Objektive Hermeneutik. Die Sequenzanalyse


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

23 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Objektive Hermeneutik: Einleitung
1. Begriffsklärung
2. Objektbereich
3. Strukturbegriff der objektiven Hermeneutik
4. Methode
4.1 Prinzipien der objektiv-hermeneutischen Textinterpretation
4.2 Empirisches Vorgehen
4.3. Gültigkeit der Fall-Rekonstruktionen

II. Sequenzanalyse
1. Vorgehensweise bei der Auswertung
2. Text-Interpretation
3. Demonstration
3.1. Lesarten
3.2. Zusammenfassende Interpretation des untersuchten Ausschnitts

III. Kritik an der Methode

Literaturverzeichnis

I. Objektive Hermeneutik: Einleitung

In der qualitativen Forschung gibt es zahlreiche Konzepte zur Analyse von Texten. Die Objektive Hermeneutik ist für die sozialwissenschaftliche Methodologie ein Verfahren der kontrollierten hermeneutischen Auswertung, vor allem von Interviews oder natürlicher Kommunikation. Eine Variante in der Objektiven Hermeneutik ist die Sequenzanalyse, auf die ich im zweiten Teil dieser Arbeit eingehen werde. Der Name Objektive Hermeneutik bezieht sich auf den Anspruch der objektiven Gültigkeit der Ergebnisse und das Interesse an der objektiven Sinnstruktur von Kommunikationszusammenhängen. Die einzelnen Aspekte dieser Forschungsmethode werde ich nun erläutern.

1. Begriffsklärung

Der Begriff Hermeneutik stammt aus dem Griechischen (Hermeneutike: „Kunst der Auslegung, der Deutung“, hermeneuein: „erklären, auslegen, deuten“) und bezeichnet die Kunst der Deutung und Auslegung von Texten, Kunstwerken oder Musikstücken.[1] Wobei sich für die Objektive Hermeneutik die Welt in Texten materialisiert, und somit alles gedeutet werden kann (siehe Kapitel 2. Objektbereich). Für Objektiv lassen sich zwei Bedeutungen finden. In der reflexionstheoretischen Bedeutung steht objektiv dafür, dass die Subjekte sich in ihren Texten objektivieren, indem sie über ihre Texte selbst reflektieren. Die zweite Bedeutung bezieht sich auf die Rekonstruktion der objektiven Bedeutungsstrukturen von Texten, sodass die Grundstruktur von Interaktionen ans Licht gebracht wird, im Unterschied zum subjektiv gemeinten Sinn der Interaktion, der aber im späteren Verlauf der Rekonstruktion ebenso erschlossen werden muss. Die Objektive Hermeneutik ist ein sehr komplexes, theoretisches, methodologisches Konzept und wird auch strukturale Hermeneutik oder genetischer Strukturalismus genannt. Andreas Wernet schreibt: „Das Anliegen der Objektiven Hermeneutik besteht in einer methodischen Kontrolle der wissenschaftlich-empirischen Operation des Verstehens.“[2] Dazu bleiben anfangs die subjektiven Intentionen, also das, was die Textproduzenten fühlen, wünschen, denken, ohne Belang, da sie prinzipiell unzugänglich sind. Vielmehr untersucht man die sozialen Hintergründe, die Ursachen und die Wirkungen sozialer Handlungen.

Der Begriff der Objektiven Hermeneutik wurde geprägt von Ullrich Oevermann, Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Sozialpsychologie an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main.[3] Oevermann entwickelte die Objektive Hermeneutik Ende der sechziger Jahre aus der Forschungspraxis heraus, als er in einem Forschungsprojekt des Max-Planck-Instituts mit dem Thema „Elternhaus und Schule“ die Bedeutung von Sprachbarrieren für den Schulerfolg untersuchte. Zum damaligen Zeitpunkt musste er feststellen, dass die Sozialisationsforschung nicht in der Lage war, die objektiven sozialen Interaktionen zwischen Menschen, in diesem Fall Eltern und Kindern, zu begreifen. Die Soziologie mit ihren Forschungsmethoden konnte lediglich Individuelles erfassen und scheiterte an der empirischen Erschließung des Sozialen. Aus der Unzufriedenheit über die Unvollständigkeit der erworbenen Ergebnisse und der Kritik an der verwendeten Methode heraus bildete sich um Oevermann eine neue Arbeitsgruppe, die das Verfahren der Objektiven Hermeneutik entwickelte. Oevermann sagt, die Methodologie der objektiven Hermeneutik sei „dazu nicht durch theoretische Reflexion gelangt, sondern in der forschungspraktischen Problemlösung, in der die zu untersuchende Wirklichkeit selbst den Forscher dazu zwang, und zwar nicht einfach deshalb, weil er sich dazu entschieden hatte, sich nicht mehr mit standardisiert erhobenen Daten bei der Hypothesenprüfung zufrieden zu geben, sondern theoretische Vorstellungen mit natürlichen Protokollen oder Ausdrucksgestalten der gesellschaftlichen Wirklichkeit unmittelbar zu konfrontieren.“[4]

