Paarbeziehung und Persönlichkeitsentwicklung nach Jürg Willi


Essay, 2015

12 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Motivation

2. Darstellung des Themas
2.1. Kurze Gesamtdarstellung von Jürg Willis Wirken
2.2. Die Psychologie der Liebe

3. Stellungnahme

Bibliographie

Paarbeziehung und Persönlichkeitsentwicklung nach Jürg Willi

1. Motivation

Gedanken zu Liebesbeziehungen macht sich letztlich jeder Mensch früher oder später. Gerade Studierende befinden sich meist in dem Lebensabschnitt, in welchem man offiziell auf der Suche nach dem*der Partner*in fürs Leben oder zumindest für die Familiengründung ist. Auch in der Vorlesung „Selbstkonzept und Persönlichkeitsentwicklung“ war bei diesem Thema ein reges Interesse und eine erhöhte Beteiligung festzustellen. Schließlich beschäftigt sich jede*r eines Tages mit den damit einhergehenden Fragen, wie: Möchte man einen Partner, oder Single bleiben? Irgendwann vielleicht eine Familie gründen? Welche Meinung hat man zur Ehe? Und wie verhält es sich mit der Treue? Werden monogame, polygame oder vielleicht sogar polyamoröse Beziehungen bevorzugt?

Zudem entwachsen junge Menschen mit zunehmendem Alter mehr und mehr dem Elternhaus und dadurch wird auch die elterliche Beziehung differenzierter betrachtet. Dabei werden diese oftmals bewusst oder unbewusst mit den eigenen Paarbeziehungen verglichen.

Auch ich habe mich schon mit dieser Art Fragen und Vergleichen auseinandergesetzt und bin immer noch am Formen meiner Auffassungen und Erfahrungen. Dementsprechend habe ich dieses Thema gewählt, um mich intensiver damit auseinandersetzen zu können. Vor allem hat mich dabei das Scheitern von Beziehungen interessiert, da ich hoffe und glaube, dass einige Trennungen verhindert werden können. Dazu wird jedoch oftmals generelles Wissen über menschliches Verhalten benötigt, um sich selbst und sein eigenes Agieren reflektierter betrachten zu können. Dabei kann die Psychologie und vor allem die gemachten Erfahrungen von Paartherapeuten und Paartherapeutinnen weiterhelfen.

Auch wenn eigentlich jede Generation die Möglichkeit hat auf das Wissen der vorherigen Generationen aufzubauen, denke ich, dass gerade bei der Liebe vermieden wird auf gemachte Erfahrungswerte zurückzugreifen. Dies ist für mich ein weiterer Grund gewesen mich mit diesem Thema vertieft auseinanderzusetzen.

Da mich der in der Vorlesung erwähnte Ansatz des Psychotherapeuten Jürg Willi und eine der dazugehörigen Studien sehr interessierte, entschied ich mich, mich damit eingehender zu befassen.

2. Darstellung des Themasie Psycholo

2.1. Kurze Gesamtdarstellung von Jürg Willis Wirken

Der sich heute im Ruhestand befindende Jürg Willi war Paartherapeut und Psychiatrieprofessor. Er leitete die Psychiatrische Poliklinik der Universität Zürich und gründete nach seiner Emeritierung ein Institut für seine selbst entwickelte ökologisch-systemische Therapie, welches er mittlerweile nicht mehr leitet. Der Züricher war im Jahre 1965 der wahrscheinlich erste Psychotherapeut im deutschen Sprachraum, welcher Paare therapierte. Auf seinen dabei gemachten Erfahrungen, sowie der Kommunikationstheorie Paul Watzlawicks und Erkenntnisse des Psychotherapeuten Henry Dicks entwickelte Willi zunächst das Konzept der ʻKollusionʼ, welches das unbewusste Zusammenspiel bei Partnerwahl und im Partnerkonflikt beschreibt. Dieses Konzept stellte er 1975 in seinem Buch „Die Zweierbeziehung“ vor, welches auch noch heute zu den Klassikern der Psychotherapie zählt. Während diese Theorie in der Rechtssprechung unter anderem zu einem Wandel beitrug, welcher zur Abschaffung des Schuldprinzips im Scheidungsrecht führte, wurde sie von den Ehegegnern der 80er in Willis Augen „missbraucht“. Diese führten das Kollusionskonzept nämlich als Beweis dafür auf, „dass Ehen vor allem durch neurotische Kollusionen zusammengehalten werden.“ (Binkert 2009:75). In seinem 1985 erschienenen Buch „Ko-evolution - die Kunst gemeinsamen Wachsens“ versucht Jürg Willi seine therapeutische Ansicht zu erläutern und betont, dass verbindliche Partnerbeziehungen von unersetzbarem Wert für die persönliche Entwicklung sind und Beziehungskrisen als Herausforderung gesehen werden sollten (vgl. Binkert 2009:75). Schließlich finde der Mensch nur in der Auseinandersetzung mit mitmenschlichen Beziehungen zu sich selbst.

