Horrormotive des Realismus im Wandel der Jahrhunderte. Eine Analyse von Friedrich Hebbels "Eine Nacht im Jägerhause"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2018

22 Seiten, Note: 2,3

Nele de Fries (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Begriffe der Horrorerzählung und des Realismus

3. Kehlmanns Du hättest gehen sollen – Wenn Traum und Realität verschwimmen

4. Hebbels Eine Nacht im Jägerhause – Wie die Schatten der Dunkelheit den Geist verwirren

5. Die Reziprozität von Horror und Realismus – Wie vermeintliche Widersprüche in Einklang funktionieren

6. Über die Aktualität von Horror und Realismus

7. Fazit

„A glimpse into the world proves that horror is nothing other than reality.“

(Alfred Hitchcock, 1899 - 1980)

1. Einleitung

Das Genre des Horror ist zu jeder Zeit beliebt. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich weniger die Themen geändert, das Spiel mit den Urängsten des Menschen hat an seiner Aktualität nichts verloren. Es geht hier um das Wie des Erzählens, die Aufteilung des Textes, das Einsetzen des Schauermomentes. Die moderne Horrorerzählung besticht den Leser mehr durch subtile Psychoelemente, anders als der gewalttätige Grusel um die Epoche des Realismus. Diese Arbeit vergleicht zwei, die Moderne wie das 19. Jahrhundert vertretende, Werke und versucht anhand dieser Erzählungen herauszufiltern, ob die Veränderungen tatsächlich nach diesem Muster zu klassifizieren sind.

Das 19. Jahrhundert kann ohne Weiteres als der Höhepunkt der Horrorliteratur beschrieben werden. Es entstehen weltweit bekannte Werke, welche auch heute noch in vielen Bücherregalen gefunden werden können und sich großer Beliebtheit erfreuen. Neben Mary Shelleys Frankenstein oder Edgar Allan Poes Der Untergang des Hauses Usher ist auch der deutsche Sprachraum mit nicht weniger populären Veröffentlichungen gesegnet. Zu den bekanntesten Vertretern gehört nicht nur E.T.A. Hoffmann, der mit Geschichten wie Der Sandmann oder Die Geschichte vom verlornen Spiegelbilde auch heute noch vielen ein Begriff ist. Auch Friedrich Hebbel hat sich seinerzeit des Horrormotivs bedient und sich mit Eine Nacht im Jägerhause in diesem Genre verewigt. Diese Erzählung soll nun Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein. Bereits in früheren Gedichten hat Hebbel sich den düsteren Themen des Lebens, wie dem Tod, zugewandt. So beginnt er in An den Tod wie folgt: „Halb aus dem Schlummer erwacht,/ Den ich traumlos getrunken,/ Ach, wie war ich versunken/ In die unendliche Nacht!/ [...] Da beschlich' mich so bang,/ Ob auch, den Bruder verdrängend,/ Geist mir und Sinne verengend,/ Listig der Tod mich umschlang.“1 In diesem Auszug werden bereits Tendenzen deutlich, dass Hebbel es versteht, mit nur wenigen Worten einen schaurigen Grusel bei den Lesern auszulösen.

Um einen möglichst aktuellen Bezug herstellen zu können, erscheint Daniel Kehlmanns Du hättest gehen sollen (2016) als geeignet. Moderne Horrorerzählungen werden häufig eher damit in Verbindung gebracht, dass der Autor mit der Psyche des Lesers spielt und den Geist zu verwirren versucht, als dass Vampire oder andere Fabelfiguren ihr Unwesen treiben. Beispielhaft ist hier Stephen Kings Shining, hier ist der Protagonist seinen bis zum letztendlichen Tod führenden Wahnvorstellungen ausgeliefert. Auch Bret Easton Ellis emotionsloser wie selbstverliebter Psychokiller in seinem Roman American Psycho ist ein Paradebeispiel für die moderne Verarbeitung der Horrorthematik. Um einen umfassenden Einblick in die Historie der Horrorliteratur zu bekommen, wird im Folgenden die Entwicklung umrissen und der Begriff der Horrorerzählung wie auch des Realismus kurz erläutert. Auf Grundlage dieser Ausführungen soll erarbeitet werden, wie Daniel Kehlmann in der hier ausgesuchten Erzählung den Grusel bedient. Hierzu werden unterschiedliche Textmerkmale herausgefiltert, diese dann in Bezug zu Hebbels Kurzgeschichte gesetzt. Letztendlich gilt es zu eruieren, ob Horror und Realismus tatsächlich zusammenpassen können, da beide Begriffe sich zunächst eher stark voneinander abgrenzen. Dies soll Hauptgegenstand dieser Arbeit sein.

