Das Südtiroler Parteienspektrum im 21. Jahrhundert. Konsens oder Konkurrenz?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2017

28 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Begrifflichkeiten: Konsens und Konkurrenz in de Politikwissenschaft

3. Mehrheits- und Verhandlungsdemokratie nach Lijphart
3.1 Hintergrund
3.2 Form der Regierungsbildung nach Lijphart
3.3 Das Verhältnis von Exekutive und Legislative nach Lijphart
3.4 Die Fragmentierung des Parteiensystems nach Lijphart
3.5 Die Proportionalität des Wahlsystems nach Lijphart

4. Das Südtiroler Parteienspektrum des 21. Jahrhunderts
4.1 Ein Parteienspektrum zwischen numerischer, ideologischer und ethnischer Fragmentierung
4.2 Ein Parteienspektrum zwischen Übergrößen-Koalitionen und Mehrheitskoalitionen
4.3 Ein Parteienspektrum zwischen dominanter Exekutive und Parlamentarismus
4.4 Ein Parteienspektrum zwischen Proportionalität und relativen Quoren

5. Konklusion

6. Anhang 1 : Ausführliche Wahlergebnisse seit 1998

7. Anhang 2: Proportionalität der Landtagswahlen in Südtirol seit 1998

8. Literaturverzeichnis

9. Intemetquellen

1. Einleitung

Die autonome Provinz Bozen - Südtirol (im Folgenden nur noch ״Südtirol“) im Norden Italiens hat nur etwa so viele Einwohner wie die nordrhein-westfälische Stadt Dortmund. Doch anders als eine deutsche Stadt steht die Region in den Alpen seit jeher im Zentrum interstaatlicher Konflikte und spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts einer ausgeprägten gesellschaftlichen Fragmentierung gegenüber, über 65% der Bevölkerung sind Deutsche Muttersprachler, etwa 25% Italienische Muttersprachler und circa 4% gehören der Ladinischen Gruppierung von Muttersprachlern an.

Gerade diese gesellschaftliche Fragmentierung führe, so argumentiert beispielsweise der österreichische Politikwissenschaftler Günther Pallaver Ende des 20. Jahrhunderts, zu einer politischen Kultur, die durch Konsens gekennzeichnet ist. Doch seit Ende des 20. Jahrhunderts hat sich das Parteinspektrum in Südtirol drastisch verändert: Während beispielsweise die rechtsextreme Partei ״die Freiheitlichen“ 2003 nur zwei Mandate erreichte, ist sie seit der Landtagswahl 2013 mit 6 Mandatsträgern zweitstärkste Partei. Die eher moderate Südtiroler Volkspartei (SVP), die von 1948 bis 2003 bei allen Landtagswahlen eine absolute Mehrheit bei Stimmen und Mandaten verzeichnete, verlor zunächst 2008 die absolute Mehrheit der Stimmen und 2013 die absolute Mehrheit der Mandate. Trotz dieser einschneidenden Ereignisse bilden jedoch mit der christdemokratischen deutsch-ladinischen SVP und der linksorientierten italienischen Partito Democratico (PD) zwei eher divergierende Parteien seit 2003 fortan[1] die Landesregi erung.

Damit hegt die Vermutung nahe, dass sich das Parteienspektrum weg von der Tradierung, die Pallaver attestiert, entwickelt hat. Doch die Frage danach, ob ein Parteienspektrum von Konsens oder von Konkurrenz geprägt ist, kann nicht an Hand ausgewählter Exempel beantwortet werden. Dies wird durch die Breite des modernen politikwissenschaftlichen Diskurses um Theorien, die Konsens- und Konkurrenzorientierung als innerdemokratische Gegenpole betrachten, deutlich. Aus diesem Grunde wird in der vorliegenden Hausarbeit untersucht, ob das Südtiroler Parteienspektrum des 21. Jahrhunderts von Konsens oder Konkurrenz geprägt ist.

