Die Rolle der Muttersprache "Deutsch" im Fremdsprachenunterricht. Ein Störfaktor oder eine Lernhilfe?


Examensarbeit, 2018

68 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1. Motivation
1.2. Zielder Arbeit
1.3. Methodisches Vorgehen

2. Definitionen der Begriffe Erstsprache, Muttersprache, Zweitsprache, Fremdsprache, Bilingualismus und Mehrsprachigkeit

3. Die Spracherwerbstheorien im Uberblick
3.1. Der Erstspracherwerb
3.1.1. Die drei Stufen des Sprechens nach Lew Wygotsky und die Entwicklung des ,,mentalen Lexikons“
3.1.2. Der kognitivistische Ansatz (Jean Piaget)
3.1.3. Nativismus (Noam Chomsky)
3.2. Der Zweitspracherwerb
3.3. Unterschiede zwischen dem Muttersprach- und dem Zweitspracherwerb im Fremdsprachenunterricht
3.4. Der bilinguale Spracherwerb
3.4.1. Differenzierung beider Sprachsysteme

4. Der Fremdsprachenunterricht und seine (traditionellen) Vermittlungsmethoden
4.1. Die Grammatik-Ubersetzungsmethode
4.2. Diedirekte Methode
4.3. Die audiolinguale und audiovisuelle Methode
4.4. Die kommunikative Methode
4.5. Der Fremdsprachenunterricht heute
4.6. Die Verwendung der Muttersprache im heutigen Fremdsprachenunterricht
4.7. Ziele des heutigen Fremdsprachenunterrichts

5. Die Rolle der Muttersprache „Deutsch“ im Fremdsprachenunterricht nach Wolfgang Butzkamm
5.1. Wolfgang Butzkamm und sein „Einsprachigkeitsmodell“
5.1.1. Butzkamms Einsprachigkeitstheorie im Detail
5.2. Bilinguale Unterrichtstechniken nach Butzkamm
5.2.1. Die „Sandwich-Methode“
5.2.2. Lieder im Fremdsprachenunterricht
5.2.3. “Laugh & Learn Dialogues “
5.2.4. Das Ubersetzen von Bibelpassagen
5.2.5. Brainstorming
5.2.6. Der Einsatz mono- und bilingualer Worterbucher
5.2.7. Die „Ubersetzungsmethode“
5.2.8. Das „Funf-Punkte-Programm“

6. Weitere Praxisbeispiele bilingualer Unterrichtsmethoden

7. Forschungsergebnisse zur Effizienz des Einsatzes der Muttersprache im Fremdsprachenunterricht
7.1. Die Muttersprache als Lernhilfe
7.2. Die Muttersprache als Storfaktor

8. Zusammenfassung und Ausblick

9. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

1.1. Motivation

Die vorliegende Staatsexamensarbeit „Die Rolle der Muttersprache „Deutsch“ im Fremdsprachenunterricht - ein Problemfaktor oder eine Lernhilfe?“ thematisiert die Effizienz und Wirksamkeit des Einsatzes der Muttersprache im fremdsprachlichen Unterricht. Das Thema habe ich ausgewahlt, da mich dieses Themenfeld als angehender Fremdsprachenlehrer fur die Facher „Spanisch“ und „Englisch“ in hohem Mafie beschaftigen wird. Ein weiterer Grund fur die Wahl dieses Themas ist eine personliche Erfahrung wahrend meines Schulpraktikums im Englischunterricht: Ich fuhrte als Praktikant in einer 7. Klasse eines Gymnasiums wahrend eines Unterrichtsbesuches eigenstandig die englischen Konditionalsatze (if-clauses) ein. Dabei versuchte ich, die Regeln des Gebrauchs dieser grammatikalischen Einheit in der Fremdsprache zu erklaren, da von den Ausbildern1 die Einsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht erwartet und vorausgesetzt wird. Trotz Gegenfragen von meiner Seite und dem Einsatz visueller sowie auditiver Unterrichtsmaterialien, konnte ein Schuler diejeweiligen Regeln in der Fremdsprache nicht nachvollziehen. Da seine Enttauschung sich stark bemerkbar machte und seine Motivation sichtbar abnahm, erklarte ich ihm die if-clauses auf Deutsch. Dies fuhrte schliefilich dazu, dass er die Regeln verstand und sie auch erfolgreich in der nachsten Grammatikubung anwenden konnte. Nichtsdestotrotz wurde mir nach dem Unterrichtsbesuch von meiner Ausbilderin mitgeteilt, dass der Einsatz der Muttersprache im Unterricht „unerwunscht“ sei. Der Einsatz der Muttersprache sei namlich lediglich in „Ausnahmefallen“ und fur ,,unterrichtsorganisatorische Aspekte“ erlaubt. Dieses Beispiel zeigt, dass die Sprachvernetzung im Fremdsprachenunterricht noch nicht ausreichend toleriert wird. Diese Erfahrung fuhrte schliefilich dazu, dass ich den Einsatz der Muttersprache im Fremdsprachenunterricht hinsichtlich seiner Lerneffizienz kritisch hinterfragte: Ist der Einsatz der Muttersprache wirklich fur den Fremdsprachenerwerb hinderlich? Stort er den Erwerb einer Fremdsprache tatsachlich? Oder kann er in einigen Fallen, richtig eingesetzt, sogar als Stutze fur den Erwerb einer neuen Sprache fungieren? Wieso wird er von vielen Ausbildem fur den Fremdsprachenerwerb als hinderlich angesehen, obwohl in den Lehrplanen ebenfalls von der „funktionalen Einsprachigkeit“ die Rede ist? Das vergangene Semester setzte ich mich innerhalb eines englischen Fremdsprachendidaktik-Seminars mit der Rolle der Muttersprache im Fremdsprachenunterricht auseinander und lernte dabei den Ansatz der „funktionalen Einsprachigkeif ‘ von Wolfgang Butzkamm genauer kennen. Dieser Ansatz loste bei mir grofies Interesse aus, da ich in diesem Feld bereits meine ersten Erfahrungen sammeln konnte. Nach intensiver Auseinandersetzung mit dieser Thematik und grofier Motivation dafur, entschloss ich mich schliefilich, meine Examensarbeit zu diesem Thema zu verfassen.