Auch in dem Buch „Was hält Paare zusammen?“ aus dem Jahre 1991, beschäftigt sich Jürg Willi mit Paarbeziehungen, wobei sein Fokus vermehrt auf gesunden Partnerschaften liegt. Er erläutert darin unter anderem, dass die gemeinsam kreierte Welt eines Paares ein wesentlicher Faktor für den Zusammenhalt und die Identifikation mit der Paarbeziehung ist. Schließlich reflektiert er 2002 in seinem Buch „Psychologie der Liebe“ seine Ansätze vor dem Hintergrund der aktuellen Gesellschaft und betont wiederum den Wert von langjährigen Partnerbeziehungen. Infolgedessen überarbeitet er auch sein Buch „Koevolution – Die Kunst des gemeinsamen Wachsens. Jürg Willi selbst ist seit über 50 Jahren glücklich verheiratet (vgl. Willi zu Niederer 2014[1] ).

Im Folgenden wird sein über Jahrzehnte entwickelte und vertiefte Ansatz anhand seiner neuesten Werke bzw. Überarbeitungen eingehender erläutert.

2.2. Die Psychologie der Liebe

Grundsätzlich vertritt Willi die These, dass Menschen sich in Beziehung zueinander entwickeln und nicht in isolierter Unabhängigkeit (Willi 2002:24).

Menschen verhalten sich so, dass sie möglichst viel von ihren persönlichen Möglichkeiten entfalten und entwickeln können. Dazu benötigen sie aber andere Menschen, denn in mancher Hinsicht können sie ihr Potential nur für und mit anderen Menschen verwirklichen. (Willi 2002:29).

Dementsprechend spielen die Wahl und die Gestaltung unseres zwischenmenschlichen Umfeldes eine entscheidende Rolle, da dies maßgeblich dazu beiträgt das individuelle Potential hervorzubringen. Kommt es schließlich zur hoher Selbstverwirklichung kann dies auch dem persönlichen Umfeld nützen (vgl.: Berger 2014:179).

Die Strategien, Einstellungen und Haltungen, welche ein Mensch vertritt, um in seiner zwischenmenschlichen Umwelt sein Potential zu verwirklichen, wird in dem ʻbeziehungsökologischen Therapieansatzʼ, welcher durch Jürg Willi begründet wurde und der Systemtherapie zuzurechnen ist, untersucht. Erforscht werden dabei alle Arten von Umweltbeziehungen. Darunter fallen unbelebte, belebte sowie mitmenschliche Beziehungen u.a. in der Arbeits- oder Freizeitwelt oder in amorösen Beziehungen. (vgl. Willi 2002:30). Generell geht die ökologische Theorie davon aus, dass jeder Mensch über mehr Potential verfügt, als er in seinem Leben verwirklichen kann (vgl. Berger 2014:256).

