Habitus und Habitustransformation in der Bildungsforschung. Ein gesellschaftskritischer Bildungsbegriff


Hausarbeit, 2018

15 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhalt

1. Selbst- und Weltverhältnisse

2. Bourdieus Habitusbegriff

3. Bildung als Habitustransformation

4. Möglichkeiten und Implikationen eines allgemeinen Bildungsbegriffes in Anlehnung an die Habitustransformation

5. Literaturverzeichnis

1. Selbst- und Weltverhältnisse

τοῦτο δή, ὡς ἔοικεν, οὐκ ὀστράκουἂν εἴη περιστροφή, ἀλλὰ ψυχῆς περιαγωγὴ ἐκ νυκτερινῆς τινος ἡμέρας εἰς ἀληθινήν, τοῦ ὄντος οὖσαν ἐπάνοδον, ἣν δὴ φιλοσοφίαν ἀληθῆ φήσομεν εἶναι.

Plato, Politeia 521c

Es ist nicht verwunderlich, dass Platon das Höhlengleichnis – das in keiner Einleitung zur Bildungstheorie fehlt - in einem staatstheoretischen Werk darbringt. Die Möglichkeit, selbstbestimmt und reflektiert handeln zu können hängt unbestreitbar damit zusammen, wie sehr meine Umwelt mir dies ermöglicht und wie sehr ich darüber weiß, ob und wie ich von der Gesellschaft, in der ich mich befinde, fremdbestimmt bin. Diese Erkenntnis ist kein oberflächlicher und vergesslicher Lernprozess, sondern eine Transformation (die vermutlich nie abgeschlossen sein kann), die den gesamten Menschen bis ins Tiefste erfasst. Ein solches Deutungsmuster kann bei Pierre Bourdieu im Habitusbegriff gefunden werden. Als Vermittlungsinstanz zwischen Individuum und Gesellschaft verweist er auf eine Interaktion der beiden Größen hin, die weiter untersucht werden muss. Die biographisch orientierte Bildungsforschung hat in Anlehnung daran die Habitustransformation beschrieben, als ein Prozess, in dem das Individuum sich weiterbildet und seine Selbst- und Weltorientierungen umformt.

Diese Hausarbeit versucht die Begriffe und die Konzepte zu erarbeiten und zu verstehen, inwiefern Habitus und Habitustransformation in Bildungsprozessen einen Einfluss haben. Dabei wird immer auch ein Blick darauf gelegt sein, inwiefern der Begriff nicht nur in der Biographieforschung Anwendung finden hat können, sondern, darüber hinaus, auch im formalen Bildungsbereich anschlussfähig wäre. Die Diskussion von zwei Thesen, die im Anschluss an mein Referat in der Lehrveranstaltung formuliert wurden, soll aufzeigen, wie eine Bildungstheorie im Sinne der Habitustransformation immer auch gesellschaftskritisch sein kann und daher an Weiterentwicklung bedarf.

2. Bourdieus Habitusbegriff

Bourdieu (1993) entwickelt den Begriff des Habitus vor allem in seiner Schrift Sozialer Sinn – Kritik der Theoretischen Vernunft. Dieses Werk, das 1980 in Paris veröffentlicht wurde, wird von Lenger und Schneickert (2009) als Übergang beschrieben, wo aus den Ethnologen Bourdieu der Soziologe wurde. Es ist ein epistemologisches und wissenschaftstheoretisches Unterfangen, mit dem Ziel, die Dichotomien zwischen Theorie und Praxis, zwischen Objektivität und Subjektivität, sowie zwischen Exteriotität und Interiorität zuüberwinden. Zwischen diesen Extremen braucht es eine Vermittlungsinstanz (vgl. Barlösius, 2006, S. 47), welche das menschliche Handeln, sein Denken und sein Tun, in Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Strukturen erklären kann. Dafür formuliert Bourdieu das Konzept des Habitus, als ein System von „Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen […]“ (Bourdieu, 1993, S. 98)

