Begegnung mit antiker Baukunst. Goethes Antikenrezeption in der "Italienischen Reise"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2017

26 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Voraussetzungen und Rahmungen der Rezeption antiker Baukunst

3. Goethes Begegnung mit antiker Baukunst in der Italienischen Reise
3.1 Die Dialektik von Rezeption und Imagination: Das Amphitheater in Verona
3.2 Die Begegnung mit dem antiken Genius: Der Minervatempel in Assisi
3.3 Das Verhältnis von Natur und (Bau-)Kunst: Das Aquädukt von Spoleto
3.4 Kunstgeschichte als ästhetisches Erkenntnismittel: Die Tempelruinen von Paestum
3.5 Der ästhetische Makel des Unvollendeten: Der Tempel von Segesta
3.6 Die Ästhetik des Verfalls: Die Tempelruinen von Akragas

4. Schlussbetrachtung

Literatur

1. Einleitung

Unter den deutschen Italienreisenden vor allem des 17. und 18. Jahrhunderts ist Johann Wolfgang Goethe wohl zweifelsohne der prominenteste Vertreter. Er folgte dem Vorbild der Italienfahrt seines Vaters und begann seine Reise Anfang September 1786 in Karlsbad und beendete sie Mitte Juni 1788 in Weimar. Italien war für den Dichter wie für seine Zeitgenossen nicht nur ein Sehnsuchtsort, sondern stellte als Ziel einer Bildungsreise auch einen Kultur- und Erfahrungsraum dar, der vielfältige Möglichkeiten zur Begegnung mit Neuem und Fremdem offerierte.[1] Speziell für Goethe bestand dieses Bildungspotential neben der Gelegenheit zur Vertiefung botanischer und geologischer Studien auch in der Möglichkeit, architektonische Überreste griechischer und römischer Kultur auf italienischem Boden zu besichtigen. Gerade diese nämlich müssen Goethes Interesse geweckt haben, denn immerhin wurzelt die Passion für Architektur bereits in seinen Kindesjahren.[2]

Seine Antikenerfahrungen – wie überhaupt seine Reiseerlebnisse – hat der Dichter fast 30 Jahre nach seiner Italienfahrt in der 1816/17 erstmals veröffentlichen Italienischen Reise autobiographisch verarbeitet, dokumentiert und konserviert. Dabei gilt es freilich im Blick zu behalten, dass das Reisewerk nicht unreflektiert als Dokumentation unmittelbarer und damit authentischer Antikenerfahrungen gelesen werden darf; es stellt wohl eher das Resultat einer retrospektiven Konstruktion von Reiseerfahrungen dar.[3] Für die Veröffentlichung nämlich redigierte Goethe die vorhandenen Zeugnisse seiner Reise – vorwiegend eigene Tagebuchaufzeichnungen und Briefe an Freunde –, strich allzu Persönliches und Alltägliches heraus und nahm teilweise inhaltliche Umstellungen vor.[4] Als spezifisch autobiographische Schrift ist die Italienische Reise daher Teil der Selbstdarstellung des Dichters. Sie ist ein Zeugnis der nachträglichen Selbstvergewisserung, in dem Goethe aus dem Abstand dreier Jahrzehnte über einen entscheidenden Wendepunkt seines Lebens und Schaffens reflektiert. Dies gilt umso mehr, als das Reisewerk – anders als diejenigen früherer Italienreisender – nicht dem aufklärerischen Ideal einer positivistischen, mit dem Anspruch größtmöglicher Objektivität verfassten und enzyklopädischen Reiseberichterstattung verpflichtet ist. Vielmehr synthetisiert Goethe Objektives mit Subjektivem, indem er die Beschreibung seiner Reisestationen ganz unverhohlen mit der Schilderung eigener Eindrücke amalgamiert. Damit steht weniger das Wahrgenommene als vielmehr der Wahrnehmende selbst im Zentrum der Reiseautobiographie.