Zunächst wird deutlich gemacht, was mit der Begriffspaarung Konsens und Konkurrenz überhaupt gemeint ist. Als Grundlage für die Untersuchung der Prägung des Parteienspektrums wird Arend Lijpharts Typologie von Mehrheitsdemokratie (Konkurrenzorientiert) und Verhandlungsdemokratie (Konsensorientiert) herangezogen: Sie ist auf die Analyse souveräner Demokratien in ihrer Gänze ausgerichtet und ermöglicht damit den Fokus auf die Prägung und nicht die reine innere Betrachtung eines Parteienspektrums. Gleichwohl erfordert dies zunächst zu differenzieren, welche Aspekte der Theorie zur Untersuchung eines Parteienspektrums relevant sind. Darauf aufbauend werden die entsprechenden Aspekte dargestellt; mit Hilfe dieser wird dann die Prägung des Parteienspektrums im 21. Jahrhundert analysiert. Abgerundet wird die Arbeit durch eine Konklusion.

2. Konkurrenz und Konsens in der Politikwissenschaft

״Demokratie befindet sich stets in einer prekären Gratwanderung zwischen Scylla Konsens und Charybdis Konkurrenz“ (Hämmerle, 2000, S.19 attestiert der Politikwissenschaftler Walter Hämmerle. Seine Ansicht macht deutlich, dass es bei der Frage, ob eine Demokratie bzw. ein Teil einer Demokratie von Konsens oder Konkurrenz geprägt ist, nicht um bloße Betrachtungen von Begrifflichkeiten geht. Vielmehr bilden in seinem Sinne Konsens und Konkurrenz die Gegenpole einer Demokratie, die (wie durch die gewählte Metaphorik deutlich wird) nicht isoliert voneinander betrachtet werden können.

Anders als für Hämmerle bildet für Schultze (vgl. Schultze 2006, S.288) oder Weber-Fas (vgl. Weber-Fas, 2009, s. 152/182) der Konsens aber nicht einen Gegenpol in einer Demokratie, sondem Konsens bildet vielmehr nach ihren Auffassungen die Grundlage einer Demokratie in Form grundsätzlicher gesellschaftlicher Übereinkünfte. Damit liegt der Schluss nahe, dass in der Politikwissenschaft eine Uneinigkeit über den Begriff des Konsenses vorherrscht. Allerdings wird deutlich, dass nicht ein klassischer Dissens, sondern vielmehr eine Abhängigkeit der Definition vom wissenschaftstheoretischen Anspruch ausgeht: Während Weber-Fas oder Schultze in einem Lexikon eine klassische normative Begriffsdefmition anstreben, strebt Hämmerle eine empirisch-analytische Untersuchung über reale Politik an.

Ein analytisches Schema zweier innerdemokratischer Gegenpole zur Untersuchung von Demokratien lässt sich in der Politikwissenschaft auch an anderen Stellen als bei Hämmerle finden: So nutzt beispielsweise Holtkamp die Gegenpole von Konkurrenz- und Konkordanzdemokratie oder Lijphart die Gegenpole von Mehrheits- und Verhandlungsdemokratie. Diese Theorien haben zwar unterschiedliche Ansprüche, so strebt Lijphart die Untersuchung souveräner Demokratien an, während Holtkamp oder Hämmerle den Fokus auf regionale innerstaatliche Strukturen legen. Gleichwohl stellen sie einen wettbewerbsorientierten Idealtyp (Regelung politischer Prozesse durch Konkurrenz) einem kompromissorientierten Idealtyp (Regelung politischer Prozesse durch Konsens) zur Analyse von Demokratien gegenüber (vgl. zum gesamten Absatz: Schmidt, 2009, S.308).