Oevermann und seine Mitarbeiter entwickelten mit der Objektiven Hermeneutik ein Verfahren, mit dem die sozialisatorische Interaktion durch gründliche Textinterpretation genau beobachtet werden kann. Die Forschungsgruppe kam zu dem Schluss, dass gesellschaftliche Subjekte in Handlungszusammenhänge eingebunden sind, und dass sie sich deren Sinnstrukturen nur zum Teil bewusst sind. Das Ziel der Objektiven Hermeneutik ist es, die grundlegenden Strukturen der Interaktion zwischen den Akteuren herauszuarbeiten, die sich in den verschiedensten Kontexten immer wieder wiederholen und die Beziehung zwischen den Beteiligten prägen. So soll gezeigt werden, wie sich in einzelnen Interaktionen die Allgemeinheit abbildet.

Ein Beispiel:

Bei der Äußerung "ich liebe dich" ist für die Objektive Hermeneutik anfänglich nicht interessant, ob die Aussage tatsächlich mit den Intentionen und Gefühlen des Sprechers übereinstimmt und aufrichtig ist, sondern welche Funktion diese Äußerung in ihrem Kommunikations-Zusammenhang hat. Dabei sind viele verschiedene Funktionen möglich, von der Beschwichtigung in einem Streit etwa bis hin zur Überredungsfunktion. Diese Funktionen müssen aber den Handlungssubjekten nicht unbedingt bewusst sein.[5]

2. Objektbereich

Die Objektive Hermeneutik geht davon aus, dass sich die sinnstrukturierte Welt durch Sprache konstituiert und in Texten materialisiert. Texte sind demnach Protokolle der Wirklichkeit, denn „dort, wo wir es mit (sozial-)wissenschaftlich relevanter Erfahrung zu tun haben, [ist] diese immer schon sprachlich formulierte, also „protokollierte“ Erfahrung“[6]. Die Annahme der Textförmigkeit sozialer Wirklichkeit markiert auch den methodischen Zugang: Wirklichkeitsforschung ist Textforschung, und Soziologen können ausschließlich Texte interpretieren. Die Objektive Hermeneutik erweitert außerdem den Objektbereich der herkömmlichen Hermeneutik über das durch die Psyche vermittelte und psychisch Unbewusste hinaus, hin zum sozial u nbewussten, den latenten[7] sozialen Sinnstrukturen.[8] Im Gegensatz zu anderen qualitativen Verfahren sowie den traditionellen Hermeneutiken, geht es der Objektiven Hermeneutik nicht darum, einen vom Autor intendierten Sinn nachzuvollziehen, sondern den latenten Sinn, die Struktur, das Soziale des Textes zu ermitteln. Die latente Sinnstruktur bezeichnet also die sozialen Gründe, die hinter einer Handlung stehen.

Die zwei Säulen der Objektiven Hermeneutik sind zum einen die Interpretation als methodischer Kern einer Sinn verstehenden Wirklichkeits-Erschließung, zum anderen die überprüfbare Geltung dieser Interpretation, dazu mehr in Kapitel 4.3. (Gültigkeit der Fallrekonstruktionen).

3. Strukturbegriff der objektiven Hermeneutik

Der Objektbereich der objektiven Hermeneutik wird unter anderem beschrieben mit dem, was der Philosoph Karl Popper als dritte Welt oder die Welt des Objektiv-Geistigen bezeichnet. Nach Popper gibt es drei Welten: die erste ist die erfahrbare Welt, die Welt des Physisch-Materiellen. Die zweite Welt ist die der menschlichen Interaktionen und Gedanken, die Welt des Subjektiv-Psychischen. Die dritte Welt beinhaltet die vom Menschen geschaffenen objektiven Strukturen, die dann aber unabhängig von ihm existieren. Sie sind die nicht unbedingt beabsichtigten Schöpfungen des menschlichen Geistes, wie zum Beispiel moralische Systeme, Gesetzeswerke, Gebräuche und regelmäßig wiederkehrende Verhaltensweisen. Die Strukturen der dritten Welt werden geleitet von einem System generativer Regeln. Diese Regeln erzeugen Verhalten, das dem Handlungssubjekt zuvor nicht bekannt war, also objektive Sinnstrukturen, die wiederum die Objektive Hermeneutik versucht zu rekonstruieren. Der generative Regelbegriff wurde geprägt von Noam Chomsky. Die Regelgeleitetheit ist unhintergehbar und verleiht der Handlung erst eine Bedeutung.