Doch es ist gerade dieser Umstand, der das Reisewerk zu einem wertvollen Zeugnis für Goethes Antikenrezeption werden lässt. Es ist darum wenig verwunderlich, dass diese Beobachtung auch von bisherigen Forschungen nicht unbeachtet geblieben ist. Speziell zur Rezeption antiker Architektur liegen bereits Studien vor, die sich allerdings hauptsächlich mit des Dichters Aufenthalt bei den Tempelruinen von Paestum befassen. Woesler etwa hat schon am Ende der 1980er-Jahre in einem knappen Aufsatz wesentliche Momente von Goethes Rezeptionsweise der antiken Tempel eruiert.[5] In einem nur wenig später erschienenen Beitrag hat Adam Goethes Paestum-Besuch vor allem vor dem Hintergrund seiner Palladio-, Winckelmann- und Volkmann-Rezeption untersucht.[6] Boyle hingegen hat Widersprüchlichkeiten bei der Datierung des Paestum-Aufenthalts aufgedeckt und diese im Lichte des Konstruktionscharakters der Italienischen Reise zu explizieren versucht.[7]

Diese Studien werden flankiert von allgemeinen Untersuchungen zu Goethes Antikenrezeption. So liegen etwa Forschungen zum Niederschlag der Antikenerfahrung im literarischen Schaffen des Dichters vor.[8] Weitere Untersuchungen begreifen die Italienische Reise als einen autoreflexiven und metapoetischen Text, in dem Goethe sowohl explizit als auch implizit sein Kunst- und Architekturverständnis darlegt,[9] oder schlagen eine literaturhistorische Lesart vor, in der die Italienische Reise mit der Zentralstellung der Antike zur Kampfschrift gegen die Mittelalterbegeisterung der romantischen Bewegung erklärt wird.[10] Darüber hinaus liegen Studien zu einzelnen Aspekten vor, etwa zum Verhältnis zwischen Goethes Natur- und Kunst- bzw. Architekturbegriff in der Italienischen Reise [11] oder zur ganzheitlichen, dialektischen Form von Wahrnehmung bei der Beschauung von Kunstobjekten während der Italienreise.[12]

Vor dem Hintergrund dieser Forschungslage verfolgt die vorliegende Arbeit das Ziel, Goethes Antikenrezeption exemplarisch für den Bereich seiner Begegnung mit griechischer und römischer Baukunst zu untersuchen. Hierbei steht einerseits die Frage im Zentrum, welche Rezeptionsmomente und -modi seine Begegnung mit antiken Baudenkmälern charakterisieren. Andererseits wird es um die Beantwortung der Frage gehen, welcher Gewinn von der Begegnung mit antiker Architektur im Hinblick auf den Bildungsaspekt der Italienreise ausgegangen ist. Der Untersuchungsschwerpunkt wird dabei weniger dem bereits hinlänglich untersuchten Besuch in Paestum als vielmehr den weiteren Begegnungsorten mit antiker Baukunst gelten. Zur Beantwortung der Untersuchungsfragen ist im zweiten Kapitel zunächst eine knappe Skizze derjenigen Aspekte nötig, die Goethes Wahrnehmung antiker Bauwerke rahmen und (vor-)prägen. Auf dieser Grundlage werden dann im dritten Kapitel die zentralen Begegnungsstätten Goethes mit antiker Baukunst zu untersuchen sein. Das vierte Kapitel liefert abschließend eine Zusammenfassung und ein Fazit.

