Sozialdiagnose als Domäne der Sozialen Arbeit


Bachelorarbeit, 2017

44 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Zur Etymologie von Sozialdiagnose
2.1 Von der Medizin zur sozialen Fürsorge in Anlehnnung an Alice Salomon
2.2 Sozialdiagnose heute

3 Erkenntnistheoretische und ontologische Grundlage von Sozialdiagnose
3.1 Systemtheoretisches Paradigma und Sozialdiagnose
3.2 Wissensebenen des systemtheoretischen Paradigmas als Grundlage von Sozialdiagnose

4 Konzeptionierung einer Sozialdiagnose als systemtheoretische Handlungstheorie
4.1 Merkmale einer Sozialdiagnose als systemtheoretische Handlungstheorie
4.2 Praxisbezogene Weichenstellung einer Sozialdiagnose

5 Sozialdiagnose als Konkretisierungselement der Gegenstandsbereiche Sozialer Arbeit
5.1 Die Definition der IFSW und Theorien der Sozialen Arbeit als Annäherung bei der Frage nach den Gegenstandsbereichen
5.2 Inhaltliche Konkretisierung und „soziale Probleme“ als exemplarischer Gegenstandsbereich
5.2.1 Professionelle in der Sozialen Arbeit als DiagnostikerInnen von sozialen Problemlagen
5.2.2 Sozialdiagnostische Schritte zur Eingrenzung des Gegenstandes .
5.3 Zusammenfassung

6 Offene Fragen, Perspektiven und Resümee
6.1 Offene Fragestellungen
6.2 Perspektiven
6.3 Resümee

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

„Diagnostizieren tun wir alle, nur nennen wir es anders“ (Staub-Bernasconi 2003, S. 33).

Mit diesen Worten betitelte Silvia Staub-Bernasconi ihren Beitrag in einer renommierten Fachzeitschrift in Bezug auf den Diskurs um Diagnosen in der Sozialen Arbeit. Welche Bedeutung sich hinter diesem Zitat verbirgt, ist interessant, um das Diagnostizieren der Professionellen in der Sozialen Arbeit von Laiendiagnosen oder dem Diagnoseverständnis anderer Professionen zu unterscheiden. Der Bogen um den Einzug von Diagnosen in der Sozialen Arbeit spannt sich seit seiner Entstehung beschwerlich und wird teilweise bis heute gänzlich abgelehnt und/ oder durch andere Begrifflichkeiten aufgrund negativer Konnotationen sowie eher medizinisch oder technischer Assoziationen ersetzt. Diese Problematik macht die besondere Relevanz und den Forschungsanlass dieser Arbeit deutlich. In Anlehnung an Alice Salomon und Mary Richmond, verwende ich bewusst den Begriff „Sozialdiagnose“. Damit spreche ich den Beiträgen von anderen Konzeptualisierungen wie beispielsweise dem diagnostischen Fallverstehen, der sozialpädagogischen Diagnostik oder der Sozialen Diagnostik ihre Eignung und Bedeutsamkeit nicht ab. Ganz im Gegenteil, werde ich mich, sofern möglich mit verschiedenen Elementen dieser Ansätze kritisch auseinandersetzen und mit in meinen Überlegungen aufgreifen. Da eine ausführlichere Bezugnahme sowie Vergleiche zu anderen Ansätzen den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden, beabsichtige ich mit den ausgewählten Aspekten die Relationen und Notwendigkeit zur Forschungsfrage verdeutlichen zu können. Ebenfalls in gedanklicher Orientierung an bedeutende TheoretikerInnen verwende ich den Begriff „Domäne“ und kennzeichne damit in den folgenden Ausführungen die eigene professionelle Identität und Fachlichkeit sowie jene Themen, die der Handlungskompetenz Sozialer Arbeit bedürfen.

Grafiken ohne den Verweis auf eine Bezugsquelle, sind von mir erstellt worden, um den LeserInnen eine Visualisierung der beschriebenen Thematik zu unterbreiten. Es wird bis auf eine Ausnahme zur beispielhaften Illustrierung nicht auf genaue Verfahren und Techniken einer Sozialdiagnose eingegangen, die aber weder trivial noch nebensächlich zur Professions- und Identitätskonstituierung der Sozialen Arbeit sind. Zu diesen lassen sich allerdings bereits einige Publikationen finden.