Da Liebesbeziehungen „den persönlichsten und intimsten Bereich menschlicher Entfaltung“ umfassen und dabei zudem einer etwas anderen ʻLogikʼ folgen, sind diese gesondert und vertiefter zu betrachten. (vgl. Willi 2002:19). In einer Liebesbeziehung ist eine Person auf die Rückmeldung durch einen Partner angewiesen und mit der Qualität dieser korreliert auch die Qualität der persönlichen Entwicklung (vgl. Willi 2002:31). Oftmals sind sich Liebespartner nämlich gegenseitig die schärfsten Kritiker, da sie das Verhalten und Wirken des Partners persönlich tangiert. Dementsprechend fordern sie sich wechselseitig in ihrer persönlichen Entfaltung heraus, in dem sie sich nicht nur Unterstützung zusichern, sondern auch Erwartungen aneinander stellen und sich kritisieren (vgl. Willi 2002:32).

Demzufolge ist Willi auch im ethologischen Sinne der Auffassung, dass bei der Partnerwahl anstelle des Fortpflanzungserfolges, die Verwirklichung des persönlichen Potentials die entscheidende Rolle spielt (vgl. Willi 2002:29).Willi hebt hervor, dass „Liebesbeziehungen nicht harmonisch und selbstlos sind, sondern eigennützig und spannungsgeladen“ (Willi 2002:303). Daher wird auch bei der ökologischen Paartherapie, welcher ein stärker individualisierter und entwicklungsorientierter Ansatz ist als andere systemische Therapien, mehr Gewicht „auf den zeitlichen Längsschnitt […] [der] persönliche[n] Entwicklung in der Wechselwirkung mit den Entwicklungen des Partners“ gelegt (Willi 2002:267). Schließlich kann

[i]m Erwachsenenalter […] wohl nichts die persönliche Entwicklung so stimulieren wie eine konstruktive Liebesbeziehung, aber auch nichts sie so einschränken und verunsichern wie eine destruktive Liebesbeziehung.“ (Willi 2002:127)

In einer empirischen Studie wurden die im Jahre 1991 in „Was hält Paare zusammen?“ von Jürg Willi aufgestellten Thesen überprüft. Seine Mitarbeiterin Astrid Riehl-Emde befragte 1994 schriftlich 204 respräsentativ ausgewählte Paare, deren Ehen durchschnittlich 16 Jahre andauerten, zu Faktoren, welche eine Partnerschaft zusammenhalten. Festgestellt wurde, dass das zentrale Motiv für eine eheliche Partnerbeziehung die Liebe ist und dabei die Identifikation mit der Partnerschaft, der Austausch im Gespräch sowie die persönliche Entwicklung innerhalb der Beziehung die vorderen Plätze der Rangliste der Teilnehmenden einnehmen (vgl. Willi 2002: 20 ff.)

Basierend auf diese und andere Studien hebt Jürg Willi für den Erhalt einer ehelichen Partnerschaft vor allem das Verliebtsein hervor (Willi 2002:20) und betont, dass Glück und Zufriedenheit zwar auch Stabilisatoren sind, jedoch aufgrund der Tatsache, dass sie keinen Dauerzustand darstellen können, nicht so entscheidende Faktoren sind wie das Verliebtsein. Demzufolge ersetzt Jürg Willi in seinem im Jahre 2002 erschienenem Buch „Psychologie der Liebe. Persönliche Entwicklung durch Paarbeziehungen“, zunächst den in älteren Werken benutzten Begriff ʻPaarbeziehungʼ durch ʻLiebesbeziehungʼ.

Bei Erlischen dieses bisher ungenau definierten Gefühls der ʻLiebeʼ werden Beziehungen heutzutage meist aufgelöst. Jürg Willi betrachtete wie viele seiner Kollegen und Kolleginnen als Paartherapeut Trennungen bzw. Trennungsempfehlungen sehr kritisch (vgl. ??188). Im vorliegenden Werk plädiert er vehement dafür, sich zumindest eingehend mit dem „Scheitern“ der Paarbeziehung auseinanderzusetzen, da dies stark mit der persönlichen Entwicklung zusammenhängt. Generell lässt sich das Buch wie das gesamte Lebenswerk Willis als Plädoyer für die hohe und unersetzbare Bedeutung von Liebesbeziehungen für die individuelle Entfaltung lesen:

Die Erkenntnis, dass wir uns durch den Kontakt mit dem andern anders entwickeln, als wenn wir alleine sind, halte ich auch aus theoretisch-wissenschaftlicher Sicht für wichtig. (Willi zu Niederer 2014).