2. Voraussetzungen und Rahmungen der Rezeption antiker Baukunst

Goethes Antikenrezeption und Architekturverständnis werden durch drei wesentliche Momente vorgeprägt. Dazu zählt erstens die Lektüre der während der Italienreise stets mitgeführten Schrift I Quattro Libri dell’Architettura („Die vier Bücher zur Architektur“, 1570) des italienischen Renaissancebaumeisters und Architekturtheoretikers Andrea Palladio (1508-1580). Dieser erneuerte die Architekturlehre des antiken Baumeisters Vitruv und schuf damit die Grundlage für eine Baupraxis, die sich ganz in der Manier der Renaissance eines antikisierenden Formenrepertoires bediente und in der klare und strenge Formen dominierten.[13] In architekturhistorischer Hinsicht fungierte die Architekturkonzeption des Italieners nicht nur als maßgeblicher Wegbereiter des Palladianismus, sondern wirkte auch stilbildend für den aus ihm hervorgegangenen Klassizismus.

Goethe äußert sich in der Italienischen Reise an mehreren Stellen zumeist bewundernd über das theoretische wie architektonische Werk Palladios, über dessen Persönlichkeit und Künstlertum.[14] Es nimmt daher nicht wunder, dass die Palladio-Rezeption denn auch sein Architekturverständnis beeinflusste. Durch die Lektüre eignete sich der Reisende zentrale Postulate des palladianischen Architekturprogramms an, darunter die Lehre von der Ausgewogenheit der Proportionen sowie diejenige der Harmonie von Funktionalität und Ästhetik, und eignete sich diese als normative Kriterien für die Beurteilung von Bauwerken an. Dieser Rezeptionsprozess wurde noch dadurch begünstigt, dass Palladios Schrift zahlreiche Holzschnitte enthielt, an denen sich die abstrakte Architekturtheorie praktisch und visuell nachvollziehen ließ.

Hinzu kommt ein zweiter Aspekt. Antikisierende architektonische Formen waren Goethe vor Beginn der Italienreise nämlich keineswegs völlig unvertraut, denn er begegnete diesen bereits in Gestalt frühklassizistischer Bauten. So besuchte er mehrfach – erstmals im Dezember 1776 – die Stadt Wörlitz im Fürstentum Anhalt-Dessau. Dort bewunderte er unter anderem den Park und das Schloss, das 1773 im frühklassizistischen Stil unter der Leitung Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorffs (1736-1800) fertiggestellt wurde, eines der bedeutendsten Architekten des deutschen Palladianismus.[15] Die Bewunderung klassizistischer Baukunst in Wörlitz war allerdings mehr als eine bloße Begegnung mit zeitgenössischer Architektur, denn gleichzeitig kam Goethe mit der Antike mittelbar in Kontakt – zwar nicht im Sinne einer Beschauung originärer antiker Baukunst, so doch immerhin im Sinne einer ersten Bekanntschaft mit antikisierenden Architekturformen.

Schließlich ist noch auf eine dritte Einflussgröße auf Goethes Antikenrezeption hinzuweisen. Während der Italienreise führte der Reisende neben der Schrift Palladios auch den damals ausgesprochen populären Italien-Reiseführer Johann Jacob Volkmanns (1732-1803) mit sich, die Historisch-kritischen Nachrichten von Italien (1770/71, zweite Auflage 1777/78). Darin pries der Autor besonders die Schönheit der griechischen Tempelanlagen in Italien an. Der „gute und so brauchbare Volkmann“ (IR 332) diente Goethe denn auch als Wegweiser zu den Höhepunkten antiker Kunst in Italien.[16] Noch entscheidender ist jedoch, dass Volkmann seinen Reiseführer ganz im Geiste der Geschichte der Kunst des Altertums (1764) des Archäologen und Kunsthistorikers Johann Joachim Winckelmann (1717-1768) schrieb. Diesem war Volkmann 1758 in Rom begegnet, und er übernahm für seinen Reiseführer wohl auch aus Bewunderung für den Kunsthistoriker dessen Beschreibungen und Urteile über die antike Kunst, stellenweise sogar wörtlich.[17]

