Inwiefern leiden Autisten unter Einschränkungen im Verständnis des mentalen Bereichs?

Eine Betrachtung der Theory of Mind Forschung und deren Legitimation


Hausarbeit, 2018

18 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Autismus
1.1 Historischer Abriss
1.2 Autismus heute
1.3 Defizite bei ASS

2. Theory of Mind
2.1 Definition
2.2 ToM Defizit bei Autisten
2.2.1 first-order-false-belief task
2.2.2 second-order-false-belief task
2.3 Aktuelle Tendenzen

4. Schlussbetrachtung

5. Quellenverzeichnis

״ein sehen das jene sachen verschleiert
die wesentlich sind
und aufdeckt, was anderen verborgen bleibt
ich sehe aus der ferne wesentliches
aber aus der astreinen naehe alles verschwommen“[1]

Birger Sellin hat eine ganz eigene, besondere Sicht auf die Dinge. Auf der einen Seite sieht er mehr als seine Mitmenschen, auf der anderen Seite ist er für das Offensichtliche blind.

Birger Sellin ist Autist.

1. Autismus

1.1 Historischer Abriss

Der Begriff Autismus (von griechisch autós ״selbst) wurde erstmals 1911 von Eugen Beuler verwendet, der allerdings noch kein Krankheitsbild unter diesem Begriff verstand, sondern viel mehr ein spezielles Verhalten, welches durch eine ״Loslösung von der Realität und einem Zurückziehen in eine private Scheinwelf[2] geprägt war. Für Beuler trat Autismus nur als ״sekundäres Symptom“ bei Schizophrenie auf und wurde somit noch nicht als eigenständiges Krankheitsbild erkannt.

Erst 1943 stellte der Kinder- und Jugendpsychiater Leo Kanner fest, dass es sich bei Autismus um eine Entwicklungsstörung handelt, die sich bei Kindern durch Einschränkungen in den Bereichen der Wahrnehmung, der Entwicklung, der Sprache sowie der Interaktion und Kommunikation äu­ßert und unabhängig von anderen psychischen Erkrankungen auftritt. Er beschrieb diese Form des Autismus als ״early infantile autism“[3] Zeitgleich und dennoch unabhängig von Kanner machte der Kinderarzt Hans Asper­ger dieselben Entdeckungen.[4] Die Patienten von Asperger wiesen aller­dings keinerlei Sprachbarrieren auf, sondern verfügten alle über eine gut entwickelte Sprache. Diese hoch funktionale Ausprägung von Autismus wird seitdem als Asperger-Syndrom bezeichnet.

Trotz der Erkenntnis, dass Autismus eine bislang unerforschte aber schwerwiegende psychische Krankheit darstellt, konnten die Ärzte nur we­nig konkrete Auskünfte geben. Meist wurde nur bei den verhaltensauffäl­ligsten Patienten Autismus diagnostiziert.

Erst in den letzten Jahrzehnten begann man intensiver im Bereich der Ent­Wicklungsstörung zu forschen und machte somit Fortschritte bei der Dia­gnose und der Therapie.

Trotz der ausgeprägten Autismusforschung wurde noch in den 1970 Jah­ren davon ausgegangen, dass Autisten nur von ״Kühlschrank“-Müttern ge­zeugt werden würden. So wurden Mütter, deren Kinder autistische Verhal­tensauffälligkeiten aufwiesen, bezichtigt, sie würden ihren Kindern zu we­nig Liebe und Zuneigung schenken, sie seien schlichtweg zu ״kalt“.

Basis für diese Behauptungen bildeten Studien im Bereich der Epigenetik. Später konnten renommierte Wissenschaftler diesen Mythos aus der Welt schaffen, indem sie feststellten, dass Eltern, die dem ״Kühlschrank“-Ste- reotyp entsprachen, auch gesunde Kinder zeugten.[5]

1.2 Autismus heute

Auch wenn bisher noch kein umfangreiches Erklärungsmodell zu den Ur­sachen erstellt werden konnte, geht die Wissenschaft davon aus, dass die Entwicklungsstörung durch Veränderungen im Erbgut entsteht. Diese An­nähme konnte durch Zwillings- und Geschwisterstudien belegt werden.[6] Dennoch bedeutet ein Gendefekt nicht automatisch, dass man von Autis­mus betroffen ist. Soviel steht aber fest: ״je größer die erbliche Belastung, umso wahrscheinlicher ist das Auftreten von Autismus“[7].

