Goethe als Nationalautor. Der Dichter und seine Kritiker


Seminararbeit, 2005

19 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der klassische Nationalautor

3. Erste Erfolge

4. Das Publikum

5. Der politische Goethe

6. Junges Deutschland

7. Goethe und die Kunst

8. Die Romantiker

9. Die Historisierung Goethes

10. Die Goethe-Renaissance

11. Die Goethe-Gesellschaft

12. Goethe in der Schule

13. Schlußwort

Literaturverzeichnis

Anhang: Zeittafel

1. Einleitung

„Die Deutschen mögen mich nicht! Ich mag sie auch nicht!“[1] - Mit diesem leicht abgewandelten Goethe-Zitat läßt sich ein erster Eindruck von den Spannungen gewinnen, die lange Zeit das schwierige Verhältnis zwischen dem Autor und seinem Publikum beherrschten. Zu seinen Lebzeiten haderte Johann Wolfgang von Goethe mit jenen, von denen und für die er lebte: „Meine Sachen können nicht popular werden!“[2] stöhnte er noch 1828 im Gespräch mit Eckermann, mürbe von zahlreichen Anfeindungen, die ihr Thema oftmals nicht im literarischen, sondern im privaten, moralischen, religiösen oder politischen Bereich fanden und ihm seine schon zu Lebzeiten großen Erfolge vergällten.

Diese Arbeit will die Entwicklung Goethes zum Nationalautor nachvollziehen und dazu aus der großen Zahl von zeitgenössischen Autoren, die sich zu ihm äußerten, einige auswählen und an ihnen exemplarisch zeigen, was die Gründe für jene waren, die ihn befürworteten oder ablehnten. Denn nach seinen großen Anfangserfolgen mit dem Götz von Berlichingen und den Leiden des jungen Werthers war er keineswegs sofort und durchweg bis heute der erhabene Schriftsteller und große Nationalautor, als den wir ihn jetzt ganz selbstverständlich kennen. Während Goethe seinen langjährigen älteren Freund Wieland auf seiner Seite hatte, erhielt er schon für den Götz Kritik von Gottsched und Lessing. Später sah er sich Angriffen seitens der Romantiker und Jungdeutschen ausgesetzt, und in den Jahrzehnten von 1830 bis 1880 erreichte sein Nachruhm in Deutschland seinen Tiefpunkt.[3] So wurden Berliner Zeitungen durch die königliche Zensur gemaßregelt, die dem Tode Goethes zu viel Beachtung geschenkt hatten.[4] Auch sein hundertster Geburtstag ging 1849 nahezu unbemerkt vorbei, während Schillers 100-Jahrfeier mit bisher ungekannter öffentlicher Begeisterung gefeiert wurde.[5]

Erst gegen Ende des Jahrhunderts ereignete sich eine wahre Goethe-Renaissance, die sich auch in Universitäten und Schulen hinein verbreitete, während sich die Goethe-Gesellschaft gründete.

Diese Arbeit stützt sich hauptsächlich auf Leppmanns Goethe und die Deutschen, auf Schulz’ Exotik der Gefühle. Goethe und seine Deutschen sowie auf Gilles Aufsatz Wann und wo entsteht ein klassischer Nationalautor? Nicht verwandt wurde Karl Robert Mandelkows vierbändige Dokumentensammlung Goethe im Urteil seiner Kritiker sowie das Goethe-Jahrbuch (jetzt Goethe), deren Bearbeitung den Umfang einer Semesterarbeit sprengen würden.

Als Anhang findet sich eine graphische Darstellung der zeitlichen Einordnung der erwähnten Autoren sowie einiger Werke Goethes.

Zunächst steht jedoch die Frage an, was denn ein Nationalautor eigentlich sei.