Die prägende Größe für Goethes Antikenrezeption war damit weniger Volkmann als vielmehr Winckelmann. Dessen Werk erwarb Goethe erst während der Reise, nämlich Anfang Dezember 1786.[18] Besonders eingehend hat er sich dabei wohl mit Winckelmanns Ausführungen zur griechischen Kunst beschäftigt. Dessen Bedeutung für die Entwicklung der Kunstgeschichte als Fachdisziplin ist kaum zu unterschätzen, schuf er doch die Grundlage für eine spezifisch historische Betrachtungsweise von Kunst. Mit dieser nun wurde Goethe durch die Lektüre der winckelmann’schen Schrift mehr und mehr vertraut: Ihm wurde expliziter als zuvor die Geschichtlichkeit jeglicher Kunst einsichtig, ebenso die kunstgeschichtliche Methode, die sowohl die Beschaffenheit als auch den ästhetischen Wert von Kunsterzeugnissen im geschichtlichen Zusammenhang zu erklären und zu beurteilen versucht.

3. Goethes Begegnung mit antiker Baukunst in der Italienischen Reise

3.1 Die Dialektik von Rezeption und Imagination: Das Amphitheater in Verona

Unter den Begegnungsstätten mit antiker Baukunst ist Goethes Aufenthalt in Verona am 16. September 1786 der in chronologischer Folge erste. Der Reisende besichtigt hier das wohl in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. erbaute römische Amphitheater. Sein Gesamteindruck vom Bauwerk ist höchst ambivalent. Ihm erscheint es „seltsam, etwas Großes und doch eigentlich nichts zu sehen.“ (IR 40) Goethe zeigt sich also zunächst einmal durchaus beeindruckt von der schieren Imposanz des Amphitheaters, ja er vollzieht dessen nachgerade kolossale Ausmaße gleichsam zu Fuß nach, indem er den Rand des Bauwerks abschreitet (IR 40). Nur wenig später lobt er den guten Zustand des Bauwerks und die Restaurationsmaßnahmen der Veroneser (IR 41). Vor allem aber würdigt er die „Simplizität des Oval“, die „jedem Auge auf die angenehmste Weise fühlbar […] sei.“ (IR 40)

Dass Goethe an dieser Stelle gerade das Ideal der Schlichtheit und der Klarheit der architektonischen Formen als Urteilskriterium für die Ästhetizität des Amphitheaters heranzieht, ist im Wesentlichen das Resultat zweier Aneignungsprozesse. Zum einen hat er dieses Ideal wohl aus der Lektüre palladianischer Schriften gewonnen, denn schon der italienische Baumeister postulierte und praktizierte die Schlichtheit als grundlegendes Bauprinzip.[19] Zum anderen aber erkennt Goethe in der „Simplizität“ der Theateranlage einen Kontrapunkt zu den als unästhetisch wahrgenommenen üppigen Stilformen der gotischen Architektur. Denn im Gegensatz zur Gotik verkörpert sich für ihn im Amphitheater eine Architekturkonzeption, die der Qualität des Ganzen den Vorzug gegenüber der bloßen Quantität der einzelnen Bauelemente gibt. So sieht er sich später beim Besuch einer antiken Kunstsammlung in Venedig zu folgender Bemerkung veranlasst:

Das ist freilich etwas anderes als unsere kauzenden, auf Kragsteinlein übereinander geschichteten Heiligen der gotischen Zierweisen, etwas anderes als unsere Tabakspfeifensäulen, spitze Türmlein und Blumenzacken; diese bin ich nun, Gott sei Dank, auf ewig los! (IR 88)