1.2. Ziel der Arbeit

Die Bedeutung der Rolle, die die Muttersprache im Fremdsprachenunterricht einnehmen soll, bleibt unter Politikern, Padagogen und Linguisten heftig umstritten. Es haben sich dabei innerhalb dieser kontroversen Debatte zwei herausstechende Positionen gebildet: Zum einen wird die Einbindung der Muttersprache in den Fremdsprachenunterricht als wunschenswert angesehen, da sie fremdsprachliches Verstandnis begunstige (vgl. bspw. Butzkamm 2003, 2007, 2013, Butzkamm/Caldwell 2009, Meijer 1974, Sastri 1970). Zum anderen gibt es Stimmen, die die Meinung vertreten, dass die Muttersprache vollstandig aus dem Fremdsprachenunterricht verbannt werden solle, da sie zu sprachlichen Verwirrungen und nachteiligen Interferenzen fuhre und dies den Erwerb fremdsprachlicher Kompetenzen erheblich behindere bzw. sich ein einsprachiger Fremdsprachenunterricht als effektiver erweise (vgl. bspw. Atkinson 1993, Pienemann 1998, Kefiler 2006). In der vorliegenden Arbeit soll untersucht werden, inwiefern sich die Verknupfung von muttersprachlichen und fremdsprachlichen Elementen im Fremdsprachenunterricht positiv auf das Erlernen weiterer Fremdsprachen auswirken kann. Es wird dabei von der Annahme ausgegangen, dass der Einsatz der Muttersprache „Deutsch“ als L1 im Fremdsprachenunterricht als Lernhilfe angesehen werden kann.

1.3. Methodisches Vorgehen

Die vorliegende Arbeit wird mit einer Definition verschiedener Begriffe eingeleitet, welche eine signifikante Rolle fur das Verstandnis der Arbeit einnehmen. Nach der Erlauterung der relevanten Termini wird der Erstspracherwerb genauer in den Blick genommen, da er die Basis fur den weiteren Erwerb einer Sprache bildet. Die Effizienz des Einsatzes der Muttersprache im fremdsprachlichen Unterricht ist nur dann hinreichend zu analysieren, wenn deutlich gemacht wurde, wie eine Muttersprache oder Fremdsprache erworben wird. Es bildet somit das Fundament fur die Erlauterung der nachfolgenden Theorien und didaktischen Ruckschlusse. Im Spracherwerbskapitel wird dabei auf Theorien zum Erst- und Zweitspracherwerb sowie zum bilingualen Spracherwerb eingegangen. Dabei wird der ungesteuerte Zweitspracherwerb in Verbindung zum Mutterspracherwerb gebracht, damit deutlich wird, inwiefern sich das Aneignen der Muttersprache vom schulischen Fremdsprachenunterricht unterscheidet. Im Unterkapitel zum bilingualen Spracherwerb wird untersucht, wie ein Kind beide Sprachsysteme differenziert anwenden kann. Diese Fahigkeit zwischen zwei Sprachsystemen unterscheiden zu konnen, kann Aufschlusse daruber geben, inwiefern nachteilige Interferenzen tatsachlich durch den Einsatz der Muttersprache im Fremdsprachenunterricht begunstigt werden. Nachdem geklart wurde wie Mutter- und Fremdsprache erworben werden, werden Methoden des Fremdsprachenunterrichts thematisiert. Es werden diverse Vermittlungsmethoden vorgestellt, die den damaligen und den heutigen Fremdsprachenunterricht pragen (die Grammatik-Ubersetzungsmethode, direkte Methode, audiolinguale/audiovisuelle Methode und die kommunikative Methode). Diese Vermittlungsmethoden geben Aufschluss daruber, welche Rolle die Muttersprache in diesen Konzepten des fremdsprachlichen Unterrichts einnahm bzw. einnimmt. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird die Verwendung der Muttersprache im heutigen Fremdsprachenunterricht erlautert. Dabei wird ebenfalls auf die Merkmale des heutigen Fremdsprachenunterrichts und auf seine Ziele Bezug genommen. Nachdem die Konzepte des Fremdsprachenunterrichts erklart wurden, folgt der Hauptteil der Arbeit: ,,die Rolle der Muttersprache „Deutsch“ im heutigen Fremdsprachenunterricht nach Wolfgang Butzkamm“. Wolfgang Butzkamm ist ein wichtiger Vertreter des bilingualen Fremdsprachenunterrichts und wird in dieser Arbeit in den Mittelpunkt der Uberlegungen zum Einsatz der Muttersprache im Fremdsprachenunterricht gestellt. Sein Modell der funktionalen Einsprachigkeit wird vorgestellt und die verschiedenen Thesen erlautert. In Butzkamms Modell wird ausfuhrlich erklart, welche Relevanz der muttersprachliche Einsatz in fremdsprachlichen Unterrichtssituationen besitzt. Um die Rolle der Muttersprache im Fremdsprachenunterricht innerhalb dieser Arbeit eingehend bestimmen zu konnen, werden ihre Effekte zunachst theoretisch eingeleitet und anschliefiend anhand praktischer Unterrichtsbeispiele beschrieben. Der muttersprachliche Einsatz wird hierbei hinsichtlich seiner didaktischen Effizienz kritisch reflektiert. Beispiele fur Butzkamms bilinguale Unterrichtsmethoden sind die ,,Sandwich- Technik“ oder das Ubersetzen von Bibelpassagen. Das Ende des Kapitels wird mit der Vorstellung von Butzkamms „Funf-Punkte-Programm“ abgerundet, welches die funf wichtigsten Merkmale eines effektiven zweisprachigen Fremdsprachenunterrichts resumiert Neben Butzkamm werden auch weitere Praxisbeispiele von anderen Sprachlektoren vorgestellt. Im Anschluss wird versucht, Studien und wissenschaftliche Forschungsergebnisse anzufuhren, die die genannten Effekte empirisch belegen konnen. Die Forschungsresultate sollen Aufschluss daruber geben, inwiefern die aktive Einbindung der Muttersprache den Fremdsprachenerwerb letztendlich begunstigt oder behindert. Schliefilich endet die Arbeit mit einem Fazit und einem Ausblick auf den zukunftigen Fremdsprachenunterricht, welcher die Bedeutung der Muttersprache in diesem Zusammenhang resumiert.