2. Der klassische Nationalautor

Eine Nation in unserem Sinne ist zunächst eine Sprachgemeinschaft, die als weiteres Merkmal eine gemeinsame Mentalität, einen Nationalcharakter ausgebildet hat.[6] Der Be-griff Nationalliteratur begegnet erstmals Ende des 18. Jahrhunderts, je nach Quelle zuerst bei Ludwig Wachler in seinen Vorlesungen über die Deutsche Nationalliteratur[7] oder 1780 bei Leonhard Meister. Er wurde durch Johann Gottfried Herder weiterentwickelt, dieser forderte eine Nationalliteratur

„aus dem Bewußtsein der Spannung ästhet[ischer] und polit[ischer] Perspektiven, klass[ischer] und moderner Elemente und aus dem Wissen um die charakterist[ischen] Eigenschaften einer nationalen Sprache, d.h. eine Literatur, die nationale Verhältnisse, Impulse und Energien als spezif[ische] Leistung der Sprache zur Darstellung bringt.“[8]

Im 19. Jahrhundert wurde der Begriff verflacht und politisch instrumentalisiert zur Forderung erhoben, eine Literatur in der Muttersprache müsse Wesenszüge eines unverwechselbaren, typischen Nationalcharakters gestalten.[9]

Der Begriff Nationalautor hingegen findet sich nirgends definiert, doch Goethe selbst erklärt zumindest seine Vorstellung davon, wie ein solcher entstehen kann.[10] Dazu bedarf es der Interaktion zwischen Autor und Nation, die nur gelingen kann, wenn sie in ein kollektives Gedächtnis eingebettet ist, das politisch-historische und literarische Traditionen bereitstellt.[11] Dann kann ein Nationalautor entstehen:

„Wenn er in der Geschichte seiner Nation große Begebenheiten vorfindet, wenn er in den Gesinnungen seiner Landsleute Größe, in ihren Empfindungen Tiefe und in ihren Handlungen Stärke und Konsequenz nicht vermißt; wenn er selbst, vom Nationalgeiste durchdrungen, durch ein einwohnendes Genie sich fähig fühlt, mit dem Vergangenen wie mit dem Gegenwärtigen zu sympathisieren; wenn er seine Nation auf einem hohen Grade der Kultur findet, so daß ihm seine eigene Bildung leicht wird, wenn er viele Materialien gesammelt, vollkommene oder unvollkommene Versuche seiner Vorgänger vor sich sieht und so viel äußere und innere Umstände zusammentreffen, daß er kein schweres Lehrgeld zu zahlen braucht, daß er in den besten Jahren seines Lebens ein großes Werk zu übersehen, zu ordnen und in einem Sinne auszuführen fähig ist.“[12]

Die Anforderungen an sich selbst sah Goethe durchaus erfüllt, nur die Vorraussetzungen bei seinen Landsleuten schienen ihm nicht gegeben, da Deutschland noch keinen Nationalstaat gebildet hatte. Sein Literarischer Sansculottismus war eigentlich eine Antwort auf einen 1795 veröffentlichten polemischen Aufsatz des Berliner Geistlichen Daniel Jenisch, in dem dieser die „entschiedenste Dürftigkeit oder vielmehr Armseligkeit der Deutschen an vortrefflichen classisch-prosaischen Werken“ beklagte und durch den Goethe sich angegriffen fühlte. Er empfand Jenisch als Guillotineur der jungen deutschen Literatur.[13] Goethes Aufsatz liegt das Argument zugrunde, daß es in „Deutschland, anders als in England oder Frankreich, an den Voraussetzungen fehle, repräsentative Nationalautoren hervorzubringen.“[14] Goethe ist es jedoch nicht daran gelegen, an der Überwindung dieser Verhältnisse mitzuwirken, er fürchtet ganz im Gegenteil die dazu notwendigen Umwälzungen.[15]

Ein Nationalautor muß klassische Werke schaffen. Der Ausdruck classicus galt in Rom der Bezeichnung von Angehörigen der höchsten Vermögensklasse; im 18. Jahrhundert wurde der Begriff klassisch auch von deutschen Schriftstellern verwendet und meinte ein meisterhaftes und damit mustergültiges Werk.[16] Goethe hielt sich jedoch bedeckt: „Wir wollen die Umwälzungen nicht wünschen, die in Deutschland klassische Werke vorbereiten könnten,“[17] lag doch die in ihren Auswüchsen abschreckende Französische Revolution noch nicht lange zurück. Klassik „setzt Revolution voraus!“[18] Sein ganzes Leben hindurch ist ihm diese Zurückhaltung vorgeworfen worden, die öffentliche Meinung hoffte auf Revolution, und Goethe fordert noch 1815 in einem Brief an den Wiener Publizisten Franz Bernhard von Buchholz, „daß die Bürger der deutschen Staaten jegliche auf eine nationale Vereinigung hinzielenden Schritte den ‚Großen, Mächtigen und Staatsweisen’ überlassen sollten.“[19]