Goethe wertet hiermit das Antike gegenüber dem Mittelalterlichen kategorisch auf. Er grenzt die heimatlichen Sehgewohnheiten vom Anblick antiker Kulturerzeugnisse ab und opponiert die vorwiegend mittelalterlich geprägte deutsche gegen die stärker durch die Antike geprägte italienische Kultur. In der Wertschätzung antiker im Gegensatz zu mittelalterlicher Baukunst deutet sich in Goethes Denken bereits der Aufstieg antikisierender Literaturformen zur stilgebenden Kunstnorm der Klassik an, ebenso wie sich in der Abwertung des Mittelalterlichen die spätere Opposition von klassischem und romantischen Kunst- und Literaturverständnis abzeichnet. Die lobenden Worte über das Amphitheater sind daher auch als Konsequenz dieses dualistischen Denkens zu erklären: Angesichts der nur allzu bekannten Üppigkeit der gotischen Architektur muss dem Reisenden die schlichte und einfache Bauweise des Amphitheaters umso mehr gefallen.[20]

Doch trotz der durchaus positiven Wahrnehmungsmomente bleibt Goethe die vollständige ästhetische Wirkkraft des Amphitheaters verborgen. Er versucht sich daher das Ausbleiben des Eindrucks uneingeschränkter Begeisterung für das Bauwerk zu erklären und wechselt damit von einem bloß deskriptiven zu einem reflektierenden Rezeptionsmodus. Den Grund für die fehlende Faszinationskraft sieht Goethe darin, dass die vollkommene ästhetische Durchdringung des Amphitheaters nur in der Vergangenheit möglich gewesen ist. Für den heutigen Betrachter hingegen ist die Ästhetik des Bauwerks nicht mehr zur Gänze zu erfassen, denn „nur in der frühesten Zeit tat es seine ganze Wirkung […].“ (IR 40)

Dieser Wirkungsverlust hat seine Ursache darin, dass das Amphitheater im Laufe der Zeit seine ursprüngliche, vom Architekten intendierte Funktion verloren hat. Denn eben das Bauwerk, das zur Beherbergung eines möglichst großen Publikums erbaut wurde und das dereinst einen Anziehungspunkt für große Menschenmassen darstellte, erblickt Goethe nun in menschenleerem Zustand. In der Rezeptionsgegenwart des Reisenden stimmen Form und Funktion des Bauwerks also nicht mehr zusammen. Das „Volk“ (IR 40) ist nicht nur in pragmatischer Hinsicht der Nutznießer des Amphitheaters, sondern erfüllt für Goethe auch eine ästhetische Funktion für die Gesamtkomposition des Bauwerks, indem es dessen „Zierrat“ (IR 40) ist. Denn erst in der Synthese von Mensch und Bauwerk zu einem „edlen Körper“ (IR 40) offenbart sich dem Reisenden die ursprüngliche Größe des Amphitheaters. Daher sieht er auch in der Menschenmasse, ebenso im einzelnen Menschen, den geeigneten Maßstab für die Imposanz des Bauwerks, denn „jeder Kopf dient zum Maße, wie ungeheuer das Ganze sei.“ (IR 40 f.) In der Rezeptionssituation Goethes indes, angesichts des menschenleeren Amphitheaters, ist die ursprüngliche antike Imposanz in toto nicht mehr zu erfassen: „Jetzt, wenn man es leer sieht, hat man keinen Maßstab, man weiß nicht, ob es groß oder klein ist.“ (IR 41)

Die Wahrnehmungsdifferenz zwischen verlorener antiker Originalität und gegenwärtiger Rezipierbarkeit versucht Goethe durch die Imagination der Bauwerksentstehung zu überwinden. So stellt er sich etwa zum Schauspiel heranströmende Menschenmassen vor, imaginiert den zunächst behelfsmäßigen Bau einer Tribüne und schließlich die Errichtung des Amphitheaters (IR 40), ja er rekonstruiert die Bauwerksgenese aus den Bedürfnissen der römischen Bevölkerung.[21] Seine Wahrnehmung wird hierbei durch das Zusammenspiel von äußerem und innerem Auge bestimmt: Das äußere Auge erfasst rein empirisch und objektiv die Ausformungen des Bauwerks, und das innere Auge reichert das Wahrgenommene mittels der Imaginationskraft zum subjektiven Vorstellungsbild an.[22]