Die vorliegende Arbeit zielt darauf ab, einen theoretischen Beitrag für die Fortentwicklung der Sozialen Arbeit zu leisten sowie die Nutzbarmachung und Signifikanz von Sozialdiagnosen in der Sozialen Arbeit aufzuzeigen. Ein weiteres Anliegen dieser Ausarbeitung ist es, zu untersuchen wie Sozialdiagnose verstanden und theoretisch begründet werden kann, um einer Domäne der Sozialen Arbeit zu entsprechen.

Die zugrundeliegende Forschungsfrage der Arbeit lautet: Inwieweit kann Sozialdiagnose als systemtheoretische Handlungstheorie zur Konkretisierung der Gegenstandsbereiche Sozialer Arbeit verstanden werden?

Entsprechend der Fragestellung wird der Aufbau dieser wissenschaftlichen Arbeit wie folgt sein: Im ersten Teil wird zunächst beschrieben, wie der Begriff (Sozial-)Diagnose seine (historische) Verortung in der Sozialen Arbeit gefunden hat und der aktuelle Stand des Fachdiskurses kurz erläutert. Anschließend wird die erkenntnistheoretische und ontologische Zugangsgrundlage von Sozialdiagnose unter dem systemtheoretischen Paradigma beleuchtet. In einem nächsten Schritt wird ausgehend von dieser Fundierung die Konzeptionierung einer Sozialdiagnose als systemtheoretische Handlungstheorie skizziert und der Zusammenhang zwischen den Gegenstandsbereichen und einer Sozialdiagnose ergründet. Der nachfolgende Punkt nimmt sich der tiefergehenden Frage nach den Gegenstandsbereichen Sozialer Arbeit an und will herausstellen, wo und wie eine Sozialdiagnose zur dessen Eingrenzung beiträgt. Dazu werden „soziale Probleme“1 als exemplarischer Gegenstandsbereich gewählt, um zu bestimmen, inwiefern diese anhand von Sozialdiagnose konkretisiert werden können. In einem nächsten Punkt werden offene Fragestellungen, die sich im Rahmen dieser Arbeit entwickelt haben, formuliert sowie ein Ausblicküber die Perspektiven von Sozialdiagnose aufgezeigt. Abschließend wird im Resümee auf die prägnantesten Erkenntnisse, welche die Beantwortung der Forschungsfrage fokussieren, Bezug genommen.

Vorab sei auch noch erwähnt, dass die folgenden Ausführungen zum Teil auf einer Metaebene oder theoretisch-abstrakten Ebene verfasst sind und nicht den Anspruch erheben die Kernthemen vollständig abarbeiten zu können.

2 Zur Etymologie von Sozialdiagnose

Der Begriff Etymologie kann als das Wissen um die Herkunftsgeschichte und sinnhafte Bedeutung eines Wortes verstanden werden (vgl. Duden o.J.). Somit gilt es kurz auf die Ergründung der Herkunftsabstammung von Sozialdiagnose und dem naheliegenden Diagnostikbegriff vorab einzugehen sowie dessen Ursprung in die Profession und Disziplin der Sozialen Arbeit aufzuzeigen. Dies legt einen bescheidenen Verständnisbaustein für die folgende theoretische Einbettung dieser Arbeit. Laut Duden kann der aus dem altgriechisch stammende Begriff „Diagnose“ zunächst als „Erkenntnis“ oder zu „unterschiedene Beurteilung“ (Staub-Bernasconi 2005, S. 530) von Zuständen oder der Art und Weise wie eine Person beschaffen ist, kenntlich gemacht werden. Der Prozess des Diagnostizierens umfasst dabei Unterscheidungen, deskribierende Kategorisierungen, Beobachtungen und Analysevorgänge zur Beschaffenheit von Personen. Beim Eruieren des Diagnostikbegriffs wird schnell deutlich, dass dessen Ursprung primär in der Medizin verankert ist und mit Krankheit beziehungsweise dem Erkennen von Krankheiten in Verbindung steht. Wurde also bei der Entstehung von Sozialdiagnose durch die Adaption des Wortes „Sozial“ versucht medizinisches Gedankengut in die Soziale Arbeit zuübernehmen und obendrein als eigenes Produkt zu deklarieren?