Goethe selbst sah sich also aus verschiedenen Gründen nicht als Nationalautor, eine Meinung, die Wieland (unausgesprochen) nicht teilte.

3. Erste Erfolge

Christoph Martin Wieland, der langjährige ältere Freund Goethes[20] gab bald nach Erscheinen des Götz von Berlichingen „der Überzeugung Ausdruck, Goethe habe bewiesen, er könne ein zweiter Shakespeare werden.“[21] Aus dem Munde des Shakespeare- und Cicero-Übersetzers war dies ein gewichtiges Lob.[22] Der ehemalige Erfurter Philosophieprofessor und Goethes Vorgänger als Prinzenerzieher in Weimar[23] hätte Grund zu Neid und Feindschaft gehabt, doch ist er einer von vielen, die dem „Zauber der goetheschen Persönlichkeit“ erlagen.[24] Zu persönlichem Kontakt und regem Austausch bestand reichlich Gelegenheit, da Wieland neben Schiller und Herder auch Goethe als Mitarbeiter an seiner Zeitschrift Teutscher Merkur gewinnen konnte. Goethe selbst änderte erst im Laufe seines Lebens seine Meinung über Wieland: Noch 1774 setzte er in seiner Farce Götter, Helden und Wieland das Singspiel Alceste beißendem Spott aus, doch später erkannte er Wielands Verdienste um die deutsche Literatur uneingeschränkt an und hob in seinem Nachruf „besonders die von W[ieland] gegründete Zeitschrift Teutscher Merkur [...] hervor, die er als Leitfaden der Literaturgeschichte dieser Jahre bezeichnet.“[25] Wieland sah den Götz als Teil des Diskurses um die Rolle des Theaters bei der Identitätsfindung der Nation, da dieser die Züge unserer Nation charakterisierte. Wielands Ausführungen folgend war Goethe hier auf dem besten Wege, zum Nationalautor zu werden.[26]

Allerdings regte sich auch Widerstand gegen den Götz, den Goethe selbst provoziert hatte, indem er bewußt gegen die hergebrachten Regeln des Dramas verstieß und damit unter anderen Lessing und Gottsched gegen sich aufbrachte. Der Literaturästhetiker Johann Christoph Gottsched hatte in seinem Versuch einer kritischen Dichtkunst von 1730 unter anderem Einheit von Ort, Zeit und Handlung festgelegt, worüber sich Goethe mit allein fünfzig Ortswechseln in der ersten Fassung hinwegsetzte. Der Erfolg gab Goethe recht und düpierte Gottsched, der unter anderem damit argumentiert hatte, daß auch der Zuschauer keinen Ortswechsel vornehme.[27] Jedoch konnte dies Gottscheds Ruf eines „deutschen Literaturpapstes“[28] noch nicht schwächen. Auch Gotthold Ephraim Lessing sah die teils von ihm selbst eingeführten Konventionen verletzt, zudem fühlte er sich übertrumpft durch den „jungen Mann, der ihm so mühelos den Lorbeerkranz des führenden deutschen Dramatikers von den Schläfen genommen und ihn sich selbst aufs Haupt gesetzt hatte.“[29]

[...]


[1] eig. „Sie mögen mich nicht! Das matte Wort! Ich mag sie auch nicht! Ich habe es ihnen niemals zurechte gemacht!“, zit.n. Peter Boerner: „Sie mögen mich nicht! Ich mag sie auch nicht! - Goethe über die Deutschen, in: Helmut Scheuer (Hrsg.): Dichter und ihre Nation, Frankfurt 1993, 138-150, hier 142f.