Jürg Willi beschreibt die Liebesbeziehung als einen Prozess von aufeinanderfolgenden Phasen mit spezifischen Herausforderungen, welche sich auch in der persönlichen Entwicklung widerspiegeln. Dabei betrachtet er die Beziehungen stets unter dem Aspekt der ʻKoevolutionʼ, daher „der wechselseitigen Beeinflussung der Selbstverwirklichung in der Partnerschaft“ (Willi 2002:126). Jürg Willi hebt hervor, dass die einzelnen Partner dabei, aufgrund der sehr genauen Kenntnis des anderen, für diesen sozusagen als „Stimme des Unbewussten“ fungieren (vgl. Willi 2002:10).

Die erste Beziehungsphase, die Phase der Verliebtheit, beruht nach Ansicht des Psychotherapeuten darauf, dass bei beiden Personen eine „Liebessehnsucht“ vorausgeht. In diesem Zustand genügt ein Individuum sich selbst nicht mehr und erhofft sich von einer Liebesbeziehung bewusst oder unbewusst die Entfaltung und Entwicklung ihres persönlichen Potentials. Auch wenn es durchaus überzeugte Singles gibt, schlussfolgert Willi, dass das Alleinleben für die meisten Menschen nicht die eigentlich gewünschte Lebensform ist, sondern die zweite Wahl (vgl. Willi 2002:129).

Bezüglich der Partnerwahl im jüngeren Erwachsenenalter hebt Jürg Willi die aktuelle Beziehung zur Herkunftsfamilie als Einflussfaktor hervor. Dabei kommt es entweder zu einer Abgrenzung zu den Eltern oder zur Fortführung familiärer Traditionen. Bei der Partnerwahl in späteren Lebensphasen sind hingegen Erfahrungen aus früheren Beziehungen ausschlaggebend.

Beim ersten Zusammentreffen zweier Personen, welche sich binden wollen, werden relevante Informationen innerhalb kürzester Zeit durch direkte und indirekte Kommunikation erschlossen. Vor allem die intuitive Einschätzung des Selbstwertgefühls des anderen ist Voraussetzung für einen unbewussten Vergleich sowie der darauf beruhenden Rollenzuweisung. Dabei unterstreicht Willi, dass „persönliche Entfaltung [...] am wirksamsten herausgefordert [wird] durch zwei etwa gleich starke Partner.“ (Willi 2002:136). Bei der Partnerwahl kommt jedoch stattdessen oftmals zu sogenannten „kollusiven Arrangements“, welche unbewusst eine Kompensation von neurotischen Beziehungsängsten darstellen. Der Begriff ʻKollusionʼ, welchen Jürg Willi bereits 1975 entwickelte, besagt, dass zwei Partner mit ähnlich gelagerten Defiziten in der Liebe zueinander finden. Dabei übernimmt einer die „regressive Verwirklichung“, und „sucht die Erfüllung der eigenen Sehnsüchte im Erfüllen der Sehnsüchte des anderen“. (Willi 2002:181).

Der Partner, welcher die progressive Verwirklichung anstrebt, erhofft sich durch sein hilfloses Verhalten kindliche Sehnsüchte zu erfüllen. Auch wenn es scheint, dass dieses Modell die Partner symbiotisch zusammenarbeiten lässt, verhindert es die persönliche Entfaltung und es „besteht die Gefahr einer Gleichgewichtsstörung“ (Willi zu Niederer 2014). Da die Partner bei der Kollusion auf unbewusster Ebene (im psychoanalytischen Sinne) miteinander agieren, nehmen sie sich jeweils als „Opfer“ bzw. „Betroffener“ von den daraus entstehenden Beziehungskonflikten wahr (vgl. Willi 2002:205).