2. Die Begriffe der Horrorerzählung und des Realismus

Die Abgründe der moralischen Festigkeit wie der Fantasie, die Dunkelheit der Nacht und die Figuren aus Schatten haben die Menschen seit jeher angezogen. So ist es nicht verwunderlich, dass Schauergeschichten zum Vergnügen oder auch zur Bewältigung der Angst vor eben diesen auf Papier gebracht wurden und werden. Selbst die Digitalisierung unserer Zeit hat diesem keinen Abbruch getan, vielmehr werden die Geschehnisse in Filmen verarbeitet oder weiterhin in Druckform veröffentlicht. „Schematisch gesehen liegt der Horror zwischen den Polen des Sichtbaren und des Unsichtbaren“2, beschreibt Hans Richard Brittmacher die eigentliche Ambivalenz dieses Begriffs. Er unterscheidet hierbei in einer tabellarischen Aufstellung zwischen dem Sichtbaren, dem Sichtbar/ Unsichtbaren (näher Schatten, Suggestion, Ahnung, Illusion, Traum, etc.) und dem gänzlich Unsichtbaren.3 Diese Kurzbeschreibung erläutert in wenigen Worten, wie differenziert der Horror sich darstellt und beleuchtet, was dieses Genre derart attraktiv macht. Jeder Mensch befindet sich zwischen den drei genannten Polen und bildet, je nach persönlicher Vorstellungskraft oder auch Ausprägung von Ängsten, sein eigenes Bild von Horror. Auch kann gesagt werden, dass das Spiel mit der Furcht niemals unmodern wird, da es stets mit der Zeit geht. So erzählen sich die Menschen seit Jahrtausenden Gruselmärchen von bösen Geistern oder anderen heimtückischen Gestalten. In der Moderne kann dies ausgeweitet werden auf weltbeherrschende Maschinen oder Robotern, allerdings kommen die heimsuchenden, spukenden Kreaturen vergangener Zeit nie gänzlich aus der Mode. In Theorie der phantastischen Literatur von Uwe Durst findet sich zum Begriff der Horrorerzählung eine weitere Definition:

„Die phantastische Erzählung (von ihm [H. P. Lovecraft] verzugsweise als „Horrorerzählung“ (horror-tale) oder „unheimlich-übernatürliche Erzählung“ (weird tale) bezeichnet) sei „so alt wie das menschliche Denken und die menschliche Sprache.“ Die Anfänge des Genres lägen in vorgeschichtlicher Zeit, und biblische bzw. antike Texte rechnet er, wenngleich „die typische unheimlich-übernatürliche Erzählung des Hochliteratur […] ein Kind des 18. Jahrhunderts“ sei, ebenso zur phantastischen Literatur, wie Werke des Mittelalters und der Neuzeit, denn die phantastische Literatur „hat es immer gegeben und es wird sie immer geben […].“4

