Die Börse nach dem 11. September 2001 - Irrationale Kursreaktionen oder neues Vertrauen in das System?


Seminararbeit, 2002

43 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einführung

1. Analyse der Kursreaktionen an den Börsen
1.1 Kurzfristige Reaktionen an DAX und Dow Jones infolge der Anschlagserie
1.1.1 Der Deutsche Aktienindex (DAX) vom 11. September bis zum 23. September
1.1.2 Der Dow Jones Industrial Index (DJII) vom 17. September bis zum 23. September
1.2 Mittelfristiger Trend des DAX vom 24. September bis Ende November

2. Börse und Preisbildung
2.1 Die Theorie des effizienten Marktes
2.2 Funktion der Börse in der Wirtschaft
2.3 Risiko als Einstiegskriterium

3. Historische Krisen und deren Auswirkungen auf die Entwicklung der Börse
3.1 Der große Crash von 1927
3.2 Der Angriff auf Pearl Harbor
3.3 Der Crash von 1987
3.4 Der Golfkrieg

4. „Hausse“ und „Baisse“ an der Deutschen Börse
4.1 Das Thomas-Theorem
4.2 Excess Bubbles an DAX und Nemax
4.2.1 Kulturelle Faktoren
4.2.2 Strukturelle Faktoren

5. Soziologischer Erklärungsansatz

Zusammenfassung und Ausblick

Literaturverzeichnis

Anhang

Einführung

Die beispiellose terroristische Anschlagserie am 11. September 2001 wird als eines der schlimmsten Ereignisse in die Geschichte der USA eingehen. „You will never forget this day as long as you live“ kommentiert ein Anchorman des amerikanischen Fernsehsenders CNN die Ereignisse. Tatsächlich werden viele Menschen rund um den Globus die schrecklichen Bilder und die besonderen individuellen Lebensumstände, in denen sie sich befanden als sie von der Terrorwelle Kenntnis erlangten, im Gedächtnis behalten.

Die vorliegende Seminararbeit „Die Börse nach dem 11. September 2001 – Irrationale Kursturbulenzen oder neues Vertrauen in das System?“ möchte die Folgen der Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon aus Perspektive der Kursreaktionen an den Finanzzentren untersuchen. Ausgangspunkt der Überlegungen bildet dabei die Beobachtung, dass bereits kurze Zeit nach der Anschlagserie die Aktienkurse an den internationalen Finanzzentren wieder steigen. Dabei werden die folgenden, teilweise in der Themenüberschrift bereits angedeuteten, Fragestellungen im Vordergrund der Ausführungen stehen: Wie haben die Märkte unmittelbar nach den Anschlägen reagiert? Handelt es sich um irrationale Übertreibungen der Marktteilnehmer oder sind die Wertpapierverkäufe auf der Grundlage rationaler Überlegungen zu erklären? Wie haben die Börsen in der Folgezeit der Terrorwelle reagiert? Kann kurze Zeit nach dem 11. September bereits von einer Trendwende gesprochen werden? Wie hat die Börse in der Vergangenheit politische und/oder wirtschaftliche Krisenereignisse verarbeitet und welche Schlussfolgerungen können daraus für den Untersuchungsgegenstand abgeleitet werden? Welche andere nicht auf Fundamentaldaten basierende Faktoren sind für die Preisbildung an der Börse von Bedeutung? Welche Beiträge kann die Vertrauenssoziologie für die Erklärung der sich abzeichnenden Tendenzen liefern?

Es wird interessant sein, diese Fragestellungen aus der Perspektive der Börse zu untersuchen, wird doch das Tagesgeschehen sowohl in den USA als auch in Europa durch die wirtschaftlichen und politischen Folgen der Anschlagserie bis heute spürbar geprägt.