Dies lässt sich mit der ursprünglichen Wortbedeutung von (Sozial-)Diagnose und den maßgeblichen Ausprägungen von Mary Richmond in Amerika (1917) und Alice Salomon in Deutschland (1926) verneinen (vgl. Heiner 2001, S. 251; vgl. Staub- Bernasconi 2005, S. 530). Die Entstehungsgeschichte ist dabei eng verzahnt mit der Herausbildung der Tätigkeiten von SozialarbeiterInnen und den Anfängen der professionellen Sozialen Arbeit. Der Terminus Soziale Diagnose entstand zugleich mit der Übernahme des Buchtitels Social Diagnosis von Mary Richmond (vgl. Müller u.a. 2007, S.9; vgl. Brown u.a. 2011, S. 940).

2.1 Von der Medizin zur sozialen Fürsorge in Anlehnung an Alice Salomon

Soziale Arbeit entwickelte sich zur Zeit Salomons weg von dem Verständnis einer Sozialarbeit für ein kontrolliertes Armenwesen hin zu einer Hilfeleistung, welche die individuellen Unterstützungsbedarfe als Auftrag fokussierten (vgl. Salomon 1926, S.1f.). Mit dem Begriff Soziale Diagnose zeigt Alice Salomon einen unvollständigen, aber ersten bedeutenden Ansatz zur Spezifik und Professionalisierung im fachlichen Handeln der Sozialen Arbeit und differenziert diese Form der Diagnose bewusst von dem der Medizin und Naturwissenschaften ab. Mit der Veröffentlichung einiger Werke legte Salomon die Meilensteine der Sozialen Diagnose im deutschsprachigen Raum und generierte zahlreiche Impulse für Konzepte, Theorien und Methoden, die wir heute in der Sozialen Arbeit mit bekannten Begriffen wie „Lebensweltorientierung“ oder „Empowerment“ (Kuhlmann 2000, S. 299 zit. n. Galuske 1998) wiederfinden. Nach Salomons Auffassung ist die Soziale Diagnose als Basis für die individuelle Hilfe von AdressatInnen anzusehen, die versucht eine Problematik sozialen Ursprungs möglichst detailliert zu ermitteln, wobei das Gesamtbild nicht durch die schlichte Aneinanderreihung von Informationenüber das Leben des Menschen entsteht. Vielmehr müsse die Bedeutung der Inhalte in jedem Fall durch eine umfangreiche Denkleistung und Annäherung an die Lebenswelten der AdressatInnen erfolgen (vgl. Salomon S.6ff.). Die explizite Prüfung oder Untersuchung sei dabei nicht vorrangig, hingegen die Umsetzungsmöglichkeiten des fachlichen Handelns. Eine Anhäufung von Wissen muss in diesem Verständnis nicht zwangsweise zu einem fachlich besseren Handeln führen (vgl. Kuhlmann 2004, S. 14 f.). Darüber hinaus gehe es darum zu unterscheiden, inwiefern eine externe Hilfestellung erforderlich sei oder personenbezogene Hilfestellungen als wünschenswert erachtet werden. Demnach seien beispielsweise vor allem aktive Einmischungen in die Sozialpolitik dann notwendig, sobald ein Zusammenhang im Sozialen Diagnoseprozess zu sozialen Problematiken, welche die gesellschaftlich- politische Ebene tangieren, diagnostizieren werden kann. Ferner sei die Soziale Arbeit in der Durchführung von Sozialdiagnosen in Abgrenzung zu anderen Professionen durch keinen „besonderen Gesichtswinkel“ (Salomon 1926, S. 6) gekennzeichnet, da diese sich auf eine ganzheitliche Perspektive des Menschen, mitsamt seinen Bezügen zur Umwelt einstelle. Daher sei Soziale Arbeit in der Verantwortung diese Sichtweise den anderen beteiligten Professionen nahezulegen, da diese aufgrund ihrer Ausbildung oftmals dazu geleitet werden, das Sichtfeld verengt oder spartenbezogen wahrzunehmen. Das bedeute abstrakter komplementiert, dass Soziale Arbeit die Wissensbestände aus anderen Wissenschaften im eigenen fachlichen Handeln nicht außer Acht lassen darf - bei der Durchführung der Sozialen Diagnose müsse sie stets alle Perspektiven im komplexen Fallverstehen der AdressatInnen durch die Verkopplung von (unter anderem) sachlichen, persönlichen und menschlichen Lebenslagen einbeziehen. Dabei seien die Deutungen und Bewertungen der gesammelten Informationen determinierende Faktoren in der Frage nach der Verwendungsqualität (vgl. Kuhlmann 2000, S. 298ff.; vgl. Riesenhuber u.a. 2009, S. 13). Letztlich lässt sich aus der Etymologie von Sozialdiagnose herausstellen, dass die Anregungen von Alice Salomon im Praxisverhältnis wenig Aufsehen und Berücksichtigung erfahren haben. Erst Anfang der 1970er Jahre erfolgte eine Herausbildung der psychosozialen Diagnoseform als auch der intensiveren Auseinandersetzung mit Diagnosen in der Sozialen Arbeit (vgl. Wendt 2015, S. 127f.). Allein dieser kleine Ausschnitt aus der Historik von Sozialdiagnose sollte deutlich gemacht haben, dass die Begrifflichkeit eine Vielschichtigkeit in ihrem Verständnis aufweist, die sich nicht mit einigen Sätzen oder Definitionen gänzlich erfassen lässt oder hinreichend (allein aus der historischen Herbeiführung) als flagrante Domäne der Sozialen Arbeit ableiten lassen würde.