Hiernach bestätigt sich die vorangegangene Ausführung und es wird gleichsam die Aktualität dieser Arbeit gerechtfertigt. Da hier sowie im Folgenden immer wieder von Erzählung gesprochen wird, soll an dieser Stelle noch einmal versucht werden, diesen Terminus zu umreißen. Da die Erzählung an sich nicht genau definiert ist und ein Versuch hierzu die Länge dieser Arbeit übersteigen würde, wird sie der Einfachheit halber „als Gattung schwer definierbare, gering ausgeprägte, bereits durch Reihung von tatsächlichen oder erfundenen Geschehnissen entstehende epische Kurzform“5 betrachtet. Es wird als sinnvoll erachtet, der Vollständigkeit halber auch auf Einführung in die Erzähltextanalyse zu verweisen, hier ist die Erzählung „im Allgemeinen jeder schriftlich oder mündlich mitgeteilte erzählende Text; […]. In der Erzählung erscheinen die Ereignisse und Geschehnisse der logisch zugrunde liegenden Geschichte in derjenigen zeitlichen Anordnung, wie sie dem narrativen Adressaten mitgeteilt werden.“6 Da nun Horrorerzählungen möglicherweise eine andere Erzählreihenfolge aufweisen könnten, ist diese Definition für die weiteren Ausführungen dieser Arbeit im Hinterkopf zu behalten.

Des Weiteren soll in diesem Kapitel die Begrifflichkeit des Realismus erläutert werden. Eine umfassende Bestimmung des Begriffs, welcher hier weniger als Epochenbeschreibung und mehr als literarischer Terminus zu betrachten ist, bietet hier das Lehrbuch Germanistik:

„Hält man sich an den engeren Ableitungszusammenhang (Realismus - realistisch), so bedeutet „Realismus“ in erster Linie das, was der Wirklichkeit entspricht, ihr nahesteht und somit lebensecht wirkt. Ein solcher Wortgebrauch setzt also voraus, dass es so etwas gibt wie Leben, Wirklichkeit oder gesellschaftliche Entwicklungsstufe; und er unterstellt die Möglichkeit, dass man dieser objektiv existierenden, jedenfalls nicht gerade erst individuell hergestellten Außenwelt mit einer subjektiven, also vom Subjekt ausgehenden Handlung, mit einer Abbildung, Darstellung, Einschätzung, Prognose, einem Entwurf oder Plan, mehr oder weniger nahe kommt. Das In-Frage-Stellen sowohl des objektiv Gegebenen als auch des subjektiv Veranstalteten gehört eigentlich nicht ins übliche, alltägliche „Sprachspiel“ mit der Wortfigur „Realismus“, bildet aber eine Hauptbeschäftigung aller Reflexionen über Realismus.“7

Zusammenfassend zeichnet sich der Realismus also durch seine objektive Sicht und Beschreibung aus, hier kann nun die Krux zwischen Horrorerzählung und Realismus erkannt werden. Wie an vorangegangener Stelle erläutert, zeichnet sich der Horror durch seine phantastischen, also eher realitätsfernen, Elemente aus, wobei der Realismus hier nahezu das Gegenteil abbildet. Dennoch scheint sich beides nicht voneinander auszuschließen, dies soll Gegenstand dieser Arbeit sein. Wie einführend bereits geschildert, sollen zwei Vertreter des älteren und modernen Realismus dieses Zusammenspiel greifbar machen. Da als aktueller Autor Daniel Kehlmann gewählt wurde und dieser sich selbst in den „gebrochenen“ Realismus einordnet, ist es naheliegend, ihn selbst definieren zu lassen: „Ich meine eine Prosa, die vorgibt, realistisch zu sein, aber unauffällige Brüche in die scheinbar zuverlässig wiedergebende Wirklichkeit einfügt […].“8 Hier sind bereits zur Horrorerzählung verbindende Tendenzen zu erkennen, da das Reale nicht unbedingt auch das Tatsächliche ist. Auf Grundlage dieses Kapitels kann nun eine Betrachtung von Kehlmanns Du hättest gehen sollen angestrengt werden, darauf aufbauend wird dann Hebbels Eine Nacht im Jägerhause folgen.

3. Kehlmanns Du hättest gehen sollen – Wenn Traum und Realität verschwimmen

In diesem Kapitel wird die Erzählung Du hättest gehen sollen von Daniel Kehlmann zunächst in wenigen Worten zusammengefasst, danach wird eine Wortfeldanalyse angestrengt, diese bildet hinsichtlich des weiteren Verlaufs dieser Arbeit die Basis für einen Vergleich mit dem Werk Hebbels.

