof/Skrodzki/Urzinger, 2001, Seite 64).

2.4.4 Psycho- soziale Faktoren

Wie in Punkt 2.3 schon erwähnt, wurden früher häufig Erziehungsfehler und unzureichende elterliche Kompetenz als Ursache der ADHS angesehen. Sie wurde als soziales und pädagogisches Problem eingeordnet. Heute zeigen neue Untersuchungen, dass diese Faktoren die Ausprägung und das Erscheinungsbild des Syndroms erheblich beeinflussen, jedoch nicht als Ursache angeführt werden können. Das familiäre Umfeld, in dem die Kinder leben, und die Bedingungen im Kindergarten sowie in der Schule sind nicht alleinige Ursache der Störung, aber sie können in einem erheblichen Maße die Ausgeprägtheit der Probleme und deren weiteren Verlauf beeinflussen und bestimmen. Hyperaktive Kinder kommen ebenso häufig in Familien vor, in denen die Kinder in einer „intakten“ (Imhof/Skrodzki/Urzinger, 2001, Seite 62) Umgebung aufwachsen, wie in sozial gestörten Familien. Innerfamiliäre Probleme werden als sekundär bezeichnet (vgl. ebd., Seite 62), dürfen aber keineswegs aus den Augen gelassen werden. Kinder werden oft als verhaltensgestört definiert, ohne dass die gestörten Verhältnisse, in denen sie leben müssen, überhaupt hinterfragt werden. Es ist häufig notwendig das gesamte Lebensumfeld eines Kindes zu betrachten, bevor man eine Diagnose stellt (vgl. Voss: „Anpassung auf Rezept. Die fortschreitende Medizinisierung auffälligen Verhaltens von Kindern und Jugendlichen“, 1992, Seite 19-20). Durch die häufig praktizierte Vorgehensweise ein problematisches oder auffälliges Kind sofort als „krank“ zu bezeichnen, werden die Eltern aus der Verantwortung genommen. Sie werden davon befreit die Ursachen für das Verhalten ihres Kindes auch im eigenen Verhalten, in der Familie oder der nahen Umwelt des Kindes zu suchen (vgl. Voss: „Keine Pillen für den Zappelphilipp. Alternativen im Umgang mit unruhigen Kindern“, 1990, Seite 52). Auch wenn, wie oben erwähnt, innerfamiliäre Probleme nur als sekundär angesehen werden, darf es nicht geschehen, dass Eltern sich aus der Verantwortung stehlen.

Weitergehend findet in der Literatur die psycho-soziale Komponente zu diesem Thema enorme Beachtung. Die Autorin Vernooij unterteilt deren Faktoren wiederum in drei verschiedene Gruppen, welche alle ein hyperkinetisches Syndrom hervorrufen (laut Untersuchungen fraglich) oder aber es verstärken können:

a) Sozio-kulturelle Bedingungen
b) Bedingungen des sozialen Umfeldes
c) Psycho-emotionale Bedingungen

Zu a)

Sozio-kulturelle Benachteiligung entsteht oft aus materieller Not, beengten Wohnverhältnissen und aus dem anregungsarmen Milieu der Unterschichtsfamilien. Psychische Probleme der Eltern, oftmals bedingt durch Arbeitslosigkeit, werden durch die angespannte Atmosphäre in der Familie auf das Kind übertragen (vgl. Vernooij: „Hampelliese- Zappelhans. Problemkinder mit hyperkinetischem Syndrom“, 1992, Seite 45-46).

Zu b)

Wenn das soziale Umfeld des Kindes gestört ist, stellt sein Fehlverhalten häufig einen Signalcharakter oder eine Schutzfunktion dar. Psychische Störungen eines Elternteils, Eheprobleme, Alkoholmissbrauch oder ähnliches wirken auf Kinder bedrohlich und sie reagieren dementsprechend.

