Das fremdsprachenintensive Vorbereitungsjahr. Chance für die Förderung der individuellen Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht an ungarischen Schulen


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2014

17 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


1. Einleitung

Seit dem Schuljahr 2004/05 haben alle Fachmittelschulen und Gymnasien in Ungarn die Möglichkeit, ihr Bildungsprofil um „fremdsprachenintensive Vorbereitungsjahrgänge“ (ung. NyEK - nyelvi el ő k é sz í t ő é vfolyam) zu erweitern. Dieses Bildungsprogramm wurde im Jahre 2003 als Teil des Projektes Welt-Sprache, Entwicklung der Fremdsprachenkenntnisse (Vil á g Nyelv, az idegennyelv-tud á s fejleszt é se) initiiert, das sich zum Ziel setzt, die Basis für die einheitliche und wirksame Entwicklung des Fremdsprachenlernens zu schaffen (s. Änderung des Bildungsgesetzes 1993. LXXIX. 2003).

Die Einrichtung des fremdsprachenintensiven Vorbereitungsjahres (im Folgenden: FVJ) wurde durch eine Bestandsaufnahme zu vorhandenen Fremdsprachkenntnissen in der ungarischen Bevölkerung angeregt, deren Ergebnisse auf erhebliche Defizite an Fremdsprachenkenntnissen hinwiesen. Der Fremdsprachenunterricht im FVJ soll nun zur Verbesserung dieser Situation beitragen, so dass Schulabgänger eine Fremdsprache auf

Mittel-, sowie eine weitere auf Grundstufenniveau beherrschen, ihre

Fremdsprachenkenntnisse aufrechterhalten, erweitern und auch dazu fähig sind, weitere Fremdsprachen zu erwerben. Dazu lernen sie im ersten Schuljahr eine Fremdsprache intensiv (ursprünglich in mindestens 40%, ab dem Schuljahr 2013/14 in 60% der Unterrichtsstunden), und schließen ihre Ausbildung statt 4 nach 5 Jahren mit dem Abitur (in der intensiv gelernten Fremdsprache mit dem Oberstufenabitur) ab. Als zusätzlich festgesetzte Ziele dieser intensiven Lernform gelten die Förderung der positiven Attitüde und der Motivation seitens der Fremdsprachenlernenden, ausgerichtet auf die Zielsprachen, die Kulturen des Zielsprachenlandes sowie das Fremdsprachenlernen.

Als Deutsch- und Englischlehrerin eines zweisprachigen Gymnasiums in Budapest habe ich persönliche Erfahrungen mit dieser intensiven Lernform und bin davon überzeugt, dass sie im Prinzip zahlreiche Chancen zur Förderung der fremdsprachlichen Kompetenzen von Schülern bietet aber nur dann, wenn die in ihnen vorhandenen Potenziale erkannt und im Interesse des effektiven Fremdsprachenlernens in angemessener Weise umgesetzt werden. Aus diesem Grund habe ich mich als Doktorandin der Eötvös-Loránd-Universität Budapest im Bereich Angewandte Linguistik (Lernen und Lehren des Deutschen als Fremdsprache) dafür entschieden, diese Lernform auch im Spiegel der neuesten Anforderungen (etwa im Hinblick auf die Entwicklung der Mehrsprachigkeit) näher unter die Lupe zu nehmen.

Im vorliegenden Beitrag wird gezeigt, wie der Sprachunterricht im FVJ zur Umsetzung der genannten bildungspolitischen Ziele beitragen kann. Es wird ein Überblick darüber geboten, wie die sekundäre Bildung in Ungarn bisher von der Einführung der fremdsprachenintensiven Vorbereitungsjahrgänge (im Weiteren: FV-Jahrgänge) profitieren konnte, welche Schwierigkeiten bzw. Herausforderungen sich daraus für Schüler und Lehrkräfte ergeben haben. Darüber hinaus wird auf weitere, bis heute oft ungenutzte Potenziale eingegangen, die zur Förderung von Mehrsprachigkeit in FV-Jahrgängen einen wichtigen Beitrag leisten können. Durch die angemessene Ausnutzung dieser Möglichkeiten könnte nämlich diese Lernform noch mehr Nutzen mit sich bringen. Im Mittelpunkt stehen folgende Fragen:

Welche bildungspolitischen Ziele stehen im Hintergrund der Einführung vom FVJ?

