Erforschung von "wilden" Kindern und ihr Beitrag für die Spracherwerbstheorie


Bachelorarbeit, 2008

33 Seiten, Note: 2,3

Anonym


Leseprobe


Inhalt

0. Einleitung

1. Kurze Einführung in die 4 Spracherwerbstheorien
1.1 Behaviorismus
1.2 Nativismus
1.3 Kognitivismus (konstruktivistischer Ansatz)
1.4 Interaktionismus

2. Angeborene Fähigkeiten und Mechanismen hinsichtlich der menschlichen Sprache
2.1 Einführung
2.2 Pränataler Spracherwerb
2.3 Die kritische Periode

3. „Wilde“ Kinder: erster sprachlicher Input nach
3.1 Genie
3.2 Chelsea

4. „Wilde“ Kinder: erster sprachlicher Input vor oder während der kritischen Periode (mit anschließender Isolation)
4.1 Kaspar Hauser

5. Fazit – Versuch einer eigenen angemessenen Spracherwerbstheorie

6. Literaturverzeichnis

0. Einleitung

Als generelle Voraussetzung um überhaupt Sprache erwerben zu können, ist ein Säugling mit Fähigkeiten ausgestattet, wie zum Beispiel Dinge wahrnehmen, voneinander unterscheiden und sie im Gedächtnis behalten zu können. Schon von Beginn an versucht der Mensch die Dinge, die er wahrnimmt, in Kategorien zu ordnen, diese Fähigkeit ist für den Spracherwerb sehr wichtig. Kinder mit späteren Sprachproblemen, weisen oft Defizite in diesen sogenannten Vorausläuferfähigkeiten auf. Bei den „wilden“ Kindern muss man berücksichtigen, will man ihren Sprachstand untersuchen und feststellen, wie viel sie sprachlich erreichen können, obwohl sie ohne sprachlichen Input aufgewachsen sind, welche sprachlichen Fähigkeiten, sowohl im aktiven Gebrauch als auch in der Rezeption, schon von Geburt an vorhanden sind, um genau sagen zu können, wie wichtig äußerer sprachlicher Einfluss für den Spracherwerb ist.

Ein Problem macht folgendes Zitat deutlich:

„Die ersten wichtigen Arbeiten zum kindlichen Spracherwerb sind Tagebuchstudien, in denen die sprachliche Entwicklung und oft auch die allgemeine kognitive oder auch motorische und musische Entwicklung eines Kindes dokumentiert wurde.“[1]

Über weiter zurückliegende Fälle vom Spracherwerb normal entwickelter oder „wilder“ Kinder gibt es leider nur wenige, aus linguistischer Sicht, brauchbare Daten und Aufzeichnungen, dennoch sind einige Fälle durchaus als wichtige Hinweise zu gebrauchen, will man den Spracherwerb anhand vorhandener Theorien analysieren.

Diese Arbeit versucht, anhand von vorhandenen Daten zu „wilden“ Kindern, den Wahrheitsgehalt der vorhandenen Spracherwerbstheorien zu erforschen und auf eine angemessene zusammenzufassen.

1. Kurze Einführung in die 4 Spracherwerbstheorien

1.1 Behaviorismus

Im Behaviorismus, der sich um [2] 1920 entwickelte, wird Sprache als eine Form des Verhaltens gesehen. Es geht nicht mehr um Langzeitbeobachtungen zur sprachlichen Entwicklung einzelner Kinder, sondern um den generellen, natürlichen Verlauf, der mit Hilfe großer Datenmengen erfasst wird.

Besonders die Größe des Wortschatzes, die durchschnittliche Satzlänge und die Aussprache werden fokusiert.

„Für Skinner ist sprachliches Verhalten wie jedes Verhalten ein Ergebnis von Konditionierung“[3]. Kinder hören sprachliche Äußerungen (= stimulus), imitieren diese (= response) und werden in diesem Verhalten verstärkt (= reinforcement). Nach dieser Theorie kann ein Kind nur solche Wörter artikulieren, die es schon einmal gehört hat. Da die Merkspanne bei Kindern noch nicht voll entwickelt ist, werden Phrasen oder Sätze nicht genau kopiert, sondern verkürzt wiedergegeben. Durch folgende Selektion, werden nur bestimmte Äußerungen bestärkt und modellieren so nach und nach das Sprachbild des Kindes. Skinner gehört mit seinem Werk „Verbal Behavior“ von 1957 zu einem der wichtigsten Vertreter. 1965 versuchte verstärkt Noam Chomsky das behavioristische Model als unzureichend erklärend darzustellen, und stellte ihm natvistische Ansätze entgegen.