Die Seminararbeit ist wie folgt strukturiert: Im ersten Abschnitt werden die Kursreaktionen und die ihnen zugrundeliegenden Einflussfaktoren an den Aktienbörsen in Deutschland und in den USA zusammengefasst. Dabei wird zwischen den unmittelbaren Reaktionen bis zum Tiefststand am 23. September einerseits und dem mittelfristigen Aufwärtstrend bis zum November 2001 andererseits unterschieden. Im darauffolgenden Kapitel soll das „System Börse“ näher untersucht werden. Dabei wird die informationstheoretische Erklärung für die Preisbildung an der Börse und die Funktion der Börse in der Wirtschaft ausgeführt sowie ein soziologischer Erklärungsansatz für ein Engagement in fungible Wertpapiere anhand des Luhmann’schen Risikobegriffs abgeleitet. In Kapitel 3 werden Historische Krisen und deren Auswirkung auf die Entwicklung der Börse in den USA sowie Deutschland skizziert. Die Ausführungen zu den dargestellten vergangenen politischen und wirtschaftlichen Krisenereignissen werden Aufschlüsse über die Krisenverarbeitungsfähigkeit der internationalen Finanzzentren geben. Der daran anschließende vierte Abschnitt wird psychologische, kulturelle und strukturelle Faktoren für die Preisbildung und die Kursentwicklung an der deutschen Börse untersuchen. Das Hauptaugenmerk gilt dabei dem bislang beispiellosen Wechsel von „Hausse“ und „Baisse“ in Abwesenheit von Krisenereignissen und wird eine Erklärung für das Preisniveau sowie die Marktverfassung im September 2001 geben. In Kapitel 5 werden soziologische Erklärungsansätze zur Vertrauensbildung erörtert. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse und ein Ausblick auf die weitere Entwicklung der Börse werden die Seminararbeit abschließen.

1. Analyse der Kursreaktionen an den Börsen

Die weltweiten Aktienmärkte stehen unmittelbar nach der Anschlagserie unter dem Einfluss der fortlaufenden Ereignisse in New York und Washington. Unter den Marktteilnehmern herrscht Fassungslosigkeit und diese Verunsicherung schlägt sich in Konsequenz in den Aktienindizes der großen Marktsegmente nieder.[1]

Im folgenden sollen die kurzfristigen Kursreaktionen am deutschen und am amerikanischen Aktienmarkt in der Zeit vom 11. September bis zum Monatsende November näher beleuchtet werden. Dabei wird insbesondere auf die Entwicklung des Deutschen Aktienindexes (DAX) und des Dow Jones Industrial Index (DJII) eingegangen, die meiner Auffassung nach die Stimmung der Marktteilnehmer an den Aktienmärkten insgesamt widerspiegeln. Bei den mittelfristigen Kursreaktionen werden die Ausführungen auf den deutschen Aktienmarkt beschränkt, weil die tendenziellen Entwicklungen sowie die zugrundeliegenden Ursachen für die Reaktionen an beiden Märkten ähnlich sind. Somit soll die Aufmerksamkeit des Lesers sukzessive auf den deutschen Aktienmarkt gelenkt werden.

1.1 Kurzfristige Reaktionen an DAX und Dow Jones infolge der Anschlagserie

1.1.1 Der Deutsche Aktienindex (DAX) vom 11. September bis zum 23. September

Nach den ersten Berichten über die Terroranschläge notiert der DAX im Minus. Zwischenzeitlich verliert der Index der dreißig größten deutschen Aktiengesellschaften 12 Prozent gegenüber dem Vortag. Bei turbulentem Handel, aber niedrigen Umsätzen schließt der DAX in Frankfurt um mehr als 8 Prozent unter dem Vortagesniveau (siehe Abbildung 1).[2]

Am schlimmsten trifft es in dieser frühen Phase die Versicherungswerte und Fluggesellschaften, die von den Anschlägen direkt betroffen sind. Die Münchener Rückversicherung verliert bis zum 12. September rund 7 Mrd. an Börsenwert, weil das Unternehmen der größte Rückversicherer des World Trade Center ist und daher für Schäden in besonderem Umfang haftet. Nach einer Ad-hoc-Meldung der Gesellschaft beziffert der Vorstand die Höhe des Versicherungsschadens des World Trade Center sowie der benachbarten eingestürzten Gebäude auf 2,1 Mrd. Euro, „dem mit Abstand größten Schaden in ihrer (der Gesellschaft, Anm. der Verfasser) Geschichte“ (vgl. Abbildung 2).[3]