Folglich lässt sich festhalten, dass die Frage danach, ob ein Parteienspektrum von Konsens oder Konkurrenz geprägt ist, nicht ein willkürliches Schema zweier Gegenpole aufbaut. Vielmehr impliziert die Fragestellung, dass das entscheidende Merkmal zur Einordnung einer Demokratie darin zu suchen ist, wie Prozesse auf politischer Ebene von statten gehen, mit welche Grundvoraussetzungen dies zusammenhängt und welche Auswirkungen dies mit sich bringt. Somit steht im Zentrum der angesprochenen Theorien nicht, was das entscheidende Paradigma zur Erfassung einer Demokratie ist, sondern wie sich Konsens bzw. Konkurrenz als entscheidende Paradigmen einer Demokratie untersuchen lassen. Der niederländisch-amerikanische Politikwissenschaftler Arend Lijphart hart hierzu die ״bahnbrechende Theorie“ (etwa Ganghof, 2005, S.406) der Mehrheits- und Verhandlungsdemokratie entwickelt. Diese zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass ihre Kriterien in besonderem Masse nachvollziehbar sind (vgl. Schmidt, 2013, s. 3ff). Am Exempel dieser Theorie soll nun die Frage beantwortet werden, ob das Südtiroler Parteienspektrum des 21. Jahrhunderts von Konkurrenz oder Konsens geprägt ist. Wie er Konkurrenz und Konsens als entscheidende Paradigmen einer Demokratie beschreibt, wird im Folgenden zunächst dargestellt.

3. Mehrheits- und Verhandlungsdemokratie nach Lijphart

3.1. Hintergrund

Arend Lijphart sieht die Demokratie vor einem grundsätzlichen Problem: Er vertritt die Auffassung, dass sich die Legitimation der Demokratie auch dadurch herleitet im Interesse der Bevölkerung zu regieren. Aber: ״Who will do the governing and to whose interests should the government be responsive when the people are in disagreement and have divergent preferences?“ (Lijphart, 2012, s. 2). Für ihn gibt es zwei Lösungswege auf dieses Grundproblem: Durch die Merheitsdemokratie, die politische Prozesse durch den Wettstreit um eine Mehrheit regelt oder durch die Verhandlungsdemokratie, die politische Prozesse durch die größtmögliche Integration verschiedener Gruppen regelt (vgl. ebd.). Daher lässt sich die Mehrheitsdemokratie der Konkurrenz zurechnen, während die Verhandlungsdemorkatie den Konsens repräsentiert.

Die Idealtypen der Mehrheits- und Verhandlungsdemokratie greifen aber nicht nur institutioneile Bedingungen und die Verhaltensweisen politischer Akteure auf. Sie bilden auch Auswirkungen der gesellschaftlichen Struktur auf eine Demokratie ab (vgl. Lauth, 2010, s. 50). Insbesondere diese Tatsache lässt Lijpharts Theorie - neben der klaren Nachvollziehbarkeit - für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand, Südtirol, geeignet erscheinen. Schließlich ist in der Einleitung bereits aufgegriffen, dass ein Zusammenhang zwischen der Prägung der Südtiroler Demokratie und der gesellschaftlichen Struktur gesehen wird (vgl. etwa Pavaller, 2007, s. 541fif).

Um jene Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten, macht er zehn Merkmale fest, die jeweils eine mehrheits- bzw. verhandlungsdemokratische Ausprägung skizzieren (vgl. Lijphart, 2012, s. 3f.). Seine Theorie wird dadurch erweitert, dass sich die erste und zweite Hälfte der Merkmale in ihrer Gesamtheit je in eine Dimensionen einordnen lassen, die Schlüsse auf weitere Fragestellungen zulassen:

- Entlang der Exekutive-Parteien-Dimension, die sich auf den Unterschied zwischen Machtkonzentration und Machtteilung angibt (vgl. Schmidt, 2013, S.6).
- Und entlang der Föderalismus-Unitatrismus-Dimension, die nach grundsätzlichen staatlichen Konstituierungen fragt (vgl. Ganghof, 2005, S.412).