Die dialektische Verbindung von Rezeption und Imagination ermöglicht es Goethe, das gegenwärtig nur als Überrest existierende Amphitheater im antiken Originalzustand zu erfahren. Er versucht durch die Erweiterung der eigenen Rezeptionsgrenzen auf das Imaginierte vor seinem inneren Auge die Illusion einer vergangenen Zeit heraufzubeschwören, in der das Amphitheater noch seine ursprünglichen Funktionen erfüllt. In diesem Rezeptionsmodus verschmelzen die beiden Zeithorizonte der Vergangenheit und der Gegenwart. Bereits die Verwendung präsentischer Verben zeigt den Versuch Goethes an, die Erfahrung einer vergangenen und deswegen nicht ohne weiteres reproduzierbaren Ästhetik in die eigene Rezeptionsgegenwart zu transferieren – denn nur noch in der Imagination ist für ihn die ursprüngliche Einheit von Mensch und Bauwerk wiederhergestellt, „in eine Masse verbunden und befestigt, als eine Gestalt, von einem Geiste belebt.“ (IR 40)

3.2 Die Begegnung mit dem antiken Genius: Der Minervatempel in Assisi

Knapp anderthalb Monate nach dem Amphitheater von Verona besucht Goethe am 26. Oktober 1786 den Minervatempel in Assisi, einen römischen Bau aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. im korinthischen Stil, der ursprünglich als Herkulestempel errichtet wurde. Im Gegensatz zu der eher verhaltenen Reaktion auf das Amphitheater zeigt sich der Reisende vom Minervatempel bereits auf den ersten Blick ganz und gar begeistert: „An der Fassade konnte ich mich nicht satt sehen, wie genialisch konsequent auch hier der Künstler gehandelt.“ (IR 117) ‚Genialisch‘ ist der Tempel in Goethes Anschauung deshalb, weil sich hinter den vollendeten Proportionen des Bauwerks der Genius, die schöpferische Kraft des Architekten offenbart. So fügt sich denn die Anordnung der einzelnen Bauelemente zu einer – auch mathematisch – ausgewogenen und harmonischen Gesamtkomposition zusammen: „[D]er Sockel ist fünfmal durchschnitten, und jedesmal gehen fünf Stufen zwischen den Säulen hinauf […].“ (IR 117)

Indem Goethe die Harmonie des Ganzen mit seinen Teilen bewusst nachvollzieht, avanciert die Besichtigung des Minervatempels nicht nur zur sinnlichen, sondern auch zur intellektuellen Erfahrung. Unter rein ästhetischen Gesichtspunkten bietet die Tempelfassade einen „ruhige[n], liebliche[n] […] Anblick“ (IR 118), und in intellektueller Hinsicht wird das Bauwerk überdies zum Erkenntnisobjekt für die architektonischen Gesetzmäßigkeiten, die die Ästhetizität des Tempels konstituieren. So bemerkt Goethe etwa, dass der Tempel im Verhältnis zum davorliegenden Platz leicht versetzt sei. Dies stellt für ihn allerdings keineswegs einen ästhetischen Makel dar, denn er durchschaut sogleich die praktische Notwendigkeit dieser Bauweise: „[D]a der Tempel am Berge liegt, so hätte die Treppe, die zu ihm hinaufführte, viel zu weit vorgelegt werden müssen und würde den Platz verengt haben.“ (IR 117 f.) Goethe versucht an dieser Stelle die konzeptionellen Überlegungen und Absichten des Architekten nachzuvollziehen und zu rekonstruieren, um den Gesetzen der als vollkommen erlebten Proportionen nachzuspüren.[23] Damit überwindet er zugleich die ausschließliche Gefühlsästhetik der Sturm-und-Drang-Zeit: Er ergründet den Genius des Baumeisters nicht mehr nur durch ein unbestimmtes Fühlen und Ahnen, sondern komplettiert dieses durch die Ratio als Wahrnehmungs- und Erkenntnisinstanz.