Auch im Bereich der Biochemie erkannten Wissenschaftler Unterschiede bei gesunden Kindern und Kindern mit Autismus. Autisten weisen erhöhte ״Werte der Botenstoffe Serotonin und Dopamin auf“.[8] Diese gewinn­bringende Erkenntnis wird heutzutage für die Autismus Therapie genutzt. Einige Autoren gehen außerdem davon aus, dass die Ursache der stö­rung auf ein primäres kognitives Defizit zurückzuführen ist.[9] Was dieses Defizit für Auswirkungen hat, soll im nachfolgenden Kapitel geklärt wer­den.

Durch die zunehmende Forschung des heute als ״vielgestaltige neurologi­sehe Entwicklungsstörung“[10] bezeichneten Autismus, konnten neben den Ursachen auch die verschiedenen Ausprägungen des Autismus geklärt werden. Wie bereits Kanner und Asperger erkannten, wird zwischen ״früh- kindlichem Autismus“ und der abgeschwächten Form, dem ״Asperger-Syn- drom“ unterschieden. Zusätzlich kommt der ״atypische Autismus“ hinzu, der dadurch geprägt ist, dass einige Merkmale des Autismus bei Betroffe­nen zu finden sind, andere allerdings nicht auftreten.

Die Differenzierung der drei Ausprägungen wird in der Praxis allerdings zunehmend schwerer, da immer abgeschwächtere Formen der jeweiligen Störbilder diagnostiziert werden.[11] [12]

Aus diesem Grund spricht man allgemein von der ״Autismus-Spektrum- Störung“ (ASS), um die Gesamtheit des Krankheitsbildes zusammenzu­fassen.

Angaben zu den Zahlen der unter ASS leidenden Personen liegen speziell für Deutschland leider nicht vor. Tabelle 1 zeigt die aktuellen Zahlen für Europa, Kanada und die USA.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Häufigkeit von Autismus-Spektrum-Störungen (Europa, Kanada und USA)12

Fest steht, dass die Zahl der Menschen, denen Autismus diagnostiziert wird, stetig steigt.

Während die Zahlen vom Jahr 2012 der ״Center for Disease Control and Prevention“ (CDC) in Atlanta (USA) zeigen, dass von 1000 Kindern im AI- ter von 8 Jahren bei 11,3 Kindern Autismus diagnostiziert wurde, so ist 2002 eine Verdopplung der Zahlen zu erkennen.[13]

Ob die Zahl der Erkrankten tatsächlich zunimmt oder ob diese Tatsache auf dem Fakt beruht, dass sowohl Eltern als auch Ärzte durch die Aufge­klärtheit der Krankheit und deren Merkmale diese schneller diagnostizie­ren, ist unklar.

1.3 Defizite bei ASS

Im Gegensatz zu den Zahlen der Erkrankten, hat sich die Meinung über die Einschränkungen, die mit dem Autismus einhergehen, nicht verändert. Kanners Erkenntnisse sind auch in der Gegenwart brandaktuell. Sowohl Nicole Bruning und Kollegen, als auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO)[14] sehen heute die stärksten Einschränkungen im Bereich der Ent­Wicklung, der Wahrnehmung, der Sprache, der sozialen Interaktion sowie der Kommunikation.[15]

Bei vergangenen aber auch aktuellen Forschungen steht häufig die Inter­aktion der Betroffenen mit der Umwelt im Mittelpunkt, da dieser Aspekt von entscheidender Bedeutung für die kindliche Entwicklung ist und die zahlreichen anderen oben aufgeführten Defizite automatisch bei der Aus­einandersetzung mit dieser Thematik mitberücksichtigt werden müssen. Menschen mit Autismus haben erhebliche Schwierigkeiten soziale und emotionale Signale einzuschätzen und selbst solche Signale auszusen­den. Dies hat zur Folge, dass sie nur selten angemessen auf Gefühle re- agieren.[16] Damit eng zusammenhängend ist die Tatsache, dass es ihnen schwer fällt, sich in andere Personen hineinzuversetzen. Sie zeigen also mangelnde Empathie und schaffen es nicht von der Mimik und Gestik der Person auf deren inneres Befinden zu schließen. Es fehlt die Fähigkeit zur Kohärenzbildung. Es werden zwar einzelne Dinge wahrgenommen, aber es ist für Betroffene nicht möglich diese Einzelaspekte in einen Gesamtzu­sammenhang zu setzen.