Bis zum 23. September verdichten sich Hinweise, dass die Drahtzieher der Anschlagserie den Aktienkurs der Münchener Rück. durch illegale Insidergeschäfte zusätzlich belastet haben könnten. Das Mittel hierzu wären Leerverkäufe am Kassamarkt oder der Kauf von Put-Optionen am Terminmarkt.[4] So berichten beispielsweise der Nachrichtensender n-tv und Spiegel-online, dass die Aktien der Münchener Rück. im Vorfeld der Terrorwelle bei unverhältnismäßig hohen Umsätzen stark gefallen seien. Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass die Attentäter hier durch Leerverkäufe großen Umfangs am Markt tätig waren, um die Wertpapiere nach dem Anschlag günstiger zurückzukaufen. Darüber hinaus bestätigt Bundesbankpräsident Welteke ungewöhnlich hohe Umsätze bei deutschen Finanzmarktgeschäften mit Gold, Öl sowie in Aktien von Fluggesellschaften. Die Finanzminister der Europäischen Union ordnen daraufhin eine formelle Untersuchung der verdächtigen Finanzmarkttransaktionen an.[5]

Auch in den USA gibt es Hinweise auf illegale Insidergeschäfte. So berichtet die Nachrichtenagentur Bloomberg, dass der Handel mit Verkaufsoptionen der beiden von den Anschlägen betroffenen Fluggesellschaften United Airlines und American Airlines im Vorfeld des 11. September um 285-mal höher gewesen sei als an einem normalen Handelstag (siehe Abbildung 3).[6] Auch hier beschließen die zuständigen Börsenaufsichtsbehören eine formelle Prüfung auf auffällige Finanzmarkttransaktionen.

Eine Aufklärung von Unregelmäßigkeiten ist dennoch sehr schwierig. Zwar wird jede Transaktion an den Börsen in Deutschland wie in den USA genau aufgezeichnet, aber das Problem ist, dass die zum Handel zugelassenen Wertpapierdienstleistungsunternehmen nur ihren direkten Kunden kennen und mit ihm in Kontakt kommen. Wer allerdings als Geldgeber hinter den jeweiligen Finanzmarkttransaktionen steckt, bleibt den Banken und Brokern unbekannt. Es ist denkbar, dass zwischen dem ursprünglichen Auftraggeber und dem Kassa- bzw. dem Terminmarkt eine ganze Kette unterschiedlicher international agierender Kredit- und Finanzinstitute stecken, die alle auf ungewöhnliche Finanzgebaren hin überprüft werden müssten.[7] Darüber hinaus stellt sich den Ermittlungsbehörden eine zusätzliche Schwierigkeit, wenn ein Notar oder Rechtsanwalt – wie im angelsächsischen Raum üblich – als Treuhänder zwischengeschaltet ist, weil sich dieser auf sein Verschwiegenheitsgebot gegenüber den Ermittlungsbehörden berufen kann. Grundsätzlich sind also alle Finanzmarkttransaktionen zurück zu verfolgen, eine genaue Recherche aber ist zeit- und kostenaufwendig und die Aufklärungschancen von Unregelmäßigkeiten sind derzeit gering.

Die große Unsicherheit der Marktteilnehmer unmittelbar nach der Anschlagserie wird auch durch den Dax-Volatilitätsindex deutlich. Der sogenannte V-Dax misst die Schwankungsbreite der 30 größten börsennotierten Aktiengesellschaften Deutschlands. Während sich der V-Dax in den vergangenen vier Jahren innerhalb einer Bandbreite von 20 bis 30 Prozent bewegte, schließt er einen Tag nach der Terrorwelle bei 39,7 Prozent. Mit anderen Worten erwarten die Marktteilnehmer bei einem Dax-Schlussstand von rund 4.300 Indexpunkten am 12. September, dass der Index in den kommenden 45 Börsentagen in einer Bandbreite von 3.700 bis 4.900 Punkten schwanken wird (vgl. Abbildung 4).[8]

Die Volatilität ist als Risikokomponente ein wichtiger Indikator für das Option-Pricing. Je höher die Investoren die Volatilität einschätzen, desto teuerer sind c.p. die Optionsprämien bei Calls und Puts. So ist zu erklären, dass nicht nur Verkaufsoptionen kräftige Kursgewinne verbuchen, sondern dass auch Kaufoptionen bei fallenden Preisen der zugrundeliegenden Finanzaktiva an Wert hinzugewinnen können.