Letztere Dimension ist mit ihrer Frage nach grundsätzlichen staatlichen Konstituierungen für die folgende Untersuchung irrelevant. Denn bereits aus dem vorhergegangenen Kapitel ergibt sich, dass die Frage nach Konsens oder Konkurrenz auf die Gegenüberstellung von Wettbewerbs- bzw. Konsensorientierung abzielt, was sich in der Frage nach Machtkonzentration und Machtteilung wiederfindet. Darüber hinaus soll die vorliegende Untersuchung nicht die Südtiroler Demokratie in ihrer Gänze erfassen, sondern sich auf das Parteienspektrum beziehen. Diesem Anspruch entsprechen nur die ersten vier Merkmale der Exekeutive-Parteien-Dimension, sie Stehen in einer logischen Kausalkette zueinander und beziehen sich als einzige der insgesamt zehn Merkmale vorrangig auf Parteien (vgl. Müller-Rommel, 2008, S.86):

1. Die Form der Regierungsbildung.
2. Das Verhältnis von Exekutive und Legislative.
3. Die Fragmentierung des Parteiensystems.
4. Die Proportionalität des Wahlsystems.

Wie die Ausprägung dieser Merkmale in der Mehrheits- bzw. Verhandlungsdemokratie ist, soll im folgenden dargestellt werden.

3.2 Form der Regierungsbildung nach Lijpahrt

Anders als gängige Theorien der Regierungslehre legt Lijphart den Schwerpunkt bei seinem ersten Merkmal auf die parlamentarische und parteipolitische Situation von Regierungen. Die klassische Frage nach der Konstituierung eines Regierungssystems - parlamentarisch, präsidentiell oder semi-präsidentiell - ist für ihn zweitrangig (vgl. Lijphart, 2012, s. 79). Mit Einschränkungen und Abänderungen lassen sich seiner Meinung nach nämlich alle demokratischen Formen der Regierungsbildungen als parlamentarische Formen der Regierungsbildungen beschreiben, da sie alle (je nach Konstituierung in unterschiedlicher Intensität und Form) auf parlamentarische Mehrheiten angewiesen sind (vgl. ebd., s. 93).

Zentral ist daher, ob es sich um eine Ein-Parteien-Regierung oder eine Viel-Parteien­Regierung, also eine Koalition, handelt. Verfügt eine Ein-Parteien-Regierung über eine absolute Mehrheit der parlamentarischen Mandate, so zählt diese Regierungsform klar zur Mehrheitsdemokratie. Für eine Koalitionsregierung gilt dies in einem Fall umgekehrt: Verfügt diese nicht über eine parlamentarische Mehrheit (Minderheits-Koalition), ist diese Regierungsform verhandlungsdemokratisch. In einem anderen Fall ist eine Koalitionsregierung auch verhandlungsdemokratisch: Nämlich dann, wenn eine Koalition aus mehr Parteien besteht als zum Erreichen einer parlamentarischen Mehrheit notwendig ist und eine Übergrößen-Koalition bildet (vgl. zum vorherigen Teil des Absatzes Lijphart, 2012, s. 79-80).

Zwei Regierungsformen lassen sich weder der Mehrheits- noch der Verhandlungsdemokratie zuordnen: Eine Ein-Parteien-Regierung ohne Mehrheit im Parlament und eine Koalitionsregierung, die alle beteiligten Parteien für eine parlamentarische Mehrheit benötigt (Mehrheits-Koalition), liegen ״irgendwo dazwischen“ (Ganghof, 2005, s. 412). Operationalisiert wird dies durch die Erfassung des prozentualen Anteils von Ein-Parteien-Regierungen und kleinstmöglichen Mehrheits- Koalitionen[2] im untersuchten Zeitraum: 0% steht dabei für das verhandlungsdemokratische Extrem und 100% für das entsprechende mehrheitsdemokratische Extrem (vgl. Lijphart, 2012, s. 99)

3.3 Das Verhältnis von Exekutive und Legislative nach Lijphart

Zur Beschreibung des Verhältnisses von Exekutive und Legislative greift Lijphart jedoch die Grundlagen der klassischen Regierungslehre wieder auf: Parlamentarische und präsidenteile Systeme müssen hiernach gesondert betrachtet werden. So sind in einem parlamentarischen System Legislative und Exekutive eng miteinander verknüpft, während sich präsidenteile Systeme durch eine stärkere Trennung der beiden Gewalten auszeichnen (vgl. Lijphart, 2012, s. 105-108).