Es bleibt unumstritten, dass das Kind Fähigkeiten im Bereich der sozialen Kognition benötigt, um in Interaktion mit der Umwelt treten zu können.[17]

Diese Fähigkeiten ist bei Autisten offensichtlich nicht oder nur sehr einge­schränkt vorhanden. Ein Teilbereich der sozialen Kognition beschäftigt sich mit der Theory of Mind, die die genannten Defizite aufgreift und disku­tiert, inwiefern Autisten Einschränkungen im Verständnis des mentalen Bereichs haben.

[...]


[1] Verein zur Förderung von autistisch Behinderten e.v. Stuttgart: Autistische Menschen verstehen lernen II. Mit Beiträgen von Betroffenen. Stuttgart 1996. S.13

[2] Rödler, p.: Diagnose: Autismus. Ein Problem der Sonderpädagogik. Frankfurt am Main. 1983. S.12

[3] Rödler, p.: Diagnose: Autismus. Ein Problem der Sonderpädagogik. Frankfurt am Main. 1983. S.14

[4] Vgl. Schuster, N. : Schüler mit Autismus-Spektrum-Störungen. Eine Innen- und Außenansicht mit praktischen Tipps für Lehrer, Psychologen und Eltern. Stuttgart. 2016. s. 17

[5] Vgl. http://autismus-kultur.de/autismus/autismus-ursachen.html

[6] Vgl. https://www.netdoktor.de/krankheiten/autismus/

[7] Girsberger, T. : Die vielen Farben des Autismus. Spektrum, Ursachen, Diagnose, Therapie und Beratung. Stuttgart 2016. S.30

[8] https://www.netdoktor.de/krankheiten/autismus/

[9] Vgl.Baron-Cohen, s., O’Riordan, M, Stone, V., Jones, R. & Plaist- ed, K. Recogntion of faux pas by normally developing children and children with Asperger syndrome or high-functioning autism. Journal of Autism and Developmental Disorders, Cambridge 1999. S.411

[10] https://www.autismus.de/was-ist-autismus.html

[11] https://www.autismus.de/was-ist-autismus.html

[12] https://www.autismus.de/was-ist-autismus.html

[13] https://www.aerzteblatt.de/nacluichten/49712/Ueberdiagnose-von-ADHS-und-Autismus

[14] Vgl. http://www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icdl0/htmlgm2008/fr-icd.html

[15] Vgl. Bruning, N., Konrad, к., Herzertz-Dahlmann, в.: Bedeutung und Ergebnisse der Theory of Mind-Forschung für den Autismus und andere psychiatrische Erkrankungen. Aachen 2005. S.78

[16] Vgl. https://www.autismus.de/was-ist-autismus.html

[17] Vgl. Schuster, N. : Ein guter Tag ist ein Tag mit Wirsing. (M)ein Leben in Extremen: Das Asperger-Syndrom aus der Sicht einer Betroffenen. Berlin 2007. S.88

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Inwiefern leiden Autisten unter Einschränkungen im Verständnis des mentalen Bereichs?
Untertitel
Eine Betrachtung der Theory of Mind Forschung und deren Legitimation
Hochschule
Universität Stuttgart
Note
1,5
Autor
Jahr
2018
Seiten
18
Katalognummer
V428337
ISBN (eBook)
9783668723573
ISBN (Buch)
9783668723580
Dateigröße
660 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Autismus, Einschränkung, Verständnis
Arbeit zitieren
Kira Fetter (Autor:in), 2018, Inwiefern leiden Autisten unter Einschränkungen im Verständnis des mentalen Bereichs?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/428337

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