Dieser gegenseitige Ausgleich wird jedoch erst zur Störung bzw. Gefahr der Beziehung, wenn die Realisierung der Erwartungen zum Zwang und zur Verpflichtung wird. Dies geschieht dadurch, dass die Partner den jeweils anderen dauerhaft zur Selbststabilisierung braucht, was darin resultiert, dass z.B. der regressiv agierende Partner, bei Nachlassen der Helfermotivation des Partners seine Hilflosigkeit verstärkt, um Hilfe zu erzwingen, oder im umgekehrten Falle es vom progressiv agierenden Partner zu einer Art Überfürsorge kommt. Jürg Willi hält fest, dass „[a]uf jeden Ausbruchsversuch aus dem gewohnten Verhalten […] gleich wieder so reagiert [wird], dass er in das kollusive Muster zurückführt.“ (Willi 2002:212).

Im Gegensatz dazu ist hervorzuheben, dass diese Form der Liebesbeziehung mit ihren ambivalenten Rollenmustern in gesundem Maße auch durchaus entwicklungsfördernd für diese sein kann und zwar, Wenn das Paar erkennt, dass seine unterschiedlichen Positionen aufeinander bezogen sind und dadurch eine Bedeutung erhalten. Beide haben einen Partner, mit dem sie sich entfalten können – entweder in ihrem regressiven oder ihrem progressiven Verhalten. Beides ist gleichwertig. Man kann nicht sagen, der eine ist der Starke und der andere der Schwache. Denn beide brauchen einander. Das gibt der Beziehung viel Konsistenz. Damit kann man arbeiten (Willi zu Niederer 2014).

Willi warnt davor, dass die unbewusste gegenseitige Abhängigkeit zu einem Dauerzustand werden kann, da diese lediglich vorübergehend als hilfreich bzw. erfüllend erlebt wird, in längerfristigen Konstellationen ohne ausreichende Reflexion jedoch meist zu einer destruktiven Partnerschaft führt (vgl. Willi 2002:213).

Der in der Psychoanalyse oftmals propagierte „Wiederholungszwang“ wird von Willi nicht gestützt. Im Gegenteil, betont er, dass Menschen mit Beziehungsstörungen ihre „Fehler“ in einer neuen Partnerschaft nicht wiederholen wollen und sie sogar oftmals intuitiv Partner wählen, welche ihre unbewussten Sehnsüchte nicht erfüllen. Dabei ist entscheidend, ob die „Partner sich zu Kollusionen verführen lassen oder ob sie den Widerstand gegen ein ihnen angetragenes Angebot aufrechtzuerhalten vermögen.“ (Willi 2002:215). Diese Beziehungssituation bezeichnet Willi als „gesunde Koevolution“, welche eine gut funktionierende Form des Zusammenlebens darstellt, die gegenseitige Respektierung der Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit erfordert (vgl. Willi 2002:213).

[I]n meinem Verständnis beruht Liebe nicht in der Befriedigung definierter Bedürfnisse, sondern ist ein Prozess des Werdens, ein Prozess der Entwicklung zweier Menschen in der Wechselwirkung ihrer Beziehung, eine Koevolution.“ (Willi 2002:16)

Am Ende seines Buches „Psychologie der Liebe“ hebt Jürg Willi hervor, dass seine Nachuntersuchungen von Trennungen und Paartherapie aufzeigen, dass heutzutage im Allgemeinen differenzierter und kompetenter mit Konflikten in der Partnerschaft umgegangen wird (vgl. Willi 2002:305). Die Studie wurde im Jahre 2002 durchgeführt und befragte 96 Paare ein bis acht Jahre nach Abschluss der Paartherapie, welche fünf bis 23 Paarsitzungen umfasste. Davon haben sich 45 Paare getrennt, knapp 40 % dieser in oder nach der Paartherapie. Aufzeigen ließ sich in der Nachuntersuchung, dass „die psychischen Traumatisierungen und die gesundheitlichen Schäden bei Trennungen für die betroffenen Partner und deren Kinder geringer werden als früher“ (Willi 2002:305 f.) Dies sieht Jürg Willi als Fortschritt unseres Zeitalters und hebt hervor, dass dieser verbesserte Umgang mit Konflikten in der Partnerschaft sich innerhalb der Persönlichkeit manifestiert und es dadurch auch das Konfliktpotential in anderweitigen zwischenmenschlichen Beziehungen verbessert. Er hält dementsprechend fest, dass sich „[d]ie Liebesbeziehung [...] als intensivste Förderung der persönlichen Entwicklung im Erwachsenenleben“ erweist (Willi 2002:305).