1.1.2 Der Dow Jones Industrial Index (DJII) vom 17. September bis zum 23. September

Erst am 17. September – d.h. sechs Tage nach der Anschlägen – eröffnet die New York Stock Exchange (NYSE) den Wertpapierhandel; das ist die längste Handelsaussetzung seit 80 Jahren. Es folgt ein Absturz des DJII in Etappen, weil die Aktien erst sukzessive zum Handel freigegeben werden. Bis zur Schlussglocke am Abend verbucht der Dow Jones einen Verlust von 7 Prozent oder 685 Zählern – dem größten absoluten Kursverlust in der Börsengeschichte des Indexes.[9]

Wie zuvor in Europa verlieren vor allem die Luftfahrt- und Versicherungstitel drastisch an Wert. Die Aktien der United Airlines Corporation, deren Flugzeug in einen der beiden Türme des WTC stürzte, schließen 43,6 Prozent im Minus (vgl. Abbildung 3).[10]

Doch trotz der dramatischen Kursverluste bei wenigen Einzelwerten ist an der Wall Street der befürchtete kollektive Crash ausgeblieben. Dafür gibt es meiner Auffassung nach vier Hauptgründe:

Erstens durch die sechstägige Schließung der Wall Street seit dem 11. September fehlt den internationalen Finanzmärkten die amerikanische Leitbörse, so dass sich bei großer Unsicherheit der Verkaufsdruck auf die europäischen Börsen und hier insbesondere auf Frankfurt konzentriert, die den Handel trotz der Anschlagserie weiterlaufen lässt. Da die meisten großen Aktiengesellschaften der Vereinigten Staaten auch in Deutschland gelistet sind, haben die Marktteilnehmer, wenn sie verkaufen wollten, ihre Anteile bereits auf dem deutschen Markt veräußert. Die deutsche Börse wirkte am 11. September und in der Folgezeit demzufolge wie ein Ventil für verunsicherte Anleger.[11]

Zweitens bedingt durch die Schließung der Wall Street haben die Marktteilnehmer Zeit, sich ein Bild über die Situation zu verschaffen, anstatt in einer völlig unübersichtlichen Ausnahmesituation kurzschlussartig zu verkaufen.

Drittens für die Beruhigung der Anleger sorgt insbesondere US-Notenbankchef Alan Greenspan, der kurz vor Handelbeginn der NYSE zur Stützung der Aktienmärkte überraschend die Leitzinsen um einen halben Prozentpunkt gesenkt hat, um die US-Wirtschaft mit zusätzlicher Liquidität zu versorgen und die Märkte insgesamt zu stabilisieren.[12]

Schließlich wird die von der amerikanischen Börsenaufsicht SEC[13] beschlossene Sonderregelung von den Marktteilnehmern positiv aufgenommen.[14] Die Sonderregelung gestattet an der Wall Street notierten Unternehmen, eigene Aktien ohne die sonst geltenden Umsatz- und Zeitbeschränkungen zurückzukaufen – eine Maßnahme, die schon bei der Asienkrise 1997 zur Stabilisierung der Aktienkurse erfolgreich war.

Auf der Grundlage der Ausführungen wird deshalb die folgende zu falsifizierende Hypothese formuliert:

H. 1: Die Kursreaktionen deutscher Aktien und dementsprechend das Verhalten der Marktteilnehmer im Zeitraum vom 11. September bis zum 23. September waren angesichts der Krisenereignisse irrational.

1.2 Mittelfristiger Trend des DAX vom 24. September bis Ende November

Kaufempfehlungen zum einen und die zeitliche Distanz zu den Terroranschlägen zum anderen lassen die Kurse am Deutschen Aktienmarkt wieder steigen. So empfehlen Analysten von Merryl Lynch und der WestLB die stark an Wert verlorenen Aktien der Münchener Rückversicherung zum Kauf. Die Banker spekulieren, dass der Rückversicherungsbranche – und allen voran dem Branchenprimus Münchener Rück – eine enorm steigende Nachfrage nach Versicherungsschutz bevorstehe und sind einhellig der Auffassung, dass die Unternehmen bei den neu zu verhandelnden Versicherungsverträgen höhere Prämienzahlungen als geplant verlangen werden, welche die hohen Verluste, bedingt durch die zu erwartenden Entschädigungszahlungen, mehr als kompensieren sollten.[15]

Diese Interpretation halte ich für zweifelhaft, sind doch die milliardenschweren Schäden aus möglichen Ansprüchen der Versicherten bis zu diesem Zeitpunkt kaum zu beziffern.