[2] zit.n. Klaus Gille: Wann und wo entsteht ein klassischer Nationalautor, in: Ders.: Zwischen Kulturrevolution und Nationalliteratur. Gesammelte Aufsätze zu Goethe und seiner Zeit, Berlin 1998, 279-302, hier 287.

[3] vgl. Wolfgang Leppmann: Goethe und die Deutschen. Vom Nachruhm eines Dichters, Stuttgart 1962, 64.

[4] vgl. Clemens Pornschlegel: Der literarische Souverän. Studien zur politischen Funktion der deutschen Dichtung bei Goethe, Heidegger, Kafka und im George-Kreis, Freiburg 1994.

[5] vgl. Leppmann (1962), 63.

[6] vgl. Hanns-Marcus Müller: Mit Goethe Schule machen? Der ‚Nationaldichter’ und sein Verhältnis zu ‚Volk’ und ‚Nation’ - ein Plädoyer für den politischen Goethe im Literaturunterricht, in: Peter Pabisch: Mit Goethe Schule machen? Akten zum Internationalen Goethe-Symposium Griechenland-Neumexiko-Deutschland 1999, Bern u.a. 2002, 137-150, hier 138.

[7] Herder-Verlag (Hrsg.): Der Große Herder. Nachschlagewerk für Wissen und Leben, Band 17, Freiburg 1934, 980.

[8] Günther Schweikle: Nationalliteratur, in: Günter und Irmgard Schweikle (Hrsg.): Metzler Literaturlexikon. Begriffe und Definitionen, 2. Aufl. Stuttgart 1990, 319.

[9] vgl. ebd.

[10] Johann Wolfgang von Goethe: Literarischer Sansculottismus, in: Erich Truntz (Hrsg.): Goethes Werk. Hamburger Ausgabe, Band 12, Sonderausgabe München 1998, 239-244, hier 240.

[11] vgl. Gille (1998), 279.

[12] Goethe (1998), 240.

[13] vgl. Gerhard Schulz: Exotik der Gefühle. Goethe und seine Deutschen, München 1998, 20.

[14] Boerner (1993), 144.

[15] Goethe (1998), 241.

[16] vgl. Wolfgang Richardt: Weimarer Klassik (1786 - 1805), 2004, <http://www.wolfgang.richardt.info/5-7.htm> (7.I.2005).

[17] vgl. Anm. 15. Überhaupt mahnte er zum sparsamen Umgang mit Ausdrücken wie klassischer Autor, klassisches Werk, vgl. Goethe (1998), 240.

[18] Müller (2002), 141.

[19] Boerner (1993), 144, siehe auch Kapitel 5.

[20] vgl. Werner Kohlschmidt: Geschichte der deutschen Literatur von der Romantik bis zum späten Goethe, Stuttgart 1974, 629.

[21] Leppmann (1962), 30.

[22] vgl. ebd. 143.

[23] vgl. Bernhard Zimmermann: Wieland, Christoph Martin, in: Bernd Lutz und Benedikt Jeßing (Hrsg.): Metzler Autorenlexikon. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 3. Aufl. Stuttgart, Weimar 2004, 807-809, hier 807f.

[24] Leppmann (1962), 41.

[25] Zimmermann (Metzler Autorenlexikon 2004), 808.

[26] Gille (1998), 286.

[27] vgl. Leppmann (1962), 17f.

[28] Dietrich Kreidt: Gottsched, Johann Christoph (Metzler Autorenlexikon 2004), 236-237, hier 236.

[29] vgl. Leppmann (1962), 34f.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Goethe als Nationalautor. Der Dichter und seine Kritiker
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften)
Veranstaltung
Proseminar „Nationalliteraturen?“
Note
1,7
Autor
Jahr
2005
Seiten
19
Katalognummer
V43310
ISBN (eBook)
9783638411370
ISBN (Buch)
9783638763288
Dateigröße
478 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Goethe, Nationalautor, Dichter, Kritiker, Proseminar
Arbeit zitieren
Eike-Christian Kersten (Autor:in), 2005, Goethe als Nationalautor. Der Dichter und seine Kritiker, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/43310

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