3. Stellungnahme

Ich fand es höchst interessant mich mit einem Ansatz der Paar- bzw. Liebespsychologie auseinanderzusetzen. Überrascht hat mich vor allem, dass bis in die 1960er Jahre kaum Forschung über Partnerschaften existierte und auch die Paartherapie sich noch in ihren Anfängen befand. Dadurch wurde mir erst richtig bewusst, dass die heutzutage weit verbreiteten „Liebespaare“ ein in der Geschichte neuartiges Phänomen sind.

Positiv hervorzuheben ist zunächst, dass Jürg Willi versucht seinen Ansatz auch Laien verständlich zu machen und dabei auch Praxisbeispiele aufführt, welche auf seinen eigenen Erfahrungen basieren. Interessant war, dass ich mich dabei erwischt habe, meine eigene Beziehung sowie die von Familienangehörigen, Freunden und Bekannten in Jürg Willis Konzept einzuordnen.

Es lässt sich des Weiteren hervorheben, dass Jürg Willi selbst zeit seines Lebens seinen Erkenntnissen bzw. Ratschlägen gefolgt ist, da er seit über 50 Jahren eine glückliche Liebesbeziehung führt und sagt, dass er dieselbe Frau wieder heiraten würde (Willi zu Niederer 2014). Zwar hebt er selbst hervor, dass er wohl lediglich ein Glückspilz sei, jedoch kann dieser Aspekt durchaus als Paradebeispiel für das Gelingen einer lebenslangen Liebesbeziehung ins Feld geführt werden.

Für mein Verständnis waren vor allem die von Jürg Willi selbst beschriebene Abgrenzung seines beziehungsökologischen Ansatzes von anderweitigen therapeutische Ansätzen bzw. die Integration von Elementen dieser gewinnbringend.

Was ich an Jürg Willis Ansatz bzw. seiner Studien jedoch kritisch sehe, ist der starke Fokus auf Ehegemeinschaften. Gerade vor dem Hintergrund, dass eine seiner Studien aus dem Jahre 1997 über die Bedeutung des Verliebtseins herausfand, dass „Ledige mit stabiler Beziehung […] sich signifikant häufiger als glücklich in der Partnerschaft [beschreiben] als die Verheirateten“ (Willi 2002:19). In seinem Buch „Psychologie der Liebe“ führt er diesbezüglich lediglich unüberprüfte Hypothesen auf, wie „dass die Singles sich deshalb nicht zur Ehe entschließen, weil ihr Partner für sie nicht die große Liebe ist“ (Willi 2002:19). Allein schon die Bezeichnung „Single“ für eine Person, welche sich in einer stabilen Beziehung befindet und diese eventuell auch als „lebenslange Partnerschaft“ sieht, zeigt eine gewisse Herabstufung Willis. Ich hätte mir an dieser Stelle Verweise auf wissenschaftliche Studien gewünscht statt persönliche Annahmen.