Für den Habitusbegriff hatte Pierre Bourdieu Vorlagen aus der Philosophiegeschichte. In der Rekonstruktion von Barlösius (2006, 53ff) kann der Habitusbegriff auf die lex insita nach Gottfried Wilhelm Leibniz zurückgeführt werden, wo diese das innewohnende Gesetz beschreibt, das auf eine Entsprechung der Inhalte des Subjektes und jener des jeweils anderen aus ist. Übernommen wurde die lex insita jedoch nicht in dieser metaphysischen Anwendung, der die Monadologie des deutschen Philosophen unterworfen war. Für die kennzeichnende körperliche Dimension des Habitus – so wie Bourdieu es konzipierte - ist die Leseart und die Übersetzung des deutsch-jüdischen Kunsthistorikers Erwin Panofsky die Quelle der Inspiration. Dieser gebrauchte den Habitusbegriff als eine geformte Disposition des Erkennens, die nicht auf ein einzelnes Individuum beschränkt bleibt, sondern in ein einem sozialen Gefüge von vielen geteilt werden kann. Es ist durchaus stimmig, dass dieses Konzept gerade in einer theoretischen Abhandlung zur Gotik aufgestellt wird, wo Panofksky erklären wollte, wie es möglich sei, „dass Künstler verschiedener Disziplinen […] ohne sich miteinander abzustimmen, ab einem gewissen Zeitpunkt die gleichen Gestaltungsprinzipien in ihre jeweilige Kunst einführen uns so […] eine neue Kunstepoche beginnen“ (Barlösius, 2006, S. 54). Dieses kollektive Moment der Wahrnehmung und Handlungssteuerung fand Bourdieu auch in den Schriften des Linguisten Noam Chomsky, wo der Habitus als „ein System verinnerlichter Muster definiert wird, die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen einer Kultur zu erzeugen“ (Fröhlich & Rehbein, 2009, S. 112) aufgefasst wird. Mit dieser Begrifflichkeit hatte Bourdieu das entsprechende Werkzeug, um ethnologische und soziologische Beobachtungen zu interpretieren, sei es die algerischen Bauern, die in die Städte wanderten und dennoch Handlungsweisen behielten, die unangemessen oder kontraproduktiv waren, oder sei es der gesellschaftliche Aufstieg, der durch die familiäre Sozialisation und, die daraus erst möglich werdende, Schulsozialisation bedingt ist.

Um den Habitusbegriff zu illustrieren, sollen vier Charakteristika angeführt werden:

Das Kollektive

Gerade in der Abgrenzung zu Chomsky betont Bourdieu wie „der Habitus sozial,örtlich und zeitlich sehr stark variiert“ (Fröhlich & Rehbein, 2009, S. 113). Er ist nie unabhängig vom gesellschaftlichen Kontext in dem sich der Besitzer befindet, sondern beschreibt gerade die Gemeinsamkeiten mit den anderen Individuen, zu denen Homogenität hergestellt werden kann. Diese Abstimmung geschieht weitgehend nicht intentional und nicht strategisch, und wird in der Regel auch nicht gesteuert. Der Auslöser dafür, dass eine Abstimmung mit der sozialem Umgebung geschieht, und der Modus, wie diese vollzogen wird, sind im Habits niedergelegt: „Der Habitus ist nichts anderes als jenes immante Gesetz, jene den Leibern durch identische Geschichte(n) aufgeprägte lex insita, welche Bedingungen nicht nur den Abstimmung der Praktiken, sondern auch der Praktiken der Abstimmung ist“ (Bourdieu, 1993, S. 111).

Die Doppelnatur

Das, was zirkulär erscheinen mag, ist durch die Doppelnatur des Habitus bedingt: Es ist zum einen opus operatum und zum anderen opus operans. Der Habitus ist hervorgebracht (operatum) als Ergebnis von „Konditionierungen, die mit einer bestimmten Klassen von Existenzbedingungen verknüpft sind […, als] Systeme dauerhafter undübertragbarer Dispositionen“ (Bourdieu, 1993, S. 98). Im Sinne der dialektischen Überwindung der Polaritäten zwischen Extern und Intern ist der Habitus nicht nur geformt, sondern zugleich auch formend (operans): „Als Produkt der Geschichte produziert der Habitus individuelle und kollektive Praktiken, also Geschichte, nach den von der Geschichte erzeugten Schemata“ (ebd. S. 101). Es gibt eine replizierende Funktion im Verständnis des Habitus, die auf eine statische und konservierende Auffassung von Sozialisation hindeuten mag, jedoch denkt ihn Bourdieu weiter, in Abgrenzung von einem mechanischen Determinismus: „Als unendliche, aber dennoch strikte begrenzte Fähigkeit zur Erzeugung ist der Habitus nur so lange schwer zu denken, wie man den Üblichen Alternativen von Determiniertheit und Freiheit, Konditioniertheit und Kreativität, Bewußtem und Unbewußtem oder Individuum und Gesellschaft verhaften bleibt, die er ja ebenüberwinden will“ (ebd. S. 103).