1.2 Nativismus

Schon Platon vertrat die Ansicht, dass wir mit einem[4] Grundwissen geboren werden. Bestimmte Ideen, die das Wesen der Dinge wiedergeben. So haben wir beispielsweise die Idee des Pferdes schon angeboren, das was das Pferd ausmacht und es von anderen Dingen unterscheidet. Die Seele hat ihr Wissen bei der Geburt zunächst vergessen und erlernt sie durch wiedererkennen erneut. Auf die Sprache angewendet bedeutet dies, dass jeder Mensch von Natur aus mit einem grammatischen Programm ausgestattet ist, dass für alle natürlichen Sprachen gilt, da, nach Chomsky, jedes Kind, jede natürliche Sprache erlernen kann (Language-Acquisition-Device). Chomsky spricht hier von einer Universalgrammatik, die besagt, dass jede Sprache gleiche Grundlagen hat, die angeboren sind. Er fasst es an seiner Bürotür in Massachusetts mit folgenden Worten zusammen: "Blickte ein Marsianer auf unsere Erde, er sähe alle Menschen die selbe Sprache sprechen - in Tausenden von Dialketen"[5], Für Derek Bickerton existiert im Menschen eine Art Bioprogramm (Learning Bioprogramm Hypotesis), dass in den ersten vier Lebensjahren dem Kind ermöglicht, auch ohne Hilfe von außen eine Sprache zu entwickeln. Fehler die das Kind macht erklärt er dadurch, dass das Kind überfordert ist, wenn es Sprache in einer falschen Reihenfolge lernt. Denn wann und was gelernt wird, legt das Programm fest.

Wie dieses Programm oder diese Universalgrammatik funktioniert und wirkt, ist nicht einheitlich und abgeschlossen definiert. Das sogenannte Poverty-of-Stimulus Argument wird häufig von Nativisten zur Unterstützung ihrer Position angeführt. Es besagt, dass der Input den wir im Laufe unseres Lebens erhalten zu gering sei um das Wissen zu rechtfertigen, das wir tatsächlich haben. Die Inputinformationen, die das Kind erhält, sind einerseits fehlerhaft und andererseits nicht eindeutig, so dass zu viele Interpretationen möglich sind.

1.3 Kognitivismus (konstruktivistischer Ansatz)

In kognitiven Ansätzen nimmt man an, „dass das[6] Kind Sprache erwirbt, indem es auf der Basis kognitiver Strategien Schlüsse über Formen und Strukturen zieht. Der zentrale Punkt ist, dass der Spracherwerb allein auf der generellen Symbolisierungsfähigkeit und der allgemeinen kognitiven Entwicklung des Kindes gründet.“[7]

Entwickelt wurde dieser Ansatz von dem Biologen und Entwicklungsphsychologen Jean Piaget. Die sprachliche Entwicklung ist stark an die kognitive Entwicklung geknüpft. Denken wird als eine Form des Handelns gesehen und entspringt diesem. Es ist der Sprache vorrausgehend. Die Intelligenz des Kindes entwickelt sich in Stufen, daran geknüpft, ebenso der Spracherwerb. Das eigentliche Ziel dieser sich entwickelnden Konstruktion ist das Erreichen eines Gleichgewichtes von Akkomodation (Anpassung an die Umwelt) und Assimilation (Anpassung der Umwelt an den Organismus)[8]. Die Entwicklung der Sprache funktioniert über die Bedeutungsseite, während die Grammatik mit Hilfe von Beziehungen entsteht ("semantic bootstrapping"). Beziehungen wie zum Beispiel die von Subjekt zu Verb sind aber nicht gleichwertig und auf alle Sprachen anwendbar. Ein häufig angeführter Kritikpunkt ist der, dass auch Kinder mit nicht eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten in der Lage sind, ihre Sprache in angemessener Form zu erlernen, genauso wie es im umgekehrten Fall Kinder gibt, die trotz gut ausgeprägter kognitiver Fähigkeiten einen defizitösen Sprachstand haben[9].