Eingeachtet des Systems zeichnet sich ein mehrheitsdemokratisches Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative durch eine Dominanz der Exekutive über die Legislative aus, während in der Verhandlungsdemokratie eine ״balance of power“ (Lijphart, 2012, s. 115) zwischen diesen Gewalten herrscht. Im wesentlichen ist die Lebensdauer der Kabinette der dafür entscheidende Indikator (vgl. Schmidt, 2013, s. 5), denn ״A cabinet that stays in power for a long time is likely to be dominant vis a vis the legislature, and a short-lived cabinet is likely to be relatively weak“ (Lijphart, 2012, s. 117).

In parlamentarischen Systemen, in denen die Regierung mit absoluter Mehrheit durch das Parlament gewählt wird, bildet die durchschnittliche Lebensdauer von Kabinetten den Index zur Erfassung dieser Dominanz. Für andere Regierungssysteme muss der Index auch unter Einbeziehung anderer Umstände erfasst werden. Er bewegt sich auf einer Skala von 01.00 (verhandlungsdemokratisches Kräftegleichgewicht) bis 09.90 (mehrheitsdemokratische Dominanz). Dabei gilt die Prämisse, dass das Ende eines Kabinetts durch eine neue Zusammensetzung der Koalitionsparteien, Neuwahlen des Parlamentes und/oder einen Wechsel des Regierungsführers (z.B. Ministerpräsident) postuliert wird (vgl. Lijphart, 2012, s. 117-121).

Aus dem vorhergegangenen Merkmal ergibt sich die zentrale Rolle von Parteien in der Regierungsbildung eines parlamentarischen Systems. Das zweite Merkmal der Theorie Lijpahrts belegt, dass es nicht nur relevant ist wie Parteien eine Regierung bilden, sondern auch wie lange sie diese halten. Wenn zum Beispiel eine Regierung ungeachtet von sich ändernden Verhältnissen in der Legislative besteht, so lässt sich dies zumindest als Indiz für eine Dominanz der regierenden Parteien im Parteienspektrum insgesamt betrachten.

3.4. Die Fragmentierung des Parteiensystems nach Lijphart

Während die ersten beide Merkmale einen Schwerpunkt auf die Regierung legen, untersucht das dritte Merkmal Lijpharts das Parteiensystem an sich: Zweiparteiensysteme sind klar der Mehrheitsdemokratie zuzurechnen. Ein Vielparteiensystem zählt eindeutig zur Verhandlungsdemokratie (vgl. Lijphart, 2012, s. 61).

Die Begriffe Zwei- und Vielparteiensystem dürfen aber nicht im wörtlichen Sinne verstanden werden. Sie sind an den Laasko-Taagepera-Index angelehnt, den Lijphart zur Berechnung der Fragmentierung eines Parteiensystem heranzieht (vgl. Lijpahrt, 2012. s. 74-75), zu verstehen. Dieser gibt auf einer numerischen Skala Aufschluss über die effektive Anzahl der im Parlament vertretenen Parteien und setzt Stärke und Anzahl der im Parlament vertretenen Parteien in Relation: Vereinigen etwa zwei Parteien je 50% der Mandate auf sich, so beträgt der Index 2,0; vereinigen aber 2 Parteien 70% bzw. 30% der Mandate auf sich, so beträgt der Index 1,7 (vgl. ebd. s. 66).

Dennoch ist nicht nur die reine numerische Aufteilung der parlamentarischen Macht relevant. Vielmehr geht es Lijphart auch darum, ״differenziertere Informationen über den Wettbewerbsgrad in Zweiparteiensystemen und über das Ausmaß der Fragmentierung von Vielparteiensystemen“ (Gabriel, 1991, s. 380) zu erfassen. Aus diesem Grund nimmt auch die Einklassifizierung der effektiven Anzahl der Parteien eine zentrale Rolle ein: So lässt sich nach Jean Bondel an Hand der effektiven Zahl unter Anderem sagen, ob eine Partei in einem Vielparteiensystem dominiert oder nicht (vgl. Lijphart, 2012, s. 65).