2. Definition der Begriffe Erstsprache, Muttersprache, Zweitsprache, Fremdsprache, Bilingualismus und Mehrsprachigkeit

Dieses Kapitel dient der Klarung von Begrifflichkeiten, die im Rahmen dieser Examensarbeit eine Rolle spielen. Einige von ihnen sind innerhalb der Sprachwissenschaften nicht einheitlich definiert bzw. werden nicht einheitlich verwendet. Daher ist die Verwendung dieser Begriffe innerhalb dieser Arbeit in ihrem Zusammenhang zu klaren.

Der Begriff „Mehrsprachigkeit“ kann sich auf den gesellschaftlichen, institutionellen oder individuellen Gebrauch von Sprache beziehen. Mehrsprachigkeit bezeichnet somit die sprachlichen Kompetenzen in mehreren Sprachen. Diese Sprachen konnen vielseitig sein z.B. offizielle Nationalsprachen, Regional-, Minoritaten- und Gebardensprachen sowie auch Dialekte (vgl. Riehl 2014, S. 9). Der Begriff wird in der Sprachwissenschaft als Oberbegriff fur verschiedene Formen des Spracherwerbs verwendet, denen ein Mensch im Laufe des Lebens ausgesetzt ist (vgl. Franceschini 2009, S. 63). Der Begriff „Mehrsprachigkeit“ umfasst somit den Begriff „Zweisprachigkeit“ bzw. „Bilingualismus“. Ursprunglich bezog sich der Begriff „Bilingualismus“ auf das Beherrschen von zwei Sprachen. Im weiteren Sinne bedeutet dies: das Vorhandensein aktiver und/oder passiver grammatikalischer und kommunikativer Fahigkeiten in zwei Sprachen (vgl. Teymoortash 2010, S. 31f.). In der deutschsprachigen Forschung werden jedoch heute die Begriffe „Mehrsprachigkeit“ und „Zweisprachigkeit“ haufig synonym verwendet. Innerhalb dieser Arbeit wird der Begriff „Multilingualismus“ bzw. „Mehrsprachigkeit“ fur das Beherrschen von mehreren Sprachen und der Begriff „Zweisprachigkeit“ bzw. „Bilingualismus“ fur das Beherrschen von zwei Sprachen verwendet. Die erlernten Sprachen werden anhand der Reihenfolge ihres Erwerbs als Erstsprache (L1) oder Zweitsprache (L2) definiert (vgl. Riehl 2014, S. 9). Ferner wird zwischen „Zweitsprache“ und „Fremdsprache“ differenziert (vgl. Edmondson/House 2000, S. 10). Unterschieden wird zwischen beiden Formen hinsichtlich ihrer Funktion: Falls die L2 fur das alltagliche Leben eines Individuums eine signifikante Rolle einnimmt, z.B. wenn Gefluchtete in der Bundesrepublik Deutschland mit der deutschen Sprache konfrontiert werden und diese somit erlernen, ist von der „Zweitsprache“ die Rede. Wenn jedoch Schuler innerhalb des Fremdsprachenunterrichts eine Fremdsprache erlernen, die keinen erheblichen Einfluss auf ihren Alltag hat, spricht man hier von der „Fremdsprache“. Ausnahmen existieren jedoch auch hier: z.B. wenn Gefluchtete in Deutschland die deutsche Sprache im schulischen Kontext (im Fach „Deutsch als Fremdsprache“) erwerben. Hier wird die deutsche Sprache als Fremdsprache erworben, obwohl sie fur den Alltag der Sprachlernenden eine signifikante Rolle einnimmt. Daher existiert mittlerweile auch ,,Deutsch als Zweitsprache“. Trotz alledem zeigt diese Ausnahme, dass eine eindeutige Unterscheidung beider Begriffe nicht moglich ist (vgl. Edmondson/House 2000, S. 10).