1.4 Interaktionismus

Dieser aus den 70er Jahren stammende Ansatz[10] (es gibt allerdings mehrere interaktionistische Erklärungsmodelle), setzt "Funktion und Gebrauch von Sprache und ihre sozialen Aspekte"[11] in den Vordergrund. Es geht um den gegenseitigen Austausch mit Bezugspersonen aber auch der Gemeinschaft im Allgemeinen. Durch von außenstehenden genutzte Werkzeuge wie die "Motherese" wird dem Kind die Sprache angepasst um ihm Verständnis und Reaktion zu erleichtern. Die "Motherese" wird auch als Ammensprache bezeichnet und ist semantisch und strukturell vereinfacht. Die Stimmlage ist hier höher als bei normaler Sprache, ebenso ist die Prosodie verstärkt markiert.

Viele Punkte werden ausgelassen oder nur sehr oberflächlich behandelt, weswegen dieses Modell die größte Aktualität und Wahrscheinlichkeit im direkten Vergleich zu den anderen dreien zu haben scheint, da das, was es aussagt, durchaus nachvollziehbar und zutreffend scheint. Es bleiben viele essentielle Fragen offen, auf die der Interaktionismus keine Antwort gibt (beispielsweise ob es nun angeborene Mechanismen gibt oder nicht, darüber herrscht keine Einigkeit unter den Vertretern).

2. Angeborene Fähigkeiten und Mechanismen hinsichtlich der menschlichen Sprache

2.1 Einführung

Kinder die in sprachlicher Isolation aufgewachsen sind, also ohne jegliche Form von menschlicher Sprache und zwar von Geburt an, zeigen gewisse angeborene Fähigkeiten auf Kommunikationsversuche zu reagieren und diese in gewisser Art auch einzuschätzen. So sind gewisse prosodische Kompetenzen in ihrer Anlage schon von Beginn an vorhanden, während sich die Sprachschallwahrnehmung ab der 27. Schwangerschaftswoche entwickeln[12]. Nach Hannelore Grimm ist ein Säugling bereits zwischen der 28 und der 36 Lebenswoche in der Lage auf Zusprache innerhalb von ½ Sekunde mit starkem Augenzwinkern zu reagieren[13]. Dies ist eine nicht anerzogene sondern natürlich vorhandene Fähigkeit, da auch „wilde Kinder“, die komplett ohne menschliche Nähe und Kommunikation aufgewachsen sind, Artikuliertes in ihrer unterschiedlichen Intention wahrnehmen und darauf reagieren können. Hier ist allerdings die These zu beachten, dass tierisches Verhalten von den Kindern, die unter Tieren aufwuchsen, übernommen worden sein könnte, da diese kommunikativen Äußerungen bei Tieren und Menschen mit ähnlicher Intention erfolgen (Schreien = Aggressivität). Es sind also Anfänge vorhanden, externe sprachliche Äußerungen richtig einzuschätzen, so fängt ein Baby nachweislich an zu weinen, wird es angeschrien oder es wird ruhiger bei sanfter Zusprache, was zeigt dass es ihm möglich ist durch die ihm vorgebrachte sprachliche Äußerung darauf schließen zu können ob es sich um eine aggressive, also potentiell gefährliche oder nicht bedrohliche Situation handelt.

2.2 Pränataler Spracherwerb

Ein weit verbreitetes Gerücht besagt,[14] dass das ungeborene Kind großen Nutzen daraus ziehen kann, wenn man ihm klassische Musik während der Schwangerschaft vorspielt. Angeblich erhöhen sich so Intelligenz, künstlerische Talente und Sprachgewandtheit. Ob diese Annahme der Wahrheit entspricht, ist nicht abschließend geklärt. Nachgewiesen sind allerdings sieben von Dittman aufgeführte Phänomene, die mit der pränatalen Sprachbeschallung einhergehen und Aufschluss über frühste Sprachwahrnehmung und dessen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes geben.