Wird sich heute näher an den von Alice Salomon initiierten Sichtweisen und Anregungen von Sozialdiagnose entlangbewegt? Und: Wie kann Sozialdiagnose in der heutigen Sozialen Arbeit begriffen werden? Der folgende Punkt wird dazu einen rudimentären Überblick geben, indem unter anderem an die aktuelle Debatte um Sozialdiagnose angeknüpft wird.

2.2 Sozialdiagnose heute

In einschlägigen Fachzeitschriften der Sozialen Arbeit nimmt die Thematik um Sozialdiagnose wieder zunehmend mehr Einzug und gewinnt an Brisanz. Klar ist, dass sich Soziale Arbeit der Sozialdiagnose nicht entziehen darf, sondern intensiver damit auseinandersetzen muss. Über die Verortung und Durchführung in der Praxis wird sich mit Ausnahme einer kriegsbedingten Unterbrechung seit Alice Salomons Werk vehement disputiert. Die präsenten Meinungenüber die differenzierten Modelle und handlungsbezogenen Durchführungen sowie spezifischen Verfahrensweisen und Techniken von Sozialdiagnose, eröffnen ein weites Spektrum, welches allerdings noch zu keinem Konsens unter den TheoretikerInnen der Sozialen Arbeit geführt hat. Burkhard Müller unterteilt die heutigen Verständnisse von Sozialdiagnose in drei grundlegende Ausprägungen von Ansätzen. Erstens die Sichtweise der sogenannten Neo-DiagnostikerInnen, die davon ausgehen, dass eine angemessene problem- und personenbezogene Hilfestellung nur dann möglich ist, wenn vorab eine relativ große Komplexitätsgewinnung der objektiven und subjektiven Problemkonstellationen und dahinterliegenden Bedingungen, Bedürfnissen sowie Motivationen der AdressatInnen stattfindet, um zu Interventionsmöglichkeiten zu gelangen. Diese werden durch klassifikatorische Vorgehensweisen und Techniken erzielt. Die zweite und damit konträre Richtung zur Ersteren ist die Haltung der Anti-Neo-DiagnostikerInnen, die eine auf objektive Deutungen bezogene Vorgehensweise für höchstproblematisch ansehen, da hiermit die Neigung zum Expertentum und stigmatisierenden Zuschreibungen im Prozess bestehen. Ferner halten diese den Begriff und die Novellierung von Diagnose in der Sozialen Arbeit für gescheitert, da diese als „üble Nachrede“ (Kunstreich 2003, S. 8) gebrandmarkt sind. Den dritten Standpunkt bilden die sozialpädagogischen Diagnosemodelle nach den Ausgangsüberlegungen von Mollenhauer und Uhlendorff, welche für eine hermeneutische, also verstehende und rekonstruktive Diagnoseform plädieren. In der Gegenüberstellung dieser Diagnosearten (anhand eines Fallbeispiels) sowie der Spezifik der einzelnen Diagnoseausprägungen zu anderen diagnoseartigen Tätigkeiten, gelangt Burkhard Müller schließlich zu einer Sozialdiagnose, die zwischen den Ansätzen und Meinungsbildern2 bestehen sollte und welche die Bereiche des gegenseitigen Helfens, des Beziehungsverhältnisses zwischen SozialarbeiterIn und AdressatIn, die systemischen Sichtweisen sowie die Stellung der Sozialen Arbeit im interdisziplinären Kontext anrührt. Letzteres streicht für ihn heraus, dass die Debatte keine simple Fachfrage wie die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Ansatz darstellt, sondern mehr betreffen muss (vgl. Müller 2007, S. 9ff.). Das bedeutet die Themen der Sozialdiagnose scheinen nicht nur die Gestaltung dessen was Sozialdiagnose charakterisiert zu betreffen, sondern auch unmittelbar die Konstituierung der Disziplin und Profession Sozialer Arbeit. Im Fazit zu seiner vorgestellten Diagnoseart führt Müller folgendes an:

„Sozialpädagogische Diagnose, als Fachwissen betrachtet, ist nicht mehr als ein Satz unterschiedlicher, provisorischer Landkarten für ein nur begrenzt kartographierbares, weil sich ständig wandelndes Gelände. Die Debatteüber Soziale Diagnose ist nützlich, wenn sie hilft, solche Landkarten kennen zu lernen, ihre Grenzen zu verstehen, also sie nicht mit der Wirklichkeit des Lebens zu verwechseln - und dann mit eigenen Augen und Ohren ins Gelände dieses Lebens zu gehen. Denn welchen Weg ich im konkreten Fall nehmen sollte, welche Entscheidungen die richtigen sind, das sagen die Landkarten meistens nicht“ (Müller 2007, S.17).

Auch wenn Müller dies in etwas metaphorischer Weise formuliert, kann hierin unter anderem der Professionalisierungsaspekt in Bezug auf das fachliche und methodische Handeln zum Ausdruck gebracht werden. Sozialdiagnose kann demnach kein vorgefertigtes anwendungsbezogenes Wissen darstellen, sondern die Beinhaltung heuristischer Sichtweisen und das Entwickeln von geeigneten Diagnosestrategien im Theorie- und Praxisverhältnis der Sozialen Arbeit. Nach Müllers Auffassung, in einem seiner bekanntesten Werke des sozialpädagogischen Könnens, ist Sozialdiagnose ferner auch das Erörtern von Klarheit der Problemstellung der am Prozess beteiligten Personen entscheidend, also welches konkrete Problem der oder die Beteiligte in der Fallkonstellation, somit also im Prozess der Sozialdiagnose hat (vgl. Müller 2012, S. 116ff.).

Im Fachdiskursüber die Thematisierung von Diagnostik in der Sozialen Arbeit heißt es, dass die Debatte um die heutige Sozialdiagnose eine mit wiederkehrenden Punkten in Bezug auf die Überlegungen von Alice Salomon ist, sodass sich hinter dem Vorhang dieser Debatte mehr befinden muss, was die Soziale Arbeit signifikant tangiert. Diverse Definitionen von Sozialdiagnose probieren sich an einem begehbaren Pfad für die Etablierung in der Sozialen Arbeit sowohl in der Theorie als auch im praktischen Kontext. Die Debatte zeigt das eifrige Bemühen, eine Sozialdiagnose (beispielsweise durch die zahlreich entwickelten Konzepte, Modelle und Verfahren) in der Sozialen Arbeit weitestgehend zu konsolidieren und damit den Anforderungen der Gegenstandsbereiche gerecht zu werden. Dies erfordert die Hin- und Zuwendung auf eine Metaebene, um den Diskurs hinter dem Diskurs transparent zu machen und der Forschungsfrage nach dem Bezug der Gegenstandsbereiche Sozialer Arbeit Rechnung zu tragen. Ferner handelt es sich um Grundsatzfragen die Riesenhuber mit zwei weiteren Verfassern des Social Papers, vor allem in folgenden zentralen Themen sehen:

- Disziplin- und professionsbezogene Eigenlogik
- Entwicklung und Ausarbeitung einer fachlichen Haltung
- Erörterung des Menschenbildes
- Reflexion der Qualitätskriterien und dem Beziehungsverhältnis zwischen professioneller Fachkraft und AdressatIn (vgl. Riesenhuber u.a. 2009)