Der Begriff „Erstsprache“ wird in der vorliegenden Arbeit hauptsachlich synonym zu „Muttersprache“ verwendet. Nichtsdestotrotz erscheint er in einigen Situationen unpassend, wenn beispielsweise das Kind mehrsprachig aufwachst. In diesem Falle gehoren mehrere Sprachen zu seiner Erstsprache. Dadurch, dass in diesem bilingualen Kontext der Begriff „Erstsprache“ unpassend erscheint, wird dieses Phanomen unter Sprachwissenschaftlern als „bilingualer Erstspracherwerb“ definiert (vgl. Riehl 2014, S. 11). Somit konnen mehrere Sprachen zu den Erstsprachen eines Kindes gehoren, da es beide Sprachen simultan erwirbt. Diese Erwerbssituation kann in einer naturlichen Umgebung erfolgen, wie z.B. bei Migranten in Deutschland, oder die Sprachen konnen autodidaktisch bzw. in der Schule aktiv erlernt werden. Aus diesem Grund beruht der letzte Fall des Spracherwerbs auf hauptsachlich instruiertem/gesteuertem und unnaturlichem Lernen (vgl. Riehl 2014, S. 11f.). Letztendlich hat dieses Kapitel verdeutlicht, dass es bisweilen keine eindeutigen Definitionen fur alle Terminologien gibt, da viele Fachausdrucke innerhalb der Mehrsprachigkeitsforschung vielseitig interpretierbar sind bzw. sich hinsichtlich ihrer Definition vermischen. Demnach sei fur die vorliegende Arbeit zu klaren, dass die Begriffe „Erst-“ und „Muttersprache“ hier synonym verwendet werden. Die Termini „Mehrsprachigkeit“ und „Bilingualismus“ werden jedoch nicht synonym verwendet, da „bilingual“ der lateinische Ausdruck fur „zweisprachig“ ist und „mehrsprachig“ bzw. „multilingual“ sich auf mehrere Sprachen bezieht.

3. Spracherwerbstheorien im Uberblick

Nach Klarung der fur die vorliegende Arbeit relevanten Begrifflichkeiten wird sich im folgenden Kapitel mit der Frage auseinandergesetzt, wie ein Kind seine Erstsprache, Zweitsprache und schliefilich die Fremdsprache im Unterricht erwirbt. Bereits seit Jahrhunderten fragt sich der Mensch, wo der Ursprung des Spracherwerbs liegt. Sprache dient zum Austausch von Informationen oder zur Interaktion mit unserer Umwelt und pragt daher unseren Alltag und unser Denken ungemein. Daher ist sie auch ein bedeutsamer Bestandteil unserer sozialen und kulturellen Identitat.

Die folgenden Einsichten in Theorien zur Erklarung des Spracherwerbs sind fur die Uberprufung der Forschungsthese entscheidend, da der Einsatz der Muttersprache im Fremdsprachenunterricht stark mit den Spracherwerbstheorien verknupft ist und die Vermittlung einer Fremdsprache auf solchen Theorien uber Spracherwerbsprozesse aufbaut. Beispielsweise wird die Muttersprache unbewusst erworben, wobei jedoch die Fremdsprache im schulischen Kontext vom Lernenden aktiv erlernt wird. Dieser gravierende Unterschied des Spracherwerbs zwischen Mutter- und Fremdsprache macht deutlich, wieso sie im Rahmen dieser Arbeit berucksichtigt werden. Hierbei sei jedoch angemerkt, dass heute nicht mehr zwischen „gesteuert“ (unnaturlich) und „ungesteuert“ (naturlich) unterschieden wird, da beide Formen haufig als „Mischformen“ auftreten. Dementsprechend wird heute ebenso wenig zwischen „Erwerben“ und „Lernen“ distinguiert (vgl. Konigs 2016, S. 283). Diese unklare Unterscheidung zwischen Erwerb und Lernen hat ihren Ursprung darin, dass selbst im naturlichen Kontext gewisse Steuerungsmechanismen wie (mundliche) Korrekturen oder Verweise auf sprachliche Regeln existieren. Dies geschieht durch unsere Kommunikationspartner und ohne jeglichen Unterricht. Gleichzeitig konnte auch festgestellt werden, dass selbst der instruierte fremdsprachliche Unterricht sich an authentischen Spracherwerbsprozessen orientiert wie z.B. bei Rollenspielen oder spontanen und ungesteuerten Diskussionen. Demnach sind die Ubergange zwischen naturlichem und gesteuertem Lernen fliefiend und nicht klar zu trennen (vgl. Teymoortash 2010, S. 26f.). Im Zusammenhang mit dem Fremdsprachenunterricht konnen sich moglicherweise didaktische Ruckschlusse ziehen lassen, inwiefem die Muttersprache mit der Fremdsprache im Fremdsprachenunterricht korreliert.

3.1. Der Erstspracherwerb

Der Erstspracherwerb erfolgt bereits in den ersten Lebensjahren eines Menschen und ist demnach der erste Spracherwerbsprozess, dem der Mensch ausgesetzt ist. Die Geschwindigkeit des Erlernens der Muttersprache ist dabei beachtlich: Zwischen dem zehnten und fun Tzchnlcn Monat sprechen Kinder ihr erstes Wort, mit zwei Jahren sind sie bereits mit ca. 50 Wortern vertraut und im Alter von acht Jahren setzt sich ihr Wortschatz aus ungefahr 18.000 Wortern zusammen (Thompson 1994, S. 445, zitiert nach Teymoortash 2010, S. 20). Innerhalb der ersten sechs Lebensjahre lernen Kinder, Worter in ihrer Muttersprache zu deklinieren (die Morphologie) und Satze zu konstruieren (die Syntax). Dajedoch innerhalb der Spracherwerbsforschung kein Konsens daruber herrscht, inwiefern der Mutterspracherwerb von kognitiven oder sozialen Fahigkeiten gepragt ist, wurden unterschiedliche Theorien aufgestellt, die sich jeweils an den kognitiven Fahigkeiten und an der sozialen Entwicklung des Kindes orientieren. In der einschlagigen Spracherwerbsliteratur existieren zwei entgegengesetzte Annahmen: zum einen kognitivistische Annahmen und zum anderen der Nativismus. Diese Vorstellungen unterscheiden sich hauptsachlich darin, dass eine Position die Fahigkeiten sich eine Sprache anzueignen, als angeboren ansieht (Noam Chomsky), und die entgegengesetzte Richtung nimmt an, dass Sprache aus der Interaktion mit der Umwelt erworben wird (Piaget 1975).