Zu c)

Psycho-emotionale Bedingungen umfassen mehrere Dimensionen, so zum Beispiel die Art der Beziehung zwischen Mutter und Kind, das emotionale Gefüge im weiteren familiären Umfeld oder aber die Art der Erziehung. Da die Erziehung den wichtigsten Teil der kindlichen Entwicklung ausmacht, gibt es hier nochmals einige Unterscheidungen. Ein Kind kann verwöhnt oder vernachlässigt werden. Es kann einem ständigen Wechselklima innerhalb des sozialen Umfeldes ausgesetzt sein oder aber es kann Härte und Lieblosigkeit erfahren. All diese Faktoren wirken sich nicht positiv auf die Erziehung eines Kindes aus (vgl. ebd., Seite 45-46).

Vernooij bedauert, dass diesen Verursachungsfaktoren bei der Entstehung des ADH-Syndroms so wenig Beachtung geschenkt wird und sie, wie oben erwähnt, nur als sekundär angesehen werden. Sie erklärt dieses Verhalten ebenfalls damit, dass es für Erziehende eher akzeptabel ist, die Entwicklung des ADH-Syndroms genetischen, organischen oder ökologischen Faktoren zuzuschreiben, als die Notwendigkeit erkennen zu müssen sich, ihre Erziehungshaltung oder ihre Beziehung zum Kind kritisch zu betrachten (vgl. ebd., Seite 45-46).

2.4.5 Störung der sensorischen Integration der Sinne

„Unsere Sinne geben uns Informationen über den physikalischen Zustand unseres Körpers und über die Umwelt um uns herum“ (Ayres: „Bausteine der kindlichen Entwicklung, 1998, Seite 7).

Unter sensorischer Integration versteht man das Ordnen von Empfindungen und das Zusammenspiel aller Sinne, um diese dann sinnvoll gebrauchen zu können. Durch sensorische Integration wird erreicht, dass alle Abschnitte des Zentralennervensystems, die erforderlich sind, damit ein Mensch sich sinnvoll mit seiner Umgebung auseinandersetzten kann und auch angemessene Befriedigung dabei erfährt, miteinander zusammenarbeiten (vgl. Ayres, 1998, Seite 87-92).

„Sensorische Integration ist die wichtigste Art und Weise sinnlicher Verarbeitung“ (Ayres, 1998, Seite 7).

„Die Integration der Sinne funktioniert bei den meisten Menschen automatisch und so nehmen wir das Funktionieren unserer Sinnesorgane als selbstverständlich hin“ (Ayres, 1998, Seite 3).

Bei einer Störung oder Unordnung dieser sensorischen Integration ist das „Gehirn nicht in der Lage, den Zustrom sensorischer Impulse in einer Weise zu verarbeiten und zu ordnen, die dem betreffenden Individuum eine gute und genaue Information über sich selbst und seine Umwelt ermöglicht (Ayres, 1998, Seite 87).

Unter dem Begriff „Störung“ wird in diesem Zusammenhang ein „schlechtes Funktionieren“ und unter dem Begriff „sensorisch“ eine ungenügende Leistung des Gehirns im Bereich der Sinnesorgane verstanden (vgl. Ayres, 1998, Seite 87). Eine Störung der Integration der Sinne löst negative Symptome aus, die als Endprodukte einer unzureichenden und unregelmäßigen Verarbeitung von Sinneseindrücken im Gehirn angesehen werden können (vgl. Ayres, 1998, Seite 102). Ein Mensch, dessen Gehirn sinnliche Wahrnehmungen nur ungenügend verarbeitet, wird im Leben auf die verschiedensten Schwierigkeiten treffen (vgl. Ayres, 1998, Seite 12). Ein negatives Endprodukt dieser Störung kann unter anderem die Überaktivität oder Hyperaktivität sein. Sie ist häufig das erste Anzeichen einer Störung der sensorischen Integration, die die der Umwelt des Kindes bewusst wahrnimmt (vgl. Ayres, 1998, Seite 88-89).