Wie konnte bisher die sekundäre Bildung in Ungarn aus der Einführung der FV-Jahrgänge profitieren, welche Schwierigkeiten bzw. Herausforderungen haben sich für Schüler und Lehrkräfte ergeben?

Welche Erkenntnisse der Bezugswissenschaften könnten noch bei der Verwirklichung berücksichtigt werden?

Wie könnten die im Vorbereitungsjahr präsenten Potenziale mit Berücksichtigung dieser Erkenntnisse zur Förderung der individuellen Mehrsprachigkeit beitragen?

2. Das FVJ im bildungspolitischen Kontext

Zur Beantwortung dieser Fragen sind vor allem die Ursachen zu klären, warum überhaupt das FVJ in Ungarn eingeführt wurde, auf welche Probleme es als Lösung konzipiert war und welche Beschlüsse auf der europäischen bildungspolitischen Ebene als Basis und Initiator dieser Lernform betrachtet werden können.

Im Hintergrund des Projektes Welt-Sprache und die dadurch erfolgte Einführung des FVJ stehen einerseits die ungarischen Forschungsergebnisse der Volkszählung 2001 und die repräsentative Erhebung von Terestyéni (1996), die beide mangelnde Fremdsprachenkenntnisse der ungarischen Bevölkerung bewiesen. Andererseits wurde die Einführung dieses Fremdsprachenlernprogramms durch die in der Bildungspolitik der EU maßgebenden Tendenzen und Programme angeregt. Dabei sind vor allem die ersten Projekte im Jahre 2001 zu nennen: das Europäische Jahr der Sprachen und die Entwicklung des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (Europarat 2001, Ehlich 2010). Zweitens sind die Schlussfolgerungen der Sitzung des Europarates in Barcelona (2002) einflussreich, in denen man u.a. für den frühen Erwerb zweier Fremdsprachen plädierte.

Drittens sind Fremdsprachenlernprogramme anhand des Aktionsplans der Europäischen Kommission für 2004-2006 anzustreben, viertens gewann ab 2005 (Rahmenstrategie für Mehrsprachigkeit) auch die Förderung der Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenlernen zunehmend an Bedeutung.

Mehrsprachigkeit zeichnet sich dementsprechend seit mehreren Jahren als Anforderung gegenüber dem Fremdsprachenlernen ab, der Vorbereitungsjahrgänge ebenfalls gerecht werden können. Mehrsprachigkeit ist ein bedeutendes und ständig wachsendes Feld wissenschaftlicher Tätigkeit, die Sprachen nicht als klar voneinander abgrenzbare Entitäten betrachtet. Sie bezeichnet einen Zustand, in dem einer Person gleichzeitig mehrere Sprachen für sprachliche Handlungen zur Verfügung stehen, also eine ganze Bandbreite sprachlicher und kommunikativer Ressourcen, die sich zu einem oder mehreren Sprachsystemen zuordnen lassen. Im weiteren Sinne sind also alle Menschen mehrsprachig, weil sie in der Lage sind, ihre Muttersprache in verschiedenen Situationen unterschiedlich zu benutzen (z.B. eine regionale Variante in der Familie und die Standardsprache in öffentlichen Situationen). Mehrsprachigkeit kann sich auf verschiedenen Ebenen entwickeln: unter lebensweltlichen Umständen oder unter institutionellen Rahmenbedingungen, zum Beispiel im Fremdsprachenunterricht an schulischen Einrichtungen (Busch 2013, Feld-Knapp 2014a).

Mehrsprachigkeit äußert sich außerdem in zahlreichen Formen (rezeptiv/produktiv, kombiniert/koordiniert, symmetrisch/asymmetrisch, simultan/sukzessiv, retrospektiv/ prospektiv usw.). Im Fall der Vorbereitungsjahrgänge, wenn Sprachen im institutionellen Rahmen, strukturiert und systematisch (wie typischerweise erste und zweite Fremdsprachen) in der Schule erlernt und im mentalen Lexikon der Lernenden für eine gemeinsame Bedeutungsebene als getrennte sprachliche Kodierungssysteme gespeichert werden, lässt sich Mehrsprachigkeit mit den Merkmalen 'curricular', 'kombiniert', 'funktional', 'konsekutivsukzessiv' und 'prospektiv' charakterisieren (Bausch 2007, Haider 2010).