Ein Beispiel:

„Ich verspreche Dir, dass ich dich nie wieder anlüge.“ Dieses Versprechen hat wohl jeder schon einmal abgelegt. Die generativen Regeln des Versprechens zwingen uns nicht, es einzulösen, sondern sie eröffnen erst die Handlungsmöglichkeiten „einlösen“ oder „nicht einlösen“ und machen aus der Nichteinlösung eine sinnhafte Handlung. Es geht also nicht darum zu wissen, „was zu tun ist“ (nämlich dass man, laut den sozialen Normen, ein Versprechen nicht brechen darf), sondern, „was es heißt, etwas zu tun“ (also welche Bedeutung das Nichteinhalten eines Versprechens hat).[9]

Die Objektiven Hermeneutik versteht Strukturen als jene Gesetzmäßigkeiten, mit der eine Lebenspraxis eines Individuums, einer Gruppe, einer Gemeinschaft, Institution oder Gesellschaft über einen bestimmten Zeitraum eine typische Auswahl aus den nach Regeln erzeugten Handlungsmöglichkeiten vornimmt. Strukturen im Konzept der objektiven Hermeneutik sind wirklich und zeitlos, sie rekonstruieren und transformieren sich, steuern autonom Handlungen von Subjekten innerhalb einer Lebenspraxis und agieren an jedem Ort und auf jeder Ebene, wo Sozialität herrscht. Es wird außerdem zwischen zwei Strukturschichten unterschieden. Die universalen Strukturen (z.B. Moralität oder Vernünftigkeit), die nicht historisch, aber dafür invariant sind und den Handlungsraum der Menschen eröffnen und begrenzen, reproduzieren sich in erster Linie. Historische Strukturen (epochenspezifische, gesellschaftsspezifische, subkulturelle, milieuspezifische Regeln) lassen sich im Gegensatz dazu leichter transformieren, wobei sie von übergeordneten Strukturen geformt werden. Die universalen Strukturen sind dem Unbewussten zuzurechnen, die historischen Strukturen kommen sowohl im Unbewussten, Vorbewussten als auch im partiell Bewussten vor. Die Gesetzmäßigkeiten der Strukturreproduktion und der Strukturtransformierung sollen bei der Rekonstruktion der Strukturen bestimmt werden. Die Interpretation beruft sich auf die Möglichkeit einer Rekonstruktion der latenten Sinnstruktur des Textes entlang der Regeln. In die Rekonstruktion der der latenten Sinnstruktur geht aber immer auch die mentale Bedeutungsebene mit ein. Oevermann geht davon aus, dass durch striktes Befolgen der hermeneutischen Kunstlehre eine objektive Rekonstruktion objektiver Strukturen erreicht werden kann. Dabei unterliegen allerdings stets alle Teile des Konzepts Wandlungen.[10]

[...]


[1] http://www.wissen.de, 25.02.2005

[2] Wernet, 2000, S. 11

[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Oevermann (25.02.2005)

[4] Reichertz, 1997, S. 33f

[5] ILMES - Internet-Lexikon der Methoden der empirischen Sozialforschung: http://www.ilmes.de (25.02.2005)

[6] Bohnsack, 1991, S. 78

[7] latent: vorhanden, aber nicht in Erscheinung tretend, verborgen; [lateinisch: latens, latentis, ”verborgen, unsichtbar“, zu latere ”verborgen sein“] http://www.wissen.de (25.02.2005)

[8] Bohnsack, 1991

[9] http://de.wikipedia.org/wiki/Objektive_Hermeneutik (25.02.2005)

[10] Reichertz, 1997, Kap. 2

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Objektive Hermeneutik. Die Sequenzanalyse
Hochschule
Universität Augsburg
Veranstaltung
Verbale Daten analysieren
Note
1,7
Autor
Jahr
2005
Seiten
23
Katalognummer
V43364
ISBN (eBook)
9783638411837
ISBN (Buch)
9783638680059
Dateigröße
555 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Objektive, Hermeneutik, Beachtung, Sequenzanalyse, Verbale, Daten
Arbeit zitieren
Daniela Burghardt (Autor:in), 2005, Objektive Hermeneutik. Die Sequenzanalyse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/43364

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