Darüber hinaus berichten Fondsmanager über ein geringeres Gewicht an Liquidität in ihren Portfolios.[16] Mit anderen Worten stehen Aktien wieder auf der Kaufliste institutioneller Investoren nicht zuletzt deshalb, weil einige Dax-Werte (wie Thyssen, Allianz und Commerzbank) mittlerweile ein Kursniveau unterhalb ihres Buchwertes erreicht haben und allein aus Risikogesichtspunkten sehr attraktiv sind.

Hinzu kommt, dass die Marktteilnehmer das besonnene diplomatische Vorgehen der US-amerikanischen Regierung im Kampf gegen die Terroristen positiv bewerten. Anstatt im Alleingang militärisch gegen Afghanistan vorzugehen, bemüht sich US-Präsident Bush intensiv um internationale Bündnispartner gegen den organisierten Terrorismus.

Insgesamt hat der DAX gut einen Monat nach der Terrorwelle seine Verluste der Tage um den 11. September wieder wettgemacht. Seit den Tiefständen am 23.9. von ca. 3.790 Punkten kann der Index um 25 Prozent zulegen und notiert am 11.10. bereits bei rund 4.720 Zählern; darin enthalten ist der größte 14-Tagesgewinn in der deutschen Aktiengeschichte. Preussag notieren 60 Prozent besser, BMW 55 Prozent, Deutsche Bank 49 Prozent und Siemens liegt 44 Prozent im Plus. Bis zum Monatsende November kann der DAX sogar 32 Prozent hinzugewinnen und liegt damit immerhin gut 7 Prozent über dem Niveau vor der Anschlagserie (vgl. Abbildung 1).[17]

Dieser rasante Anstieg muss, angesichts der immer noch herrschenden Unsicherheit durch ungeklärte Milzbrandfälle in den USA und/oder den US-Militärschlägen gegen den Terror, verbunden mit der latenten Angst vor möglichen Gegenangriffen der Terroristen, neben den oben angeführten auslegungsfähigen Gründen, weitere Ursachen haben.[18] Die folgende zu falsifizierende Hypothese:

H. 2: Die Kursreaktionen an der deutschen Börse im Zeitraum vom 24. September bis zum Ende des Monats November bilden den Beginn eines nachhaltigen Kursanstiegs an der Börse und belegen somit ein aufkeimendes neues Vertrauen in das System.

2. Börse und Preisbildung

Unter dem Begriff „Börse“ soll im folgenden ein organisierter Markt, auf dem fungible Wertpapiere durch das Zusammenwirken von Angebot und Nachfrage gehandelt werden, auf dem mindestens einmal täglich Preise festgestellt und notiert werden, der von staatlich anerkannten Stellen geregelt und überwacht wird, regelmäßig stattfindet und für das Publikum unmittelbar oder mittelbar zugänglich ist, verstanden werden.

Ein so definierter Börsenbegriff legt – abgesehen von der staatlichen Regulierung – die Vermutung nahe, dass dieser Markt dem ökonomischen Modell eines vollkommenen Marktes und seiner Erklärungen über die Preisbildung unter rationalen Erwartungen sehr nahe kommt. Mit Ausnahme des Devisenhandels, der weltweit fast rund um die Uhr stattfindet ist kein Markt so flexibel, so reaktionsschnell und so diversifiziert wie die Börse. Dabei scheinen bei all der Komplexität dieses Systems, minimale Verhaltensregeln der Akteure zu genügen, um die erfolgreiche Durchführung der Tauschgeschäfte unter Normalbedingungen zu gewährleisten.

Die weiteren Ausführungen werden auf die deutsche Börse beschränkt, weil eine detaillierte Betrachtung aller internationalen Finanzzentren den Rahmen dieser Seminararbeit sprengen würde. Es sei an dieser Stelle allerdings darauf hingewiesen, dass die in Kapital 3 „Historische Krisen und deren Auswirkungen auf die Entwicklung der Börse“ zu erläuternden Krisenereignisse auf die amerikanische Börse im allgemeinen und den DJII im besonderen bezogen werden. Einerseits, um eine in sich konsistente Erläuterung der Kursreaktionen zu gewährleisten.[19] Und andererseits, weil für den deutschen Markt ein den Gesamtmarkt abbildender Vergleichsindex bis in die frühen 1970er Jahre fehlte. Ich bin daher der Auffassung, dass es wenig Sinn macht, einen künstlichen Bezug der Krisen und deren Kursreaktionen mangels adäquater Vergleichsmöglichkeiten herzustellen.