Die Ursachen für die Störung der sensorischen Integration sind bis heute nicht geklärt. Es wird vermutet, dass einige Kinder eine angeborene Veranlagung für einen sehr gering ausgebildeten Hirnschaden haben, der die Störung hervorruft. Andere Forscher nehmen an, dass Umweltgifte zu Störungen im Gehirn beitragen können oder dass ein Sauerstoffmangel während der Geburt das Gehirn in dieser Weise schädigen kann (vgl. Ayres, 1998, Seite 92).

Damit ein Kind in seinem Leben die Fähigkeiten ausbilden kann, die es erfolgreich und zufrieden machen, müssen die unterschiedlichsten sensorischen Informationen zusammenkommen und das Gehirn muss sich über Jahre hinweg entwickeln sowie die Reize aus der Umwelt angemessen verarbeiten. Liegt in dieser Kette der Verarbeitung der sensorischen Informationen in irgendeiner Weise eine Störung vor, so hat dieses negative Auswirkungen auf die Fähigkeiten, die als positive Endprodukte herauskommen sollen. Dies sind unter anderem die Konzentrationsfähigkeit, die Selbsteinschätzung oder das akademische Lernvermögen. Liegt in den Bereichen der taktilen, vestibulären und propriozeptorischen Wahrnehmung eine unzureichende Verarbeitung im Gehirn vor, so kann unter anderem die Ausbildung des so genannten Körperschemas gestört sein (vgl. Ayres, 1998, Seite 102-110). Ich werde nun auf das Körperschema eingehen und dieses näher erläutern, da es einen sehr wichtigen Stellenwert im Verlauf meiner Arbeit einnehmen wird.

2.4.5.1 Das Körperschema

Unter dem Begriff „Körperschema“, welcher auch als „Körperwahrnehmung“, „Körperabbild“ oder „Nervenmodell des Körpers“ bezeichnet wird, versteht man „die Wahrnehmung, die eine Person von ihrem eigenen Körper hat“ (Ayres, 1998, Seite 318).

Das Körperschema „entsteht aus der Summe aller auf den eigenen Körper bezogenen Empfindungen und Erfahrungen“ (www.ergitherapie-berlin.com 29.9.04, 17:24), „die in Form von „Landkarten“ im Gehirn gespeichert werden“ (Ayres, 1998, Seite 318).

Das Körperschema „ist das unbewusste und spontan abrufbare innere Bild von den Ausmaßen, der Beschaffenheit, den Fähigkeiten und Möglichkeiten des Körpers“ (www.ergotherapie-berlin.com 29.9.04, 17:24).

Alle sinnlichen Erfahrungen, die Kinder in ihrer Entwicklung sammeln, formen ein inneres Vorstellungsbild des eigenen Körpers im Gehirn. Sie werden gesammelt indem Kinder spielen, toben und ausprobieren. Sie nehmen dabei den Einfluss der Schwerkraft wahr, fühlen wie sich Teile ihres Körpers bewegen, wie sie zusammenwirken und ebenso, wo ihre körperlichen Grenzen liegen. Indem Kinder Erfahrungen über die Konsequenzen ihrer Bewegungen sammeln, messen sie ihren Körper quasi aus und das Gehirn speichert alle nötigen Informationen, die das Kind zum Steuern und Planen körperlicher Bewegungen braucht (vgl. Ayres, 1998, Seite 39-40).

Das Körperschema ist dann später „ein zusammengesetztes Gedächtnis jedes Teils unseres Körpers und aller Bewegungen, die diese Teile je ausgeführt haben (Ayres, 1998, Seite 167).

Es entwickelt sich bei Kindern um das zweite Lebensjahr herum. In diesem Alter lernen sie zu gehen, zu sprechen und komplexe Handlungen auszuführen (vgl. Ayres, 1998, Seite 38).