Ergänzend zum zweiten Auflistungspunkt der Entwicklung einer fachlichen Haltung, verbinde ich zudem den Anspruch an Professionalität in der Sozialen Arbeit. Es stellt meines Erachtens nach heraus, dass sich Soziale Arbeit durch ihre Stellung im interdisziplinären Kontext bei der Frage nach der Zuständigkeit und Durchführung von Sozialdiagnose fachlich adäquat positionieren muss. Darüber hinaus sind im Sozialdiagnoseprozess theoretische Grundsatzfragen zu exponieren, die sowohl den wissenschaftstheoretischen Zugang als auch das Selbstverständnis der Disziplin und Profession betreffen. In diesem Zusammenhang steht also gleichzeitig auf der Agenda, was Soziale Arbeit und ihr Aufgaben- und Selbstverständnis ausmacht beziehungsweise ihre Domänen kennzeichnet. Dieser kurze und unvollkommene Ausschnitt aus der aktuellen Debatte um Sozialdiagnose in der Sozialen Arbeit sollte deutlich gemacht haben, dass das Dahinterliegende, die Konnotation des Begriffes und die zum Teil konträren Meinungsbilder eine Vielschichtigkeit akzentuieren. Es scheint daher weniger verwunderlich, dass Sozialdiagnose - auch hinsichtlich der historischen Herleitung - in unserem Alltagsverständnis eher mit der Medizin, Psychologie oder Naturwissenschaften anstatt mit Sozialer Arbeit assoziiert wird. Langsam und mühselig zeichnet sich das heutige Verständnis um Sozialdiagnose dahingehend um, dass Soziale Arbeit im professionellen Handeln an Kontextbedingungen der Unwissenheit konfrontiert ist, welche durch die anspruchsvolle und komplexe Zusammenarbeit mit den AdressatInnen entstehen und Offenheit sowie Mehrperspektivität erfordern (vgl. Wendt 2015, S. 127f.).

Um mich dem weiteren Verständnis der Erkenntnis von Sozialdiagnose anzunähern, wird im nachfolgenden Abschnitt Soziale Arbeit unter dem Wissensrahmen des systemtheoretischen Paradigmas der Sozialen Arbeit als Handlungswissenschaft zurückgeführt, was bedeutet, dass der systemtheoretisch-ontologische Zugang3 zur Domänen- und Gegenstandsbestimmung hinsichtlich Sozialdiagnose Anwendung findet.

3 Erkenntnistheoretische und ontologische Grundlage von Sozialdiagnose

Wird sich diesem Ausgangsverständnis und der Annahme um Sozialdiagnose angenommen, dass es sich bei der Konstituierung von Sozialdiagnose um Grundsatzfragen und -entscheidungen handelt, muss die zugrundeliegende theoretische Zugangsgrundlage von Sozialdiagnose aufgezeigt werden.

Bezugnehmend auf die vorherigen Ausführungen und die Forschungsfrage, greife ich vor allem den systemischen Anteil von Müllers Überlegung auf, um eine geeignete Sozialdiagnoseform sowie die Kohärenz von Diagnose zur Erkenntnis zu erarbeiten. Dazu unterziehe ich die Sozialdiagnose dem systemtheoretischen Paradigma, um damit eine epistemologische und ontologische Zugangsgrundlage von Sozialdiagnose zu fundieren.

Nach Hubert Höllmüller ist selbst für Sozialdiagnose eine wissenschaftliche Rückkopplung sinnvoll, da das Erkennen einen hohen Stellenwert in jeder Sozialdiagnose einnimmt (vgl. Höllmüller 2009, S. 15).