2.1 Die Theorie des effizienten Marktes

Die Theorie des effizienten Marktes beruht auf der Prämisse, dass sich in den Preisen handelbarer Finanzprodukte im oben angegebenen Sinne, die jederzeitige vollständige Informiertheit der Allgemeinheit spiegelt. Mit anderen Worten sind Vermögensanlagen in Aktien oder sonstigen fungiblen Wertpapieren stets korrekt bewertet, weil sie alle öffentlich bekannten, kursrelevanten Informationen unverzüglich verinnerlichen.[20]

Die Effizienzthese geht ferner davon aus, dass Wertpapierkurse einem „random walk“ folgen. Kursänderungen sind demnach prinzipiell nicht vorhersagbar, weil gehandelte Wertpapiere auf neue Informationen reagieren, die eben aufgrund ihrer Neuheit nicht prognostizierbar sind.[21]

Modelle wie die Theorie des effizienten Marktes basieren auf der Annahme rationaler Erwartungen der Akteure und der Vorstellung, dass die Individuen ihre Erwartungen endogen auf der Basis des richtigen Modells der Wirtschaft bilden können.[22] Rationale Erwartungen wiederum setzen voraus, dass die Wirtschaftssubjekte das richtige Modell der Wirtschaft sowie alle historischen und aktuellen Realisationen der Modell-Variablen kennen und dass sie in der Lage sind, die Modell-Parameter und die exogenen Variablen verzerrungsfrei zu schätzen. Auf Basis dieses Wissens können dann verzerrungsfreie Schätzungen der endogenen Variablen gebildet werden. Mit anderen Worten bedeutet rationale Erwartung, dass die Individuen bei Kenntnis der stochastischen Prozesse der Variablen, Erwartungen als die zu den historischen Ausprägungen bedingten Erwartungswerte ermitteln. Wenn sie dies tun, dann kann es irrationale Kursreaktionen in einen überkauften bzw. überverkauften Aktienmarkt nicht geben (jedenfalls nicht langfristig und nicht systematisch), weil rationale Marktteilnehmer die Situation analysieren und zu dem Schluss kommen, dass die Preise falsch sind. Folglich würden rationale Akteure jene falsch bewerteten Finanztitel durch risikolose Arbitragegeschäfte solange handeln bis sich der ex-ante „falsche“ Preis wieder seinem auf Grundlage der verfügbaren Informationen beruhenden „richtigen“ Preis annähert.

Preise repräsentieren somit den aggregierten verstreuten Informationsbestand der Marktteilnehmer, so dass sich bei rationalen Erwartungen ein stets korrekt bewerteter Gleichgewichtspreis bilden sollte. Bei asymmetrischer Informationsverteilung zwischen den Marktteilnehmern jedoch, verfügen einzelne Individuen über private Informationen, die den restlichen Marktteilnehmern nicht bekannt sind, aber aufgrund ihrer öffentlichen Verfügbarkeit bekannt sein könnten und die Auswirkungen auf die Ausprägung zukünftiger Preise haben. Die Individuen lassen diese bekannten Informationen ebenfalls in ihre Erwartungsbildung einfließen. Preise erfüllen somit eine zweifache Funktion: Zum einen führen sie dazu, dass der Markt geräumt wird (Markträumungsfunktion) und zum anderen offenbaren sie jedem einzelnen aktiv am Markt tätigen Individuum die privaten Informationen aller anderen Individuen (Signalfunktion).[23] Wenn wir also davon ausgehen, dass Informationen nicht kostenlos beschafft werden können, dann werden durch Preise die privaten Informationen (bei asymmetrischer Informationsverteilung) einzelner Teilnehmer an alle anderen Akteure kostenlos zur Verfügung gestellt.

Die Hypothese des effizienten Marktes ist sehr populär und wird in der finanzwirtschaftlichen Literatur zur Erklärung der Preisbildung an Kapitalmärkten oft zitiert. Trotz ihrer Popularität wurde sie jedoch von empirischen Studien widerlegt und kann wegen ihrer restriktiven Annahmen offensichtlich auch der ökonomischen Realität nicht standhalten.