Bei Kindern mit „einem schlecht geordneten Körperschema“ (Ayres, 1998, Seite 109) funktionieren die vestibulären, propriozeptorischen und taktilen Systeme meist nicht in einer angepassten Art und Weise (vgl. Ayres, 1998, Seite 108).

Das taktile System ist das ausgedehnteste Sinnesorgan des menschlichen Körpers und ist für das Berührungsempfinden und den Tastsinn verantwortlich (vgl. Ayres, 1998, Seite 58-59).

Das propriozeptorische System steht für Eigenwahrnehmung und Tiefensensibilität.

„Die Propriozeption ermöglicht dem Gehirn, in jedem Augenblick zu erkennen, wo jeder Körperteil sich befindet und wie er sich bewegt“ (Ayres, 1998, Seite 320-321).

Bereits während einer Bewegung aktualisiert die Tiefensensibilität das Körperschema dahingehend, dass das Gehirn eine nachfolgende Bewegung korrekt vorausplanen kann (vgl. Ayres, 1998, Seite 59). Aufgrund dieser Fähigkeit kontrahiert unser Körper seine Muskeln zur richtigen Zeit für die unterschiedlichsten Anforderungen (vgl. Ayres, 1998, Seite 172).

Das vestibuläre System ist für den Gleichgewichtssinn und das Spüren der Schwerkraft zuständig. Die Rezeptoren für diesen Sinn befinden sich im Innenohr und erzeugen Impulse, die an das Gehirn weitergeleitet werden. Die Sinneswahrnehmung wird immer dann verändert, wenn der Kopf Geschwindigkeit oder die Richtung seiner Bewegung verändert (vgl. Ayres, 1998, Seite 61-62). Gleichgewichtsinformationen sind von großer Bedeutung um Bewegungen des gesamten Körpers zu steuern (vgl. Ayres, 1998, Seite 174).

Diese drei aufgeführten Sinne stellen die Bausteine emotionaler Stabilität dar. Sie sind grundlegende sensorische Prozesse und solange diese Systeme nicht in angemessener Weise funktionieren, können Kinder nicht genügend auf ihre Umwelt reagieren. Viele von ihnen werden hyperaktiv. Diesen Kindern fehlt die Stabilität dieser drei Sinne. Sie können sich trotz ihrer Aktivität nicht lange auf eine einzige Sache konzentrieren. Da es ihnen nicht gelingt ihre beiden Körperhälften koordiniert einzusetzen, kommt es zu Rhythmus- und Gleichgewichtsstörungen (vgl. Ayres, 1998, Seite 108-110). Die Kinder haben ein herabgesetztes Gefühl von Tiefensensibilität und müssen alles optisch wahrnehmen bevor sie es bewegen. Ohne ihren optischen Sinn wissen sie oft nicht wo sich ihre Hände und Füße befinden, wie viel Kraft sie für einen Gegenstand benötigen und wo bestimmte Dinge in vertrauter Umgebung angeordnet sind. Sie zerbrechen Dinge und stolpern über sie (vgl. Ayres, 1998, Seite 172-174).

„Der Schlüssel zu einer geordneten Bewegungsplanung beruht auf einem Körperschema, das exakte taktile, propriozeptive und vestibuläre Informationen besitzt“ (Ayres, 1998, Seite 110).

[...]

Ende der Leseprobe aus 104 Seiten

Details

Titel
Hyperaktive Kinder im Unterricht und der Sportförderunterricht als mögliche Hilfe
Hochschule
Universität Osnabrück
Note
2,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
104
Katalognummer
V43696
ISBN (eBook)
9783638414371
ISBN (Buch)
9783656203957
Dateigröße
832 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hyperaktive, Kinder, Unterricht, Sportförderunterricht, Hilfe
Arbeit zitieren
Jana Frankenberg (Autor:in), 2004, Hyperaktive Kinder im Unterricht und der Sportförderunterricht als mögliche Hilfe, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/43696

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