Auch wenn Willi auf Trennungen zu sprechen kommt, spricht er lediglich „Trennung durch Tod“ und „Trennung durch Scheidung“ an und klammert somit die Auflösung eheähnlicher Gemeinschaften aus. Ebenso verhält es sich mit der Beschreibung von Beziehungen die auf eine Trennung folgen können. Jürg Willi spricht auch an dieser Stelle lediglich von „Zweitehen“ und vergleicht diese mit den „Erstehen“. Auch wenn eine Statistik vom Statistischen Bundesamt[2], aufzeigt, dass die Zahl der Eheschließungen in Deutschland den letzten signifikanten Rückgang 2001 verbuchte und seitdem ziemlich konstant bei ca. 380.000 blieb, denke ich, dass es auch immer mehr eheähnliche Gemeinschaften gibt. Leider habe ich diesbezüglich keine Zahlen gefunden. Die bereits erwähnte Statistik zeigt zwar auf, dass die Anzahl nicht-ehelicher Kinder in Deutschland stetig ansteigt und im Jahre 2014 in Bezug auf 1000 Lebendgeborene bei 349,8 liegt (2001 lag dieser Anteil noch bei 250,3), jedoch ist daraus nicht ersichtlich in welcher Beziehung die Eltern zueinander stehen.

Zudem scheint Willi die sexuelle Zufriedenheit zu weiten Teilen auszuklammern, obwohl die Studie aus dem Jahre 1994 klare Unzufriedenheit der Befragten bezüglich des gemeinsamen Sexuallebens, Zärtlichkeit und Erotik aufzeigt im Vergleich zum ersten Jahr der Beziehung. Auch wenn die Befragten diese Beziehungsaspekte auf die hinteren Plätze der Rangliste setzen, denke ich, dass gerade dies ein Aspekt ist, den es zu hinterfragen gilt. Vor allem inwiefern die Rangliste mit der Zufriedenheit der einzelnen Faktoren korreliert.

Insgesamt finde ich Jürg Willis Ansatz jedoch sehr nachvollziehbar und unterstützenswert, da ich denke, dass seine Hervorhebung interpersoneller Wechselwirkungen innerhalb einer Partnerschaft und die Absage an eine durch und durch romantische und hingebungsvolle Sichtweise von Liebesbeziehungen zu einer realistischeren Betrachtung dieser führen. Infolgedessen kann es, wenn die Partner sich dieser gegenseitigen Beeinflussung bewusst sind, zu einem konstruktiveren Zusammenleben kommen.

Bibliographie

Berger, Jörg: Liebe lässt sich lernen. Wege zu einer tragfähigen Paarbeziehung.

Berlin, Heidelberg: Springer 2014.

Binkert, Dörthe: Das Porträt: Jürg Willi. Der Anatom der „Zweierbeziehung“.

- In: Psychologie heute 2009 Vol. 36 (12). S.72-77.

Niederer, Alan: Der Paartherapeut Jürg Willi im Gespräch. „Persönliche Beziehungen sind das Wichtigste.“ Interview von Jürg Willi am 15.03.2014. URL: http://www.nzz.ch/zuerich/persoenliche-beziehungen-sind-das-wichtigste-1.18263391 (12.10.2015)

Statistisches Bundesamt: Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Zusammenfassende Übersichten Eheschließungen, Geborene und Gestorbene.Wiesbaden 2015. URL: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Bevoelkerung/Bevoelkerungsbewegung/ZusammenEheschliessungenGeboreneGestorbene5126102147004.pdf?__blob=publicationFile (13.10.2015)

Willi, Jürg: Psychologie der Liebe. Stuttgart: Klett-Cotta 2002. 3. Aufl.

[1] Es handelt sich hierbei um ein Zitat aus einem Interview. Näheres in der Bibliographie.

[2] Statistisches Bundesamt: Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Zusammenfassende Übersichten Eheschließungen, Geborene und Gestorbene.Wiesbaden 2015.

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Paarbeziehung und Persönlichkeitsentwicklung nach Jürg Willi
Hochschule
Universität zu Köln
Note
1,0
Autor
Jahr
2015
Seiten
12
Katalognummer
V436411
ISBN (eBook)
9783668767423
ISBN (Buch)
9783668767430
Dateigröße
545 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
paarbeziehung, persönlichkeitsentwicklung, jürg, willi
Arbeit zitieren
Janine Jonelat (Autor:in), 2015, Paarbeziehung und Persönlichkeitsentwicklung nach Jürg Willi, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/436411

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