3.1.1. Die drei Stufen des Sprechens nach Wygotsky und die Entwicklung des „mentalen Lexikons“

Lew Wygotski (1896-1934) gehort zu den Begrundern der fruhen Entwicklungspsychologie. Er versuchte, den Erstspracherwerb mithilfe von psychologischen Erkenntnissen zu begrunden. Nach Wygotsky durchlaufen Kinder wahrend ihres Spracherwerbs drei Phasen (vgl. Wygotsky 1962, S. 50f; Lefrancois 2006, S. 226). Die erste Stufe ist die des ,,sozialen Sprechens“. Diese dient bis zum dritten Lebensjahr zunachst der Kontrolle des sozialen Verhaltens und dem Ausdruck der allgemeinen Gefuhlslage und der Gedanken des Kindes. Danach erreicht das Kind die Phase des „egozentrischen Sprechens“, mit dem das eigene Verhalten kontrolliert und beobachtet wird. Diese Phase findet zwischen dem dritten und siebten Lebensjahr statt. Der Ubergang zur Phase des egozentrischen Sprechens markiert gleichzeitig den Wechsel vom sozialen aufieren zum inneren Sprechen. Das innere Sprechen ermoglicht nun Kindern zu denken und ihr eigenes Verhalten in einem gewissen Rahmen zu reflektieren (vgl. Wygotsky 2002, S. 80ff.).

Kinder lernen demnach eine Sprache nicht durch das Lernen von grammatikalischen Regeln, syntaktischen Strukturen oder Vokabeln, sondern durch Imitation und den sozialen Austausch mit ihrer Umwelt. Sie dringen dabei in die tiefe Struktur einer Sprache ein, um sich die semantische Bedeutung des sprachlichen Inputs erschliefien zu konnen und um somit eine Sprache verstehen zu lernen (vgl. Krashen 1989). Dieses tiefe Eindringen in die Struktur einer Sprache sei fur den Spracherwerbsprozess einer Fremdsprache aufierst bedeutsam. Der Mensch wahle namlich gezielt Informationen aus seiner Umwelt aus, die fur ihn relevant sind, und organisiere und distribuiere diese in gewisse Systeme. Diese Entwicklung der grammatikalischen Systeme des Menschen wird als ,,mentales Lexikon“ bezeichnet. Es entwickelt sich mit der Zeit und der zunehmenden Auseinandersetzung mit der Fremdsprache stets weiter und nimmt dadurch bestandig an Komplexitat zu (vgl. Peltzer-Karpf & Zangl 1998, S. 8ff.).

3.1.2. Der kognitivistische Ansatz (Piaget)

Der bedeutende Entwicklungspsychologe Jean Piaget (1896-1980) verknupfte ebenfalls die sprachliche Entwicklung eines Kindes mit kognitiven und psychologischen Faktoren. Er sieht den Spracherwerb eines Kindes nicht als angeboren, sondern als Teil seiner kognitiven Entwicklung. Das Kind richte sich nach den gelernten Normen, hinterfrage jedoch sein erworbenes Wissen kritisch und erweitere somit seinen Erwerbsprozess (vgl. Piaget 1975). Im Gegensatz zu Wygotski vertritt Piaget die Annahme, dass primar entwicklungspsychologische Faktoren den Spracherwerbsprozess determinieren und weniger das soziale Milieu des Kindes.

3.1.3. Nativismus (Noam Chomsky)

Noam Chomsky vertritt hingegen die These, dass ein angeborener Spracherwerbsmechanismus die Basis fur den Spracherwerb bilde. Er geht davon aus, dass der Spracherwerb auf einem angeborenen System sprachlicher Universalien beruht, welches vom Menschen selbst im Spracherwerb konstruiert bzw. entfaltet wird. In anderen Worten bedeutet dies, dass ein Kind die Grammatik einer Sprache nicht durch Imitation erlernt (nicht Satz fur Satz), sondern mithilfe von selbst konstruierten Regeln und Regelmahigkeiten (vgl. Teymoortash 2010, S. 23f.). Zusammenfassend kann daher festgehalten werden, dass der Erstspracherwerb insgesamt sowohl von sozialen als auch von biologischen und kognitiven Faktoren beeinflusst wird.

3.2. Der Zweitspracherwerb

Jeder Mensch wird von Geburt an mit mindestens seiner Muttersprache konfrontiert und erlernt zunachst diese in seinem Elternhaus. Anders verhalt es sich jedoch mit den Fremdsprachen; diese werden durch den Kontakt mit Sprechern der jeweiligen Fremdsprache (naturlich) oder im Unterricht (unnaturlich/instruiert) erlernt. Die Motivation fur das Erlernen einer Zweitsprache kann ebenfalls stark variieren: Sie kann aus intrinsischen oder extrinsischen Motiven erlernt oder als zweite Muttersprache von den Eltern beigebracht werden. Dementsprechend ist der Erwerb der Zweitsprache von vielen sozialen und kulturellen Faktoren wie z.B. dem Lernalter, der Bildung, der Motivation sowie von den Vorkenntnissen in der Muttersprache.

Der Zweitspracherwerb wird unter anderem als eine Spracherwerbsart definiert, welche auf den Erwerb der Erstsprache erfolgt, jedoch vollig unabhangig davon, ob die Erstsprache bereits vollkommen erworben wurde oder nicht (vgl. Ellis 1986). Beispielsweise handelt es sich bei Immigranten in der Regel um einen Zweitspracherwerb, da sie unmittelbar der Sprache ihres Gastlandes ausgesetzt werden und diese nach und nach, haufig ohne jeglichen Sprachunterricht, auf naturliche Art und Weise erwerben. Des Weiteren gehen die Meinungen bezuglich der Funktionalitat der Erwerbsprozesse weit auseinander. Konsens besteht lediglich daruber, dass zwischen dem Erst- und Zweitspracherwerbsprozess eine enge Verknupfung herrscht und sich diese Prozesse reziprok beeinflussen. Unklar ist jedoch, wo die Unterschiede im Einzelnen liegen und welche Gesetzmafiigkeiten beide Prozesse umfassen (vgl. Merten 1997, S. 67).