Kehlmanns Erzählung „Du hättest gehen sollen“ beschreibt den Urlaubsausflug einer jungen Familie mit der vierjährigen Tochter in eine abgelegene Berghütte. Der Mann arbeitet als Drehbuchautor und nutzt die freie Zeit, um an einem seiner Skripte zu schreiben. Seine Frau Susanna, studierte Germanistin und Philologin, beschäftigt sich währenddessen mit dem Kind. Die Ehe läuft in dieser Zeit nicht besonders harmonisch ab, immer wieder gibt es Streitereien. Während eines Einkaufs im Dorf erfährt der Protagonist, es solle in dem Ferienhaus nicht mit rechten Dingen zugehen. Er sucht den Kontakt zu dem Vermieter, stößt dabei auf erotisch anmutende Nachrichten eines vermeintlichen Liebhabers seiner Frau auf ihrem Telefon. Ab diesem Zeitpunkt wird der Ehemann immer wieder auf scheinbar übernatürliche Vorkommnisse aufmerksam, so bildet ein Fenster beispielsweise sein Spiegelbild nicht ab, im nächsten Moment ist es wieder zu sehen. In einer späteren Szene in seine Frau mit dem Wagen weggefahren und der Mann wandert, getrieben von Verwirrung und durch die Phänomene verunsichert, mit seiner Tochter in das Dorf. An einem Haus angekommen bemerkt er, dass es sich um die gemietete Hütte handelt. Letztendlich sieht der Protagonist sich in einem Labyrinth gefangen, aus dem zumindest er selbst nicht entkommen kann. Als seine Frau zurückkehrt, weist er diese und die gemeinsame Tochter an, den womöglich verfluchten Ort zu verlassen. Die Erzählung endet unaufgelöst.

Zunächst wird nun die Verwendung von Adjektiven betrachtet, diese bilden außerdem den Grundstein der unheimlichen Atmosphäre. Hinzu kommen Natur- und Umgebungsbeschreibungen, der Zusammenhang zwischen Wetter, Tageszeit und Gemütszustand, dann die Verirrungsthematik, das Triggern von Urängsten, der Wirklichkeitsverlust der Figuren, das Traummotiv und letztendlich die Rolle der Frau. Dieses Vorgehen wird auch auf die zweite Erzählung angewandt, so kann ein möglichst paralleler Vergleichsvorgang geschaffen werden.

Da die Erzählung aus zwei unterschiedlichen Handlungssträngen besteht, wird der besseren Vergleichbarkeit halber auf die Sequenzen aus dem Skript des Protagonisten verzichtet. Im Laufe des Textes werden diese immer wieder eingeschoben, haben für die Gesamthandlung allerdings nur eine minimale Bedeutung.

Auch wenn Kehlmanns Werk sich selbst als kurze Erzählung sieht, so wird es auf den ersten Seiten doch deutlich, dass es sich hier nicht um die bloße Beschreibung eines Familienurlaubs handelt. Bereits der Titel wirkt undurchsichtig und der Leser ist geneigt herauszufinden, was hinter „Du hättest gehen sollen“ verborgen ist. Anfangs befinden sich Mutter, Vater und Kind auf dem Weg zur Miethütte, bereits hier wählt Kehlmann gewaltige Worte: „[...] eine furchtbare Fahrt übrigens. Diese Straße ist steil, ohne Seitenabsperrung, und Susanna fährt verheerend.“9. Die nicht besonders verheißungsvolle Atmosphäre verstärkt sich, als der Protagonist das Lachen seiner Frau beschreibt: „So gekünstelt wirkte es, dass mir Gänsehaut über den Rücken lief“10. Bereits in diesen Anfangsszene wird deutlich, dass der Protagonist kein allzu liebevolles Verhältnis zu seiner Frau pflegt und der Leser bereitet sich auf etwaige kommende Konflikte zwischen dem Paar vor. Die Beklemmung zeichnet sich jedoch auch durch die immer wiederkehrende Verwendung des Imperatives „Geh weg“11 aus. Der Protagonist wird an stets wechselnden Stellen zum Verlassen des Ortes aufgefordert, dies mit steigender Dringlichkeit („Geh weg, solang [...]12 “, „Geht schnell weg“, „Schnell, sagte sie. Schnell, geht weg.“13, „Du hättest gehen sollen. Jetzt ist es zu spät.“14 ). Mit der Emphase dieser Forderung häuft sich auch die Verwendung schauerlicher Worte. Es beginnt mit „Gerade ist etwas Seltsames passiert.“15, der Protagonist dann „starr vor Schreck zwei Gespenstern nachsah“16 und ihm letztendlich „nach zwei weiteren Kurven war [...], als wäre die Welt ausgelöscht“17. Der sich mit jeder Seite intensivierende Horror, welchen der Protagonist erlebt, ist also im engen Zusammenhang mit der Wortwahl zu sehen, weniger mit den Geschehnissen. Düstere Adjektive erzeugen ein Gefühl der Furcht und Bedrohung, so auch in den Natur- und Umgebungsbeschreibungen. Es ist Winterzeit in den Bergen und der Protagonist leidet während des Urlaubs häufiger unter Albträumen und Schlafwandeln: „Dann riss ich die Haustür auf und war draußen in der Kälte. Ich spürte das Gras unter meinen nackten Füßen, und so stark schmerzte der Wind auf meinem Gesicht, dass ich davon aufwachte.“18.