[...]


[1] o.V.: Trotz hochentwickelter Technologie – Die Ohnmacht der Geheimdienste, in: o.V.: n-TV.de, vom 12.9.01, http://www.n-tv.de/2473807.html, Stand: 14.11.2001.

[2] vgl. Abbildung 1 in der Anlage; Wirth, B., Exner, T.: Anschläge in den USA lösen Börsenbeben aus, in: Die Welt, vom 12.9.01, http://www.welt.de/daten/2001/09/12, Stand: 17.11.2001; Lemkemeyer, S.: Deutsche Börse wehrt sich gegen Kritik, in: Financial Times Deutschland, vom 13.9.01, http://www.ftd.de/ub/fi/FTD81DYKIRC.html, Stand: 14.11.2001.

[3] o.V.: Spekulationen über Insidergeschäfte, in: Die Welt, vom 17.9.01, http://www.welt.de/daten/2001/09/17/0917fi282609.htx?search=anschlag, Stand: 17.11.2001;

o.V.: Gerüchte um spekulierende Attentäter, in: Financial Times Deutschland, vom 14.9.01, http://www.ftd.de/bm/bo/FTDGXA5GLRC.html, Stand: 14.11.2001.; siehe Abbildung 2 in der Anlage.

[4] Klau, T., Lemkemeyer, S. : Terror in den USA – Hinweise auf Insiderhandel verdichten sich, in: Financial Times Deutschland, vom 24.9.01, http://www.ftd.de/bm/bo/FTDHVC3TZRC.html, Stand: 14.11.2001.

[5] o.V.: EU-Finanzminister gehen gemeinsam gegen Geldwäsche vor, in: Die Welt, vom 24.9.01, http://www.welt.de/daten/2001/09/24/0924wi284130.htx?search=world+trade+center, Stand: 17.11.2001.

[6] Häring, N.: Hoher Optionsumsatz vor Anschlägen, in: Financial Times Deutschland, vom 19.9.01, http://www.ftd.de/bm/bo/FTDHDBLNSRC.html, Stand: 14.11.2001; der Kursverlauf der beiden Unternehmen American Airlines und United Airlines ist in der Anlage (Abbildung 3) in Form eines Chart dargestellt.

[7] Exner, T., Zschäpitz, H.: Terroristen-Spuren an den Terminmärkten sind schwer zu verfolgen, in: Die Welt, vom 27.9.01, http://www.welt.de/daten/2001/09/27, Stand: 17.11.2001.

[8] Trost, W.: Starke Aktienkursschwankungen treiben Optionsscheine, in: Financial Times Deutschland, vom 13.9.01, http://www.ftd.de/bm/bo/FTDDCCYKIRC.html, Stand: 14.11.2001; o.V.: Dow-Jones-Put-Optionsscheine erzielen 1000 Prozent Plus, in: Die Welt, vom 24.9.01, http://www.welt.de/daten/2001/09/24, Stand: 17.11.2001; Abbildung 4 zeigt den Verlauf des V-Dax von 1996 bis November 2001.

[9] o.V.: Signal des Sieges, in: Financial Times Deutschland, vom 18.9.01, in: http://www.ftd.de/bm/bo/FTD1XYGQPRC.html, Stand: 14.11.2001; o.V.: Wall Street – Dow Jones unter 9000, in: Wirtschaftswoche, vom 18.9.01, http://wiwo.de/WirtschaftsWoche, Stand: 14.11.2001; Sachs, S., Weber, B.: Unsicherheit prägt Wiedereröffnung der Wall Street, in: Financial Times Deutschland, vom 17.9.01, http://www.ftd.de/bm/bo/FTDTPCPOORC.html, Stand: 14.11.2001.

[10] Abbildung 3 zeigt den Kursverlauf der Unternehmen United Airlines und American Airlines

[11] vgl. Lemkemeyer, S., a.a.O., http://www.ftd.de/ub/fi/FTD81DYKIRC.html, Stand: 14.11.2001.

[12] o.V.: Dow bricht ein – Fed und EZB stützen Märkte, in: manager-magazin, vom 17.9.01, http://www.manager-magazin.de/geld/artikel/0,2828,157538,00.html, Stand: 14.11.2001; Lebert, R.: Banken blicken nach vorn, in: Financial Times Deutschland, vom 12.9.01, http://www.ftd.de/ub/di/FTDUYCYKIRC.html, Stand: 14.11.2001.