3.5 Die Proportionalität des Wahlsystems nach Lijphart

Die Fragmentierung eines Parteiensystems ist für Lijphart eng mit dem Wahlsystem verknüpft, da ein Wahlsystem mit Auswirkungen auf ein Parteiensystem verbunden ist (vgl. Lijphart, 2012, s. 144). Eine proportionale Repräsentation der gesamten Stimmen in der Verhandlungsdemokratie steht hier einer disproportionalen Repräsentation der gesamten Stimmen in der Mehrheitsdemokratie gegenüber (vgl. Lijphart, 2012, s. 130).

Für den Grad der Proportionalität bildet die Konstituierung des Wahlsystems einen zentralen Grund: Ist es ein System der proportionalen Repräsentation ״PR“, in dem die erreichten Stimmen über den Anteil einer Partei an den parlamentarischen Mandaten oder ein Mehrheitswahlrecht, in dem die Zahl der gewonnen Wahlkreise - unabhängig von Stimmen insgesamt - über den Anteil einer Partei an den parlamentarischen Mandaten entscheiden (vgl. Lijphart, 2012, s. 13 Iff.)?

Dennoch kann mit dieser bloßen Unterteilung nicht die Frage nach der Proportionalität beantwortet werden. Schließlich kann beispielsweise PR mit Sperrklauseln für Parlamente verbunden sein, was die Berücksichtigung einiger Stimmen wegfallen lässt oder ein Mehrheitswahlrecht mit institutionalisierten Quoren versehen sein, die politische Bündnisse erforderlich machen und es somit kleineren Parteien ermöglichen Wahlkreise zu gewinnen (vgl. Lijphart, 2012, s. 135ff). Aus diesem Grunde muss die Proportionalität des Wahlsystems an Hand des Gallagher-Index berechnet werden, der die real vorhandene Proportionalität in Prozent erfasst: Desto numerisch höher dieser, desto disproportionaler und desto mehrheitsdemokratischer ist eine Wahl (vgl. ebd. s. 144f.).

4. Das Südtiroler Parteinspektrum im 21. Jahrhundert

Die dargestellten Merkmale zeigen, dass sie als Idealtypen zu verstehen sind und differenziert eingeordnet werden müssen. Diese differenzierte Einordnung der dargestellten Merkmale soll nun geschehen. Dabei ist zu beachten, dass in allen vier Merkmalen Wahlen direkt oder indirekt eine zentrale Rolle bei Fragen der Konkurrenz- oder Konsensorientierung eines Parteienspektrums einnehmen. Unter dem 21. Jahrhundert wird gemeinhin der Zeitraum ab dem Jahr 2000 verstanden. Jedoch haben nicht nur Wahlen an sich eine Relevanz. So schlägt Lijphart zur Untersuchung der Form der Regierungsbildung vor, längere Zeiträume zu erfassen. Daher sind nicht nur Wahlen innerhalb des untersuchten Zeitraums von Interesse. Auch sind Wahlen zu erfassen, die eventuell außerhalb des eigentlichen Zeitraums liegen, aber etwa die Grundvoraussetzung für eine Legislaturperiode im untersuchten Zeitraum schaffen.

4.1: Ein Parteienspektrum zwischen numerischer, ideologischer und ethnischer F ragmentierung

Aus diesem Grunde sind zunächst die Landtagswahlen in den Jahren 1998, 2003, 2008 und 2013 relevant. In Mandaten kam es dabei zu folgenden Ergebnissen und folgender effektiver Anzahl der Parteien:

Abbildung 1: Ergebnisse der Landtagswahlen 1998-2013 (in Mandaten)

Tabelle: Eigene Darstellung. Genaue Aufschlüsslung zusammendargestellter Parteien und der Kürzel sowie der Bereclmung siehe Anhang 1. Datenquelle: Siehe Anhang 1.