Doch nicht nur in der Nacht geschehen dem Protagonisten merkwürdige Dinge. Somit scheint weniger die Umgebung oder Tageszeit für das Verlieren seines Verstandes ausschlaggebend zu sein, es ist mehr die Hütte selbst: „Auf dem Weg ins Schlafzimmer verirrten wir uns kurz, weil wir das Haus noch nicht kannten.“19. Anfangs wird die Veränderung der Raumanordnung noch der Erschöpfung und Müdigkeit der Personen geschuldet, allerdings nehmen die Verirrungen innerhalb des Gebäudes zu: „Merkwürdigerweise verirrte ich mich schon wieder, der Korridor kam mir mit einem Mal länger vor“20. Im Laufe dieser Geschehnisse findet zudem ein Wirklichkeitsverlust statt, dieser geht einher mit dem Triggern der menschlichen Urängste. Hierzu zählen beispielsweise der Tod, jedoch auch Gefangenschaft oder die eigene Ohnmacht, aus dem Kreis des eines Gruselkabinetts ähnelnden Hauses auszubrechen. Nach der Betrachtung des Themenfeldes Wirklichkeitsverlust ist festzustellen, dass dies einen der Hauptpunkte bildet. In mehreren Sequenzen ist nicht eindeutig, ob der Protagonist sich im Traum oder in der Realität befindet, immer wieder versucht er, die Dinge logisch zu erklären: „Es passiert wieder. Es muss eine optische Täuschung sein. Aber sie dauert an. Ich sehe es. Und ich sehe es immer noch.“21. Bezeichnend ist auch die Methode des Schreibens, um sich Klarheit zu verschaffen: „Schreib es auf, damit du dich erinnerst, damit du niemals behaupten kannst, es wäre bloß Einbildung gewesen. Aber schon während ich das schreibe, denke ich, dass es Einbildung gewesen sein muss.“22. Immer weiter verstrickt der Protagonist sich in Wahnvorstellungen: „Als ich nach dem Wasserhahn griff, war er- wie soll ich das beschreiben? Er war weiter hinten, als er hätte sein sollen.“23. Auch der Leser selbst kann sich nicht sicher sein, ob die Dinge sich tatsächlich ändern oder es der Geist des Mannes ist: „Da begann ich zu schreien. Ich meinte jedenfalls, dass ich schrie, aber nach und nach kam mir der Verdacht, dass meine Stimme bloß ein Krächzen war.“24. Immer wieder wird das geschriebene Wort in den Vordergrund gerückt, dies scheint dem Protagonisten als letzte Verbindung zur Unterscheidung von Realität und Wahn: „Ich erinnere mich daran, aufgeschrieben zu haben, dass im ganzen Haus kein Bild hängt“25. Nachdem auch seine schriftlichen Aufzeichnungen keine verlässliche Quelle mehr darstellen, verstrickt er sich vollends in die immer realer werdende Parallelwelt: „Auf dem ersten Kanal liefen Nachrichten […], auf dem dritten war die Frau mit den schmalen Augen zu sehen. Ihr Gesicht füllte den Schirm. Ich schaltete ab. Mir war eiskalt, der Raum schien sich langsam zu drehen.“26. Bevor an dieser Stelle nun die Urängste thematisiert werden sollen, ist es angebracht, noch einmal die vorangegangenen Erkenntnisse zusammenzufassen. Der Protagonist unterliegt seinen Wahnvorstellungen, diese treiben ihn in eine tiefe Unsicherheit und das Vertrauen in sich selbst nimmt weiter ab. So gestaltet er selbst eine Angriffsfläche und Ängste können sich manifestieren. Bereits zu Beginn der Erzählung verliert die Hauptperson die Kontrolle über seinen Körper: „Ich zitterte, das Atmen fiel mir schwer, meine Augen tränten, meine Beine wurden weich.“27. Die körperlichen Beschwerden gehen nun mit den seelischen einher: „Aber nein, die Angst war so real, wie Angst nur sein kann“28 und die Furcht vor dem Tod nimmt eine elementare Rolle ein: „während die Flammen dich fressen“29, „aber schon war ich zu lange abgelenkt gewesen, und der Abgrund kam so nahe, dass ich aufschrie“30. Gefangen in der Spirale zwischen Realität und Horrorvorstellungen, gepaart mit Ängsten, ist der Protagonist nicht einmal im Traum frei von Gräueln. Zunächst beschreibt er: „Ich begreife nicht, wieso ich nach so einem Abend einen solchen Traum hatte.“31, dann nimmt der stets wiederkehrende Traum seinen Lauf:

[...]


1 Philipp Witkop: Von Novalis bis Nietzsche. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH. 1921, S.190

2 Hans Richard Brittmacher: Phantastik: Ein interdisziplinäres Handbuch. Hg. Hans Richard Brittmacher, Markus May. Stuttgart/Weimar 2013, S. 526

3 Ebd. S. 526

4 Uwe Durst: Theorie der phantastischen Literatur. Berlin 2010, S. 29/30

5 Otto Ferdinand Best: Handbuch literarischer Fachbegriffe. Definitionen und Beispiele. Frankfurt am Main 1994, S. 160

6 Silke Lahn: Einführung in die Erzähltextanalyse. Stuttgart/Weimar 2013, S. 281/282

7 Hugo Aust: Realismus: Lehrbuch Germanistik. Stuttgart/Weimar 2006, S. 1

8 Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt. Hg. Wolfgang Pütz. Oldenburg 2008, S. 119

9 Daniel Kehlmann: Du hättest gehen sollen. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 8

10 Ebd. S. 11

11 Ebd. S. 17

12 Ebd. S. 12

13 Ebd. S. 32

14 Ebd. S. 61

15 Ebd. S. 15

16 Ebd. S. 80

17 Ebd. S. 82

18 Ebd. S. 43

19 Ebd. S. 13

20 Ebd. S. 20

21 Ebd. S. 34 ff.

22 Ebd. S. 35

23 Ebd. S. 39

24 Ebd. S. 52

25 Ebd. S. 63

26 Ebd. S. 70

27 Ebd. S. 24

28 Ebd. S. 24

29 Ebd. S. 26

30 Ebd. S. 27

31 Ebd. S. 23

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Horrormotive des Realismus im Wandel der Jahrhunderte. Eine Analyse von Friedrich Hebbels "Eine Nacht im Jägerhause"
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel
Note
2,3
Autor
Jahr
2018
Seiten
22
Katalognummer
V428247
ISBN (eBook)
9783668720220
ISBN (Buch)
9783668720237
Dateigröße
560 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Horror, Realismus, Wandel, Motive, Zeit, Grusel, Wahnsinn, King, Hebbel, Eine Nacht im Jägerhaus
Arbeit zitieren
Nele de Fries (Autor:in), 2018, Horrormotive des Realismus im Wandel der Jahrhunderte. Eine Analyse von Friedrich Hebbels "Eine Nacht im Jägerhause", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/428247

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