[13] Securities and Exchange Commission

[14] vgl. o.V.: SEC beschließt Sonderregeln für Wiedereröffnung der US-Börsen, in: Financial Times Deutschland, vom 15.9.01, http://www.ftd.de/bm/bo/FTDYD5LVMRC.html, Stand: 14.11.2001;

[15] Dams, J.: Chance für Rückversicherer Aktien, in: Die Welt, vom 14.9.01, http://www.welt.de/daten/2001/09/14, Stand: 17.11.2001; vgl. Abbildung 2 in der Anlage.

[16] Christiansen, L.: Mutige kaufen Blue-Chip-Fonds, in: Die Welt, vom 23.9.01, http://www.welt.de/daten/2001/09/23, Stand: 17.11.2001.

[17] o.V.: Dax und Dow wieder auf Erfolgskurs, in: Die Welt, vom 30.10.01, http://www.welt.de/daten/2001/09/30/0930fi285599.htx?search=anschlag, Stand: 17.11.2001; vgl. Abbildung 5 in der Anlage.

[18] o.V.: Mysteriöse Todesfälle durch Milzbrand, in: Financial Time Deutschland, vom 08.10.01, http://www.ftd.de/pw/in/FTDXRSPQJSC.html, Stand: 17.11.2001; Miller, H.: Terrorangst – Epidemien unwahrscheinlich, in: Financial Times Deutschland, vom 09.10.01, http://www.ftd.de/pw/in/FTDQYK56LSC.html, Stand: 17.11.2001; Streck, M.: Milzbrand – unsichtbare Gefahr, in: Financial Times Deutschland, vom 10.10.01, http://www.ftd.de/pw/in/FTDI9O56LSC.html, Stand: 17.11.2001.

[19] Lang, A.: Indices für den deutschen Aktienmarkt, in: Die Bank, H. 11, 1993, S. 648 ff.

[20] Der Leser sei darauf hingewiesen, dass die Literatur drei Formen der Effizienzthese unterscheidet. Wir werden uns im folgenden auf die realitätsnahe „semi-strong-form“ beziehen; Elton, E., Gruber, M.: Modern Portfolio Theory and Investment Analysis, 5. Edition, New York u.a. 1995, S. 406 ff.; dazu auch Sauders, E.: Testing the Efficient Market Hypothesis without assumptions, in: Journal of Portfolio Management, Vol. 20, H. 4, 1994, S. 28 ff.

[21] Brealey, R., Myers, S.: Principles of Corporate Finance, 6. Edition, Boston u.a. 2000., S. 354 ff.

[22] Wienert, H.: Theorie der Rationalen Erwartungen – Grundmerkmale, wirtschaftspolitische Implikation und kritische Würdigung, in: WIST, H. 3, 1999, S. 131 ff.; Shiller, R.: Irrationaler Überschwang – Warum eine lange Baisse an der Börse unvermeidlich ist, aus dem Engl. von Kleidt, B., Frankfurt am Main/New York 2000, S. 197 ff.

[23] vgl. dazu Coche, J.: Kapitalmarkteffizienz aus der Perspektive evolutorischer Ökonomik, Frankfurt am Main 1999, S. 10 ff.

Ende der Leseprobe aus 43 Seiten

Details

Titel
Die Börse nach dem 11. September 2001 - Irrationale Kursreaktionen oder neues Vertrauen in das System?
Hochschule
Universität Trier
Veranstaltung
Internationale Bank- und Finanzsoziologie
Note
1,0
Autor
Jahr
2002
Seiten
43
Katalognummer
V43574
ISBN (eBook)
9783638413374
Dateigröße
1337 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit untersucht die Kursreaktionen an den internationalen Finanzmärkten in der Folgezeit des 11. September 2001 und gibt einen informationstheoretischen und soziologischen Erklärungsansatz. Dabei helfen auch politische Börsen aus der Vergangenheit.
Schlagworte
Börse, September, Irrationale, Kursreaktionen, Vertrauen, System, Internationale, Bank-, Finanzsoziologie
Arbeit zitieren
Axel Puschke (Autor:in), 2002, Die Börse nach dem 11. September 2001 - Irrationale Kursreaktionen oder neues Vertrauen in das System?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/43574

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