Echte Mehrsprachigkeit bedeutet die Beherrschung von mindestens drei Sprachen (umfasst also außer der im schulischen Fremdsprachenunterricht erworbenen Mehrsprachigkeit auch den doppelten Erst- bzw. Zweitsprachenerwerb) und beginnt so früh wie möglich. Mehrsprachig im engeren Sinne ist man also, wenn man neben der Muttersprache (L1) in noch mindestens zwei weiteren Sprachen (L2 und L3) kommunikativ handeln kann.

Bereits 2001 (Jahr der Sprachen) wurde Mehrsprachigkeit zum europäischen kulturellen Erbe erklärt und die Wichtigkeit der Förderung von Mehrsprachigkeit, ihre Wahrnehmung als Chance betont (Feld-Knapp 2012). Im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen wird Mehrsprachigkeit als das wichtigste Ziel des Fremdsprachenunterrichts genannt, da sie die Bewahrung der sprachlichen und kulturellen Vielfältigkeit Europas ermöglicht, die u.a. wegen der Dominanz des Englischen als lingua franca gefährdet ist. Mehrsprachigkeit wird im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (2001) folgenderweise definiert:

Mehrsprachigkeit betont die Tatsache, dass sich die Spracherfahrung eines Menschen in seinen kulturellen Kontexten erweitert, von der Sprache im Elternhaus über die Sprache der ganzen Gesellschaft bis zu den Sprachen anderer Völker (die er entweder in der Schule oder auf der Universität lernt oder durch direkte Erfahrung erwirbt). Diese Sprachen und Kulturen werden aber nicht in strikt voneinander getrennten mentalen Bereichen gespeichert, sondern bilden vielmehr gemeinsam eine kommunikative Kompetenz, zu der alle Sprachkenntnisse und Spracherfahrungen beitragen und in der die Sprachen miteinander in Beziehung stehen und interagieren.

Diese interkulturelle, kommunikative Kompetenz, die als Grundlage des genannten bildungspolitischen Ziels betrachtet wird, besteht nicht nur aus sprachlichen, sondern auch aus soziolingualen und pragmatischen Kompetenzen. Sie ermöglicht Sprachlernenden, sich in anderen Kulturkreisen zu verständigen, und befähigt sie dazu, Menschen mit anderen Sprachen und anderem kulturellem Hintergrund zu verstehen und ihre kommunikativen Ziele zu verwirklichen. Diese kommunikative Kompetenz ist also die Voraussetzung für die Handlungsfähigkeit der Lernenden in mehreren Sprachen, und dient als Basis, als „sozial Handelnder“ verschiedene kommunikative Aufgaben bewältigen zu können:

Der handlungsorientierte Ansatz berücksichtigt deshalb auch die kognitiven und emotionalen Möglichkeiten und die Absichten von Menschen sowie das ganze Spektrum der Fähigkeiten, über das Menschen verfügen und das sie als sozial Handelnde (soziale Akteure) einsetzen. (ebd.)

Die Entwicklung der interkulturellen Kompetenz sowie die Förderung der Handlungsfähigkeit bilden damit die wichtigste Grundlage für die Entwicklung der individuellen Mehrsprachigkeit und für das erfolgreiche Fremdsprachenlernen. Die Realisierung dieser Ziele des Fremdsprachenunterrichts erfolgt anhand der Prinzipien der Mehrsprachigkeitsdidaktik (MSD):

Dieser didaktische Ansatz geht von einer Entfaltung der Lernerperspektive aus, d.h. Sprachbesitz, Spracherfahrungen und Sprachlernerfahrungen der Schüler und Schülerinnen werden beim Sprachenlernen miteinbezogen. (Hufeisen/Neuner 2003; zit. nach Imgrund 2007)

Auch im ungarischen Kontext nimmt der Stellenwert der MSD zu und wird gefordert, die Grundlagen für die individuelle Mehrsprachigkeit durch den schulischen Fremdsprachenunterricht zu schaffen (Feld-Knapp 2014a).