3.3. Unterschiede zwischen dem Muttersprach- und dem Zweitspracherwerb im Fremdsprachenunterricht

Um die Rolle der Muttersprache im Fremdsprachenunterricht weitgehend bestimmen zu konnen, muss zunachst geklart werden, in welchem Umfang sich beide Spracherwerbsformen gegenseitig beeinflussen. Daher ist es wichtig, zwischen dem Muttersprach- und dem instruierten Fremdspracherwerb im Unterricht zu differenzieren, da beide in vielen Aspekten gravierende Unterschiede aufweisen und daher nicht eins-zu-eins verglichen werden konnen. Diese Gegenuberstellung der Unterschiede ermoglicht es, didaktische Ruckschlusse zu ziehen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Beim instruierten Fremdsprachenerwerb innerhalb des Fremdsprachenunterrichts ist der fremdsprachliche Einfluss stets auf eine bestimmte Zeit (z.B. eine Unterrichtsstunde) begrenzt. Beim Mutterspracherwerb gibt es keine zeitliche Begrenzung der Sprachverwendung, da sie fester Bestandteil des Alltags und der kulturellen und sozialen Identitat ist. Um diese Situation im Unterricht nachbilden zu konnen, verfolgen Lehrwerke und Lehrplane die Idee, ,,Einsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht simulieren zu konnen, indem sie dem Einsatz der Muttersprache im Fremdsprachenunterricht keinen Platz einraumen. Es ist allgemein bekannt, dass eine Fremdsprache lediglich erlernt werden kann, wenn der Lerner mit dieser konfrontiert wird und sie aktiv gebraucht. Daher wird in den Lehrplanen die Muttersprache im Fremdsprachenunterricht verbannt, um einen Ubergebrauch der Muttersprache zu vermeiden. Weiterhin wird im fremdsprachlichen Unterricht eine Gruppe von Schulern von lediglich einer Lehrperson unterrichtet. Die Muttersprache findet jedoch in der direkten Interaktion statt und gewinnt dadurch automatisch an Intensitat. Ferner ist der Erwerb der Muttersprache etwas Besonderes, da sie unbewusst mit vielen Erinnerungen verknupft ist. Diese Authentizitat ist im Fremdsprachenunterricht leider nicht direkt vorhanden, da Schuler mehr oder weniger im Unterricht dazu „gezwungen“ werden, eine Fremdsprache zu erlernen, welche in ihrem alltaglichen Leben keine bzw. eine geringe Rolle spielt. Die Muttersprache wird namlich gelebt und die Fremdsprache lediglich von einer Lehrperson gelehrt. Der Erwerb der Muttersprache basiert demnach auch auf unserem Kommunikationsbedurfnis und auf der Befriedigung unserer personlichen Bedurfnisse, da sie die erste Sprache zum Austausch mit unseren Mitmenschen ist (vgl. Butzkamm 2012, S. 114). Dementsprechend erscheint es sinnvoll, den Fremdsprachenunterricht so authentisch wie moglich zu gestalten, damit das Fremdsprachenlernen mit Interesse und Motivation verknupft wird. Dennoch kann derselbe Grad an Naturlichkeit, wie er beim Mutterspracherwerb vorhanden ist, im Fremdsprachenunterricht nicht in dem selben Mafie hergestellt werden, auch wenn teilweise Mischformen an Naturlichkeit und Unnaturlichkeit existieren. Ein gewisses Mafi an Authentizitat konnte jedoch im fremdsprachlichen Unterricht durch den Einsatz der Muttersprache erreicht werden, da diese Sprache zur Realitat der Schuler gehort und sie fester Bestandteil seines Lebens und seiner sozialen Identitat ist (vgl. Kapitel 3.1. „Der Erstspracherwerb“). Schliefilich unterscheiden sich beide Prozesse im Weiteren darin, dass beim Erwerb der Muttersprache keine vorherigen sprachlichen Kompetenzen vorhanden sind, da es die erste erworbene Sprache ist. Beim Fremdspracherwerb bildet jedoch die Muttersprache automatisch die Referenz (die Basis) fur das Erlemen weiterer Sprachen (vgl. Butzkamm/Caldwell 2009, S. 24).

Eine gewisse Ahnlichkeit zwischen beiden Erwerbsprozessen existiert dennoch: Die Komplexitat der Lern- und Unterrichtsinhalte des Fremdsprachenunterrichts erweitern sich namlich von Zeit zu Zeit genauso wie es beim Mutterspracherwerb der Fall ist. Zunachst werden im Unterricht die Grundlagen und das Basisvokabular unterrichtet, und mit der Zeit erhoht sich der Lernumfang. Die sprachlichen Fahigkeiten eines Kindes sind zu Beginn seiner Entwicklung ebenfalls stark eingeschrankt, erweitern und vergrofiern sich jedoch mit der Zeit zunehmend. Trotz alledem verlaufen beide Spracherwerbsprozesse sehr unterschiedlich und konnen demnach nicht gleichgesetzt bzw. als ahnlich angesehen werden (vgl. Butzkamm/Caldwell 2009, S. 30). Die Grunde fur das Vermeiden der Muttersprache im Fremdsprachenunterricht im Rahmen der schulischen Lehrplane liegen somit teilweise in den Annahmen uber Spracherwerbsprozesse und sind in ihren Einflussen begrundet, da beispielsweise der Fremdsprachengebrauch zeitlich limitiert ist.