Die Körperlichkeit

Die angesprochene Überwindung der Dualität zwischen Bewusstem und Unbewussten lässt noch eine Lücke, die konzeptuell erschlossen werden muss. So spielen Rehbein und Saalmann (2009, S. 113) mit der Assonanz der Begriffe „automatisch“ und „somatisch“ und weisen darauf hin, dass der Habitus gerade in durch seine Unbewusstheit gekennzeichnet ist, sodass „wir meistens Automaten sind“. Dieser Automatismus geschieht jedoch nicht in einem fremdbestimmten Determinismus, sondern ist folge einer Einverleibung von all den Elementen, die den Habitus umfassen. Durch diese Somatisierung können die erlernten „Bewegungsmuster“ ohne explizite Überlegung umgesetzt werden. Die Körperlichkeit des Habitusbegriffes weitet dessen Bedeutung aus: sie beschreibt nicht nur die Möglichkeit von impliziten Umsetzung von kognitiven Dimensionen, sondernöffnet auch den Inhalt für nicht-kognitive und non-verbale Elemente. So schreibt er: „Die körperliche Hexis ist die realisierte, einverleibte, zur dauerhaften Disposition, zur stabilen Art und Weise der Körperhaltung, des Redens, Gehens und damit des Fühlens und Denkens gewordene politische Mythologie“ (Bourdieu, 1993, S. 129). Dadurch können mehr Dimensionen im Diskurs berücksichtigt werden, sei es im soziologischen wie im erziehungswissenschaftlichem Denken.

3. Bildung als Habitustransformation

In der Rezeption des Konzeptes des Habitus können im Bereich der Bildungsforschung zwei unterschiedliche Strömungen unterschieden werden. Zum einen jene, die – vor allem aus dem Hintergrund der Migrationsforschung – den Aspekt der Bildungsungleich beleuchten und jene, die eine allgemeine Bildungstheorie entwerfen, die meist biographisch orientiert sind.

Erstere Betrachten die Habitustransformation unter der Perspektive des sozialen Aufstiegs. Dabei findet ein Wechsel zwischen dem ursprünglichen, niederen Habitus und jenem, mit einem höheren sozialen Status statt. Während El-Mafaalani (2012) sehr differenziert die unterschiedlichen Rezeptionen der Habitustransformation aufzeigt, sowohl jene, die bloßvon einer Umformung infolge eines Wechsels der sozialen Lage sprechen, wie auch jene, die eine allgemeine Bildungstheorie in Anlehnung dessen formulieren, finden sich in neuere Publikationen auch ein sehr verkürztes Verständnis von Habitustransformation. So scheint Kamis (2017) den Habitus auf das soziale Kapital zu reduzieren und verwendet den Begriff der Habitustransformation nur im Untertitel seiner Dissertation und in einem Zitationsverweis auf einen anderen Autor; Habitustransformation findet – auch wenn so nicht explizit vom Autor der qualitativen Untersuchung benannt – angeblich dort statt, wo ein gesellschaftlicher Aufstieg durch Bildung geschehen ist und eine Neuorientierung, gerade zur Ursprungsfamilie, möglicherweise notwendig wird. Es kann hier nicht die Rede sein, dass der Habitus in jedem Fall transformiert wird, eher scheint hier ein statisches Verständnis von Habitus vorzuliegen, sodass dieser ersetzt wird, um eine höhere Passung zu erreichen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Habitus und Habitustransformation in der Bildungsforschung. Ein gesellschaftskritischer Bildungsbegriff
Hochschule
Universität Salzburg
Note
1
Autor
Jahr
2018
Seiten
15
Katalognummer
V428661
ISBN (eBook)
9783668732599
ISBN (Buch)
9783668732605
Dateigröße
564 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
bildungsbegriff, habitus, habitustransformation, bildungsforschung
Arbeit zitieren
Matteo Carmignola (Autor:in), 2018, Habitus und Habitustransformation in der Bildungsforschung. Ein gesellschaftskritischer Bildungsbegriff, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/428661

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