3.1 Systemtheoretisches Paradigma und Sozialdiagnose

Silvia Staub-Bernasconi, als eine Vertreterin des systemtheoretischen Paradigmas (auch als Zürcher Schule bekannt), bezieht sich bei der theoretischen Gegenstandsbestimmung und Theoriebildung Sozialer Arbeit auf diese systemisch- ontologische Sichtweise. Demnach wird versucht den unterschiedlichen Fokussierungen anderer Paradigmen wie beispielsweise eindimensional auf Individuum, Gesellschaft oder Familien versucht in einer systemischen Betrachtung angemessen nachzukommen beziehungsweise einzelne Aspekte der anderen Paradigmen zu berücksichtigen. Folgend der systemtheoretischen Annahme, wird jedes Dasein der Realität als System oder Anteil vom System oder Interaktionsgebietes aufgefasst. Das Potenzial, welches darin enthalten ist, kann „als transdisziplinäre Erklärungen unter Beizug biologischer, psychischer, mikro-, meso- und makrosozialer sowie kultureller Determinanten bezeichnet“ (Staub-Bernsaconi 2007, S. 153ff.) werden. Eine professionelle Sozialdiagnose liegt vor dem Hintergrund des systemtheoretischen Paradigmas zur Realitätsannäherung in einem Interaktionsprozess mit dem an einer Sozialdiagnose beteiligten Akteuren. Die Beschreibungs-, Erklärungs-, Deutungs- und Bewertungsmuster des Problems als auch die Vorstellungen von Handlungsalternativen, welche sich im Prozess ergeben, (und häufig eine unterschiedliche Akzentuierung der Inhalte zufolge haben), erfordern Koproduktion, sodass Übereinstimmungen und Differenzen herausgestellt werden können. Nach Staub-Bernasconi konstituiert sich dieser Prozess im dialektischen Verhältnis von Umwelt/ Gesellschaft und Individuum (als Systeme) sowie einem fundierten theoretischen Wissenüber Human- und Gesellschaftsbilder zur Befriedigung der „Bedürfnisse und legitimen Wünsche“ (Staub-Bernasconi 2007, S. 288ff.) der AdressatInnen. Die Autonomie der AdressatInnen gilt es zu fördern. Entsprechend dieses ontologischen Zugangs wird die konstruktivistische Auffassungüber die konstruierende Wirklichkeit eines jeden Individuums auf die Erzeugung von Bildernüber die Wirklichkeit novelliert. In Geisers Überlegungen ist die Verständigungüber die Wirklichkeit unumgänglich für den Diagnoseprozess, da hierin objektbezogene Äußerungen enthalten sindüber dessen Beschaffenheit beurteilt und bewertet wird, was wiederum zur genaueren Erkennbarkeit dient. Die Frage, die damit verbunden ist, ist die nach der Entstehung von fallbezogenen Diagnosebildern. Die Ontologie einer Sozialdiagnose bedarf also einer Wirklichkeitsgrundlage, um Annäherungen zur damit verbundenen Visualisierungüber die Wirklichkeit und den Lebenswelten der AdressatInnen zu gelangen. Diese Visualisierungsprozesse zielen innerhalb einer Sozialdiagnose einerseits auf das Erkennbar- und Sichtbarmachen von Eigenschaften der AdressatInnen und andererseits auf die Generierung von Wissen und Theorien (vgl. Pantucek u.a. 2009).

3.2 Wissensebenen des systemtheoretischen Paradig- mas als Grundlage von Sozialdiagnose

Bezogen auf das Theoriekonstrukt des systemtheoretischen Paradigmas liegt eine spezielle Wissenskonstitution zugrunde, die auf mehreren Ebenen verwoben ist. Entsprechend der Abbildung 1 wird nach Meta- und Objekttheorien sowie einer allgemeinen und spezielleren Handlungstheorie(n) als auch dem Gegenstandsbereich der Sozialen Arbeit differenziert. Die wechselseitige Beeinflussung wird durch die Pfeile symbolisiert und soll deutlich machen, dass die Ebenen zugleich miteinander verbunden sind, was die transdisziplinären Eigenschaften charakterisiert. Diese versucht die unterschiedlichen Ebenen der Sozialarbeitswissenschaft unter dem systemtheoretischen Paradigma zu illustrieren und wird für den nächsten Punkt (vier) dieser Arbeit als Verständnisgrundlage zur weiteren theoretischen Einbettung von Sozialdiagnose innerhalb der Profession und Disziplin als systemtheoretische Handlungstheorie dienen.

Abb.1: Transdisziplinäre Wissenskonstitution des systemischen Paradigmas der Sozialarbeitswissenschaft

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: Geiser 2007, S. 42)