3. Das FVJ von den Anfängen bis heute

Hinsichtlich der oben formulierten Ziele des Fremdsprachenunterrichts ist festzustellen, dass neue Rahmenbedingungen für die Erfüllung der aktuellen Zielsetzungen erforderlich sind. Als Reaktion darauf wurde in Ungarn vor beinahe zehn Jahren das FVJ als eine besondere Form des Sprachlernens eingeführt. Ob es wirklich als Chance für die Entwicklung echter, individueller Mehrsprachigkeitsprofile einzusetzen ist, ist heute immer noch umstritten. Im Folgenden soll kurz zusammengefasst werden, was die Erkenntnisse aus den ersten zehn Jahren des Vorbereitungsjahres gewonnen werden können und welche Konsequenzen aus diesen Erfahrungen zu ziehen sind.

3.1. Die ersten Erfahrungen mit FV-Jahrgängen

Für die ersten fünf Jahre nach der Einführung von FV-Jahrgängen war eine besondere Begeisterung charakteristisch, die sich an verschiedenen Bewerbungsmöglichkeiten, Konferenzen, Hilfsmaterialien, Fortbildungskursen für Lehrer, einem Internetportal sowie auch an empirischen Untersuchungen zeigt. Auch die Zahlen machen die Hochstimmung deutlich: im Schuljahr 2004/05 nahmen mehr als 400 Schulen an dem Programm teil und fast 12.000 Schüler lernten in Vorbereitungsjahrgängen. Obwohl sich die Anzahl der Schulen im Schuljahr 2008/09 etwas reduzierte (weniger als 400 Schulen), gab es mehr Jahrgänge, in denen intensives Fremdsprachenlernen eingeführt war, was auch mehr Lernende (knapp 17.000 Schüler) bedeutet (Nikolov/Ottó/Öveges 2009).

In den letzten Jahren gehen diese Zahlen jedoch etwas zurück:1 neben der Anzahl der Schüler, haben sich allmählich auch das Fortbildungs-, Konferenz- und Materialangebot, sowie das wissenschaftliche Interesse an FV-Jahrgängen verringert. Mitunter werden Vorbereitungsjahrgänge auch grundsätzlich in Frage gestellt und Meinungen laut, nach denen es sich nicht lohne, ein weiteres Jahr in der sekundären Bildung zu verbringen, wenn man sich den Unterrichtsstoff auch in vier Jahren aneignen könne.

Der Versuch allein, die oben angeführten Ziele mithilfe dieser Art intensiven Sprachlernens zu verwirklichen, garantiert den Erfolg jedoch vorerst nicht. Im Prozess des Fremdsprachenlernens spielen nämlich zahlreiche andere Faktoren mit: von neuropsychologischen Faktoren über die Lernumgebung und externe Faktoren, Art und Umfang des Inputs bis hin zu den emotionalen (z.B. Motivation, Einstellungen), kognitiven (Bewusstheit, Wissen, Strategien) und linguistischen Faktoren wie Muttersprache, Interlanguage etc. (Marx/Hufeisen 2010).

3.2. Untersuchungen über FV-Jahrgänge

Da das FVJ-Programm eine besondere Initiative ist, gibt es bislang nur wenig empirische Untersuchungen zu den Vorbereitungsjahrgängen (wobei intensives Fremdsprachenlernen mit erhöhter Stundenzahl im ungarischen Schulsystem z.T. bereits früher, in den sogenannten „nullten“ Jahrgängen von zweisprachigen Schulen praktiziert - und somit auch bekannt - war).

Ungarische Untersuchungen zeigen nur eine schwache Korrelation zwischen Stundenzahl und Fremdsprachenkenntnissen (Nikolov/Józsa 2006), andererseits scheint das intensive Fremdsprachenlernen bei der Füllung von Wissenslücken behilflich zu sein, was auch die Motivation der Lernenden beeinflusst (Nikolov/Ottó/Öveges 2005).

[...]


1 Laut Statistiken aus dem Schuljahr 2010/11 lernten bereits weniger als 14.000 Schüler in FV-Jahrgängen.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Das fremdsprachenintensive Vorbereitungsjahr. Chance für die Förderung der individuellen Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht an ungarischen Schulen
Hochschule
Eötvös Loránd Universität
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2014
Seiten
17
Katalognummer
V434810
ISBN (eBook)
9783668770614
ISBN (Buch)
9783668770621
Dateigröße
516 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
vorbereitungsjahr, chance, förderung, mehrsprachigkeit, fremdsprachenunterricht, schulen
Arbeit zitieren
Enikő Jakus (Autor:in), 2014, Das fremdsprachenintensive Vorbereitungsjahr. Chance für die Förderung der individuellen Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht an ungarischen Schulen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/434810

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