Erstens konnte anhand einer Saugratenmessung festgestellt werden, dass Babys die Stimme ihrer Mütter erkennen und bevorzugen. Die Stimmen müssen mit normaler Intonation und nicht monoton vorgespielt werden, da die Reaktion des Säuglings sonst nicht abweichend von der auf fremde Stimmen war. Wie in der Einführung dieses Kapitels schon erwähnt, beweist dies die prosodischen Fähigkeiten, die somit schon ein Säugling aufweist. Hier kommt das zweite Phänomen bestärkend hinzu, welches besagt, dass Babys Geschichten wiedererkennen, die ihnen schon im Mutterleib vorgelesen wurden (unabhängig davon, wer las). Es scheint sich also um eine Art "Gedächtnis für Sprachschalleindrücke"[15] zu handeln, dass auf prosodische Muster reagiert. Drittens bevorzugen zwei Tage alte Säuglinge eine Version der mütterlichen Stimme, die künstlich so verändert wurde, dass sie der Version, wie sie das ungeborene Kind im Mutterleib hört, gleicht. Die wird durch Einblendung des Herzschlages sowie Unterdrückung der Frequenzen über 500 Hz erreicht. Das Kind muss also schon vor der Geburt einer Wahrnehmung der mütterlichen Stimme und somit Sprachschall generell fähig gewesen sein. Die Kinder reagieren auf Vertrautheit, was auf einen natürlichen Schutzinstinkt hinweist. Viertens und Fünftens sind Säuglinge in der Lage ihre Muttersprache von einer Fremdsprache zu unterscheiden, ebenso wie Fremdsprachen untereinander, solange sie große prosodische Diskrepanzen aufweisen. Als sechste Erscheinung führt Dittman an, dass Säuglinge von der sogenannten "Ammensprache" profitieren, ein sprachliches Register, in dem der Neugeborene mit einer höheren, als der natürlichen Stimme angesprochen wird, die es auf Grund seiner höheren Hörschwelle besser wahrnehmen kann. Siebtens und letztens entwickelt sich im ersten Lebensmonat die kategoriale Sprachwahrnehmung, die der Mensch mit zunehmendem Alter wieder verliert. Während Erwachsene Schwankungen in der Realisierung einzelner Phoneme nicht mehr wahrnehmen und innerhalb gewisser Grenzen ein Phonem (nämlich das am wahrscheinlichsten gemeinte) hören (zum Beispiel bei [d] und [t]) hört ein Kind in diesem Alter noch eine Vermischung beider, statt automatisch das beabsichtigte herauszufiltern). Es findet also eine Spezifizierung der Lautwahrnehmung statt, abhängig von der Muttersprache. So erklärt sich auch die im Erwachsenenalter auftretende Problematik fremde, der eigenen Sprache nicht zugehörige, Phoneme zu artikulieren und getrennt von anderen hören zu können. Dies weist aus nativistischer Sicht schon fast eine Art Filter nach, der automatisch der Muttersprache eigene Phoneme herausfiltert (also kleinere Abweichungen eliminiert) um das Verstehen der eigenen Sprache zu vereinfachen.

[...]


[1] Meibauer S. 285

[2] Vgl. Meibauer S. 285f

[3] Meibauer S. 285

[4] Vgl. Meibauer S. 286f / Klann-Delius S. 1ff

[5] Breuer

[6] Vgl. Meibauer S. 287 / Klann-Delius S. 93ff

[7] Meibauer S. 287

[8] Klann-Delius S. 95

[9] Meibauer S. 287

[10] Vgl. Meibauer S. 287f / Klann-Delius S. 136ff

[11] Meibauer S. 287

[12] Vgl. Dittmann S. 17

[13] Grimm S. 23

[14] Dittmann S. 15ff

[15] Dittmann S. 16

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Erforschung von "wilden" Kindern und ihr Beitrag für die Spracherwerbstheorie
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum  (Germanistik)
Note
2,3
Jahr
2008
Seiten
33
Katalognummer
V435229
ISBN (eBook)
9783668763104
ISBN (Buch)
9783668763111
Dateigröße
676 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Spracherwerb, Spracherwerbstheorie, Behaviorismus, Nativismus, Kognitivismus, Interaktionismus, Kasper, Hauser, kostruktivistisch, konstruktivistischer, Sprache, Erstspracherwerb, Zweitspracherwerb, kritische, Periode, Wilde, Kinder, Input, spracherlicher, Genie, Chelsea, Kamala, Amala, Isolation, Gehirn, Neurologie, Sprachzentrum, Säugling, Wahrnehmung, Fähigkeiten, Rezeption, Prosodie, Motherese, Muttersprache, Linguistik
Arbeit zitieren
Anonym, 2008, Erforschung von "wilden" Kindern und ihr Beitrag für die Spracherwerbstheorie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/435229

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