Die oberste Strukturebene der Grafik bezieht sich auf die metawissenschaftliche Stufe der Sozialarbeitswissenschaft, die sich mit ontologischen und epistemologischen Fragen beschäftigt. Diese Ebene umfasst die Integration von disziplinbezogenem Wissen diverser Objektgebiete. Um die Domänenbereiche der Sozialen Arbeit zu erfassen, müssen wissenschaftliche Theorien gebildet werden, die sich auf die Wirklichkeit und die Beschaffenheit der Individuen einschließlich der Erkenntnisüber ihr individuelles Handeln beziehen. Die Erzeugung von Bildern beziehungsweise Visualisierungen, welche versucht wurden im vorherigen Punkt zu beschreiben, können dieser Ebene in Verbindung mit Beschreibungs-, Erklärungs-, Deutungs-, und Erkennungsvorgängen auf der Metaebene zugeordnet werden. Die darunterliegende Ebene ist die der Bezugswissenschaften Sozialer Arbeit, die zur weiteren Erklärung von sozialen Problematiken und Beschreibungenüber den fallbezogenen Sachverhalt aus unterschiedlichen Perspektiven fungiert. Nach Geiser unter anderem, sind drei zusammenhängende Objekttheorien unerlässlich im Sozialdiagnoseprozess. Dabei benennt er a) Eine auf das Individuum bezogene Theorie, die sich aus Anteilen der „Bedürfnistheorie“, der „Bild-Code Theorie“ und „Handlungstheorie“ (Geiser 2009, S.271) zusammensetzt, b) eine auf soziale Systeme bezogene Theorie sowie c) eine auf soziale Problematiken gerichtete Theorie.

Die nachfolgende Ebene der allgemeinen Handlungstheorie verläuft nach einer regelgeleiteten (normativen) Struktur. Darin enthalten ist das disziplinbezogene Wissen aus verschiedenen Objektbereichen, welches neben den interdisziplinären Erklärungstheorien auch Entscheidungs- und Bewertungsvorgänge hinsichtlich der gesetzten Ziele und Ethik im professionellen Handeln mit einbezieht. Eine Sozialdiagnose als systemtheoretische Handlungstheorie lässt sich dieser Ebene zuordnen und wird in Punkt vier dieser Arbeit präzisiert. Auf der nachfolgenden Ebene der speziellen Handlungstheorien sind nicht die präsenten Methoden ausschlaggebend zur Bestimmung der Problemlage von AdressatInnen Sozialer Arbeit. Vielmehr bilden die sozialen Problemkonstellationen den signifikanten Anlasspunkt zu möglichen Interventionsansätzen oder Strategien mitsamt dem Methoden- und Kompetenzspektrum der SozialarbeiterInnen. Die Ebene der spezielleren Handlungstheorien beschäftigt sich mit Fragen nach den methodischen Handlungsformen (vgl. Staub-Bernasconi 2007, S.202ff.). Wird mit dem Terminus Methode - in der Übersetzung - der Pfad und im weiteren Sinne der Prozess verstanden, so ist das professionelle methodische Denken und Handeln im sozialdiagnostischen Prozess obligatorisch. SozialarbeiterInnen benötigen ein umfangreiches Wissenüber dieses methodische Denken und Handeln. Es besteht Konsens darüber, dass es nicht die einzig besondere Methode geben kann, die dem Wissenschafts- und Praxisverständnis der Sozialen Arbeit gerecht wird, sodass in einer Sozialdiagnose immer wieder individuellüberprüft werden muss, welche Methode geeignet und sinnvoll zur Erschließung des vorliegenden Sachverhalts ist (vgl. Galuske/ Müller 2012, S. 587ff.; vgl. Uhlendorff 2012, S. 717).

[...]


1 Für eine bessere Lesbarkeit erspare ich mir den Terminus „Soziale Probleme“ (Staub-Bernasconi 2002, S. 267) oder wortverwandte Begrifflichkeiten kontinuierlich in Anführungszeichen zu setzen.

2 Die verschiedenen Meinungsbilder und grundlegenden Konfliktpunkte lassen sich unter anderem aus dem diskursiven Briefwechsel der Zeitschrift WIDERSPRÜCHE entnehmen (vgl. Kunstreich u.a. 2003, S. 11ff.).

3 In der sozialarbeitswissenschaftlichen Diskussion werden auch konstruktivistische oder hermeneutische Zugänge zur Fallkonstitution von Sozialdiagnose vertreten, die ich allerdings für meine weiteren Überlegungen und einer ganzheitlichen Sicht auf Sozialdiagnose für ungeeignet halte, ohne diese einer vollständigen Betrachtung und Gegenüberstellung zu unterziehen.

Ende der Leseprobe aus 44 Seiten

Details

Titel
Sozialdiagnose als Domäne der Sozialen Arbeit
Hochschule
Fachhochschule Münster
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
44
Katalognummer
V429373
ISBN (eBook)
9783668732575
ISBN (Buch)
9783668732582
Dateigröße
900 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sozialdiagnose
Arbeit zitieren
Joey Fleck (Autor:in), 2017, Sozialdiagnose als Domäne der Sozialen Arbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/429373

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