Die effektive Anzahl der Parteien als Resultat der Wahlen legt eine grundsätzliche Tendenz zum Zweieinhalbparteiensystem nahe, welches sich zwischen dem verhandlungsdemokratischen Vielparteiensystem und dem mehrheitsdemokratischen Zweiparteiensystem bewegt (vgl. Lijphart, 2012, s. 61): Bei den Wahlen 1998 und 2003 entspricht sie mit 2,6 dieser Einklassifizierung (vgl. Lijphart, 2012, s. 65). Gleichwenn die Wahl 2008 deutlicher einem Vielparteiensystem unter der Dominanz der SVP entspricht (vgl. ebd.), so lässt sich diese nach der Wahl 2013 durchaus als Abweichung einschätzen.

Doch mit der effektiven Anzahl von 2,4 Parteien nach der Wahl 2013 und dem damit niedrigsten Wert im untersuchten Zeitraum, wird gleichzeitig die Besonderheit dieser Wahl deutlich: Die Südtiroler Volkspartei (SVP) erreichte seit dem zweiten Weltkrieg an eine absolute Mehrheit der Mandate und Stimmen bis zum Jahr 2003 (vgl. Pallaver, 2007, s. 636). 2008 verlor sie zunächst die absolute Mehrheit der Stimmen (vgl. Autonome Provinz Bozen, 2009, s. 531) und 2013 die absolute Mehrheit der Mandate, wie die Tabelle zeigt. Doch nicht nur damit hängt der Wert der effektiven Anzahl der Parteien zusammen, der dem mehrheitsdemokratischen Zweiparteiensystem von allen berechneten Werten am nähesten steht. Noch nie konnte eine Partei abseits der SVP so viele Mandate auf sich vereinigen wie die Partei der Freiheitlichen (FREI) (vgl. Autonome Provinz Bozen, 2017). Sollte sich jene Entwicklung fortsetzen, - ein weiterer Mandatsverlust der SVP und ein weiterer Mandatsgewinn der Freiheitlichen - könnte sich unter bestimmen Voraussetzungen das tendenzielle Zweieinhalbparteiensystem zu einem mehrheitsdemokratischen Vielparteiensystem entwickeln.

Im untersuchten Zeitraum lässt sich von der Fragmentierung des Parteiensystems jedoch nicht auf eine klare mehrheits- oder verhandlungsdemokratische Ausprägung schließen. Neben der numerischen Aufteilung des Parlamentes unter den Parteien sind jedoch für die Anwendung der Theorie Lijpharts, so argumentiert Gabriel (vgl. Gabriel, 1991, s. 380), Informationen über Wettbewerb und konkrete Fragmentierung relevant.

[...]


[1] Von 2003 bis 2008 bildeten SVP, eine weitere Partei und ein Vorläufer der PD, Pace e Diritti / Democratici di Sinistra, die Landesregierung, seit 2008 befinden sich SVP und PD in einer Koalition

[2] Eine kleinstmögliche Mehrheits-Koalition bezeichnet eine solche Mehrheits-Koalition, die von allen numerisch möglichen Mehrheits-Koalitionen die kleinste Anzahl der parlamentarischen Mandate auf sich vereinigt (vgl. Lijphart, 2012, s. 81)

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Das Südtiroler Parteienspektrum im 21. Jahrhundert. Konsens oder Konkurrenz?
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum  (Fakultät für Sozialwissenschaft)
Veranstaltung
Seminar: Europäische Parteiensysteme im Vergleich
Note
1,3
Autor
Jahr
2017
Seiten
28
Katalognummer
V435169
ISBN (eBook)
9783668762398
ISBN (Buch)
9783668762404
Dateigröße
712 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
südtiroler, parteienspektrum, jahrhundert, konsens, konkurrenz
Arbeit zitieren
Max Lucks (Autor:in), 2017, Das Südtiroler Parteienspektrum im 21. Jahrhundert. Konsens oder Konkurrenz?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/435169

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