3.4. Der bilinguale Spracherwerb

Bereits im fruhkindlichen Alter von zwei Jahren ist ein Kind, welches eine bilinguale (zweisprachige) Erziehung genoss, in der Lage, Ideen, Gedanken oder die eigenen Wunsche und Gefuhle in zwei Sprachen auszudrucken. Insbesondere in unserer heutigen multilingualen Gesellschaft ist der Kontakt zu anderen Sprachen nahezu unausweichlich. Dies kann dazu fuhren, dass gerade Kinder, die in einer bilingualen Familie aufwachsen und somit tagtaglich mit zwei oder mehreren Sprachen in Kontakt stehen, diese somit automatisch erwerben. Dieses Phanomen wird als ,,simultaner bilingualer Spracherwerb“ (vgl. Kapitel 2. ,,Definition der Begriffe Erstsprache, Muttersprache, Zweitsprache, Fremdsprache, Bilingualismus und Mehrsprachigkeit“) eines Kindes beschrieben. Dieser bilinguale Spracherwerb erfolgt dabei simultan. Hierbei ist zu erwahnen, dass Lenneberg (1967, S. 158) eine altersbezogene ,,kritische Phase“ (Teymoortash 2010, S. 34) konstatierte, in der bestimmte Bereiche der Sprache nur noch eingeschrankt erworben werden konnen. Diese Periode wurde wahrend der Geschlechtsreife auftreten, da zu diesem Zeitpunkt das Gehim zunehmend an Flexibility verliere. Dies habe letztendlich zur Folge, dassjede weitere Sprache - nach diesem Zeitpunkt - nicht mehr auf einem muttersprachlichen Niveau erworben werden konne.

Im Folgenden soll dargelegt werden, ob der bilinguale Spracherwerb Aufschluss daruber geben kann, inwiefern ein Kind in der Lage ist, zwei Sprachsysteme zu differenzieren und inwiefern dies zu nachteiligen Interferenzen bzw. zu sprachlichen Verwirrungen fuhren kann. Diese Fahigkeit zur Differenzierung von zwei Sprachen kann im schulischen Kontext relevante Einsichten dahingehend liefern, ob die Verwendung der Muttersprache den Fremdsprachenerwerb tatsachlich begunstigt oder ob sie ihn aufgrund zwischensprachlicher Einflusse eher behindert.

3.4.1. Differenzierung beider Sprachsysteme

Lange Zeit dominierte in der Sprachwissenschaft die Frage, ob bei Kindern der bilinguale Spracherwerb zu Beginn auf einem undifferenzierten sprachlichen (grammatikalischen) System basiert, wie Volterra und Taeschner (1978) vermuten. Empirische Befunde liefertenjedoch neue Einsichten im Hinblick auf diese Frage, die belegen, dass Kinder bereits fruhzeitig fahig sind, zwei oder mehrere sprachliche Systeme zu unterscheiden (vgl. De Houwer 1990). Da nun die Frage der sprachlichen Differenzierungsfahigkeit eines Kindes als geklart gelten kann, erscheint es bedeutsam zu klaren, wann diese Differenzierung bei der Wahrnehmung und dem Sprechen auftritt. Experimente zeigen, dass vier bis funf Monate alte bilinguale Kinder bereits in der Lage sind, zwei vom Sprachrhythmus ahnlich klingende Sprachen wie z.B. die katalanische Sprache vom Spanischen zu unterscheiden (vgl. Bosch & Sebastian-Galles 2001). Bei der sprachlichen Produktion konnte festgestellt werden, dass die Kinder bereits in der ,,Babbel- Phase“ zwischen beiden Sprachen unterscheiden konnen, d. h. bevor sie uberhaupt vollstandige und korrekte Worter produzieren konnen (vgl. Poulin-Dubois/Goodz 2001). Ein weiterer Befund fur die Differenzierung beider Sprachen bei bilingualen Kindern konnte anhand der Morphosyntax und der Syntax festgestellt werden. Bilinguale Kinder machen injeder Sprache Gebrauch von denjeweiligen spezifischen syntaktischen Kategorien einer Sprache. Diese grammatikalischen Operationen finden bereits im fruhkindlichen Alter statt und zeigen die Differenzierung der einzelnen Sprachen (vgl. Meisel 2001). Relevante Ergebnisse aus der Forschung der bilingualen Spracherwerbsforschung stutzen die Theorie, dass beide Sprachen sich gegenseitig erganzen. Saunders (1988) hat Studien mit zweisprachig aufwachsenden Kindern durchgefuhrt und ihre Ergebnisse verdeutlichen, dass besonders beim bilingualen Erstspracherwerb beide Sprachen sich reziprok erganzen und sich viel weniger im Wege stehen, als man annahm. Kinder ,,greifen ausgiebiger auf ihre Fahigkeiten in der Erstsprache zuruck, um die Kommunikation aufrecht zu erhalten.“ (Jeuk 2003, S. 19)

Basierend auf neueren Studien mit mehrsprachigen Kindern und dem Hong Kong Bilingual Child Language Corpus (vgl. Lam 2004), welcher Aufzeichnungen zu mehrsprachig aufwachsenden Kleinkindern enthalt, liefern die Sprachwissenschaftler Virginia Yip und Stephen Matthews (2007) ebenfalls interessante Einsichten uber die Entwicklung des fruhkindlichen Bilingualismus. Obwohl Kinder bereits im Alter von anderthalb bis zwei Jahren in der Lage sind, beide Sprachen differenziert anzuwenden, konnten beide Wissenschaftler einen syntaktischen Transfer und eine Interaktion der Sprachen zwischen beiden Sprachsystemen beobachten. Solche Interferenzen sind ein Hinweis auf die Entwicklung des mentalen Lexikons eines Kindes, indem sie anzeigen, welche syntaktischen Strukturen ein Kind in einer der beiden Sprachen bereits erkannt hat und beherrscht. Diese Tatsache verdeutlicht, dass trotz bewusster Differenzierung zweier Sprachsysteme die jeweiligen Muttersprachen syntaktische Transfers zwischen beiden Sprachen hervorrufen konnen. Es ist jedoch fragwurdig, Interferenzen im Fremdsprachenunterricht stets als nachteilig zu betrachten, da sie fur den Lehrer sichtbar machen konnen, welche fremdsprachlichen Lucken beim Lerner noch vorhanden sind. Dies ermoglicht es, im Unterricht genau an diese Lucken anzuknupfen und die fehlenden Kenntnisse des Schulers zu vervollstandigen. Gleichzeitig konnen solche zwischensprachlichen Transfers auch den Erwerbsprozess begunstigen, da einige linguistische Strukturen auch korrekt auf die Zielsprache ubertragen werden konnen. Daher sollten Interferenzen stets auch hinsichtlich ihrer Fahigkeit zu Fehlertransparenz betrachtet werden. Aufierdem sind Interferenzen bzw. zwischensprachliche Einflusse stets von der phonetischen, syntaktischen und lexikalischen Ahnlichkeit beider Sprachen abhangig. Beispielsweise unterscheidet sich der phonetische Bereich des Deutschen stark von dem des Englischen, daher sollten in diesem Bereich eher weniger Interferenzen zu erwarten sein.

Die behandelten Theorien zu den Spracherwerbsprozessen verdeutlichen, dass sie jeweils sehr perspektivabhangig sind und, dass es sich bei der Spracherwerbsforschung um einen komplexen Forschungsbereich handelt, welcher mehrere Disziplinen einbezieht (vgl. Teymoortash 2010, S. 25f.). Ferner wurde darauf hingewiesen, dass syntaktische Transfers ein wichtiger Bestandteil des Fremdsprachenerwerbsprozesses sind und deshalb nicht stets als nachteilig angesehen werden sollten. Sie ermoglichen dem Lerner, syntaktische Strukturen schnell zu erschliefien bzw. Ahnlichkeiten in der grammatischen Struktur von zwei Sprachen besser zu verstehen. Zusammenfassend sei ebenfalls zu erwahnen, dass der Erwerb einer Sprache keine rein soziale, entwicklungspsychologische oder sprachliche Erscheinung ist, sondern in seiner Ganzheit betrachtet werden sollte, welche alle Teildisziplinen miteinander verknupft.

4. Der Fremdsprachenunterricht und seine (traditionellen) Vermittlungsmethoden

Nach der Darstellung und Erklarung der verschiedenen Spracherwerbsarten und Spracherwerbstheorien ist die Thematisierung des Fremdsprachenunterrichts zusammen mit seinen unterschiedlichen Vermittlungsmethoden far das Thema der vorliegenden Arbeit relevant. Dieses Kapitel gibt Aufschluss daruber, wie der heutige Fremdsprachenunterricht von traditionellen Vermittlungsmethoden gepragt ist und welche Merkmale beim Erlernen einer Fremdsprache als signifikant angesehen wurden. Da das Thema dieser Arbeit die Effizienz der Muttersprache im Fremdsprachenunterricht ist, wird bei der Darstellung der Methoden Bezug zur Rolle der Muttersprache genommen.

4.1. Die Grammatik-Ubersetzungsmethode

Die Grammatik-Ubersetzungsmethode wird haufig im heutigen Lateinunterricht angewendet, da hier der Unterricht von progressivem Regellernen und Textubersetzungen determiniert ist (vgl. Edmonson/House 2000, S. 115f.). Sie war in der Vergangenheit eine der wichtigsten und bekanntesten Unterrichtsmethoden und dominierte daher im 19. Jahrhundert im fremdsprachlichen Unterricht nicht nur in den klassischen Sprachen, sondern auch im Franzosischen und im Englischen das Unterrichtsgeschehen. Die hauptsachlichen Ziele dieser Methode bestanden in der Vermittlung des Verstandnisses von grammatikalischen Regeln und in ihrer Anwendung vor allem bei Ubersetzungen. Bei der Erklarung der grammatikalischen Regeln spielte jedoch die Muttersprache eine wichtige Rolle, da eine verstandliche Erklarung grammatikalischer Strukturen nur durch die Muttersprache als moglich angesehen wurde. Beispielsweise wurden fur die Erlauterung von Grammatikregeln muttersprachliche Beispielsatze verwendet. Nachdem die grammatikalischen Regeln mithilfe der Muttersprache verstanden wurden, folgten Ubersetzungsaufgaben in die Fremdsprache und Ruckubersetzungen in die Muttersprache. Indem die Schuler in der Lage waren, Texte in die Fremdsprache zu ubersetzen, demonstrierten sie ihre allgemeine Sprachkompetenz (Neuner/Hunfeld 1993, S. 24ff.).

[...]


1 Gemeint sind stets beide Geschlechter. Aus Grunden der Lesbarkeit wird auf die Nennung beider Formen verzichtet.

Ende der Leseprobe aus 68 Seiten

Details

Titel
Die Rolle der Muttersprache "Deutsch" im Fremdsprachenunterricht. Ein Störfaktor oder eine Lernhilfe?
Hochschule
Philipps-Universität Marburg
Note
1,0
Autor
Jahr
2018
Seiten
68
Katalognummer
V431202
ISBN (eBook)
9783668745797
ISBN (Buch)
9783668745803
Dateigröße
666 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schulpädagogik, Muttersprache, Fremdsprachenunterricht, Einsprachigkeit, Butzkamm
Arbeit zitieren
Maikel Bonfiglio (Autor:in), 2018, Die Rolle der Muttersprache "Deutsch" im Fremdsprachenunterricht. Ein Störfaktor oder eine Lernhilfe?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/431202

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