Das Vollkommene des Minervatempels besteht für Goethe allerdings nicht nur in der Sinne und Verstand gleichermaßen ansprechenden Ästhetik, sondern auch in der „glückliche[n] Stellung“ des Bauwerks (IR 117). Die ästhetische Qualität des Tempels zeigt sich daher auch erst im Zusammenhang mit dessen natürlicher Umgebung, denn das Bauwerk steht „auf der schönen mittlern Höhe des Berges, wo eben zwei Hügel zusammentreffen […].“ (IR 117) Die Antinomie von Natur und Kunst bzw. Architektur ist somit im Anblick des Bauwerks aufgehoben und zu einem harmonierenden Ganzen zusammengeführt.

Indes urteilt Goethe über die infrastrukturelle Einbettung des Tempels innerhalb der Stadt nicht ausnahmslos positiv. Zwar ist das Bauwerk im Verhältnis zum davorliegenden Platz „gar schön sichtbar“ (IR 117), jedoch blockieren nachantike Gebäude den Ausblick auf die Natur: „Denkt man sie [d.h. die Gebäude] weg, so blickte man gegen Mittag in die reichste Gegend, und zugleich würde Minervens Heiligtum von allen Seiten her gesehen.“ (IR 117) An dieser Stelle greift Goethe erneut auf seine Imaginationskraft zurück, hier angezeigt durch die Verwendung des Irrealis, um rezeptionstrübende Faktoren auszublenden und um so das eigene Rezeptionserleben noch zu intensivieren und zu idealisieren. An der Vollkommenheit des Bauwerks ändert sich in der Anschauung des Reisenden gleichwohl nichts, denn der Tempel ist immer noch „so vollkommen, so schön gedacht [], daß er überall glänzen würde.“ (IR 117) Nicht erst die landschaftliche Umgebung oder seine Stellung innerhalb der Stadt verleihen also dem Minervatempel seine ästhetische Ausdruckskraft; vielmehr scheint die Ästhetik dem Bauwerk immanent: Der Tempel ist für Goethe von sich aus bereits vollkommen, d.h. es bedarf keiner weiteren äußeren Wahrnehmungsreize, um dessen uneingeschränkte Ästhetik erfahren zu können.

Auf den Minervatempel aufmerksam geworden ist Goethe einerseits durch dessen Erwähnung im mitgeführten Reiseführer Volkmanns und andererseits durch eine Abbildung in der Schrift Palladios. Die Vorprägung der Architektur- und Antikenrezeption wird hier unmissverständlich deutlich: Noch bevor Goethe den Tempel gesehen hat, nimmt er die Beschreibung Volkmanns und die Abbildung Palladios als Beurteilungsgrundlage, um das Bauwerk als einen „köstliche[n] Tempel“ (IR 116) zu loben. Die geweckten Erwartungen werden indes durch den Anblick des antiken Originals nicht nur erfüllt, sondern gar noch übertroffen. So würdigt der Reisende den Tempel als das „löblichste Werk“ (IR 117) und drückt damit schon allein sprachlich, durch den Gebrauch der Superlativform, die schiere Überwältigung bei der Erstrezeption des Bauwerks aus. Dabei erkennt er, dass die zeichnerische Wiedergabe des Minervatempels bei Palladio geradezu dilettantisch ist, und er folgert daraus: „[E]r [d.h. Palladio] kann ihn [den Tempel] [] nicht selbst gesehen haben […].“ (IR 118) Goethes überschwänglich-euphorische Reaktion auf das Bauwerk ist daher nicht nur ein Ausdruck höchsten ästhetischen Sehvergnügens, sondern ist auch als Konsequenz aus seiner an Palladio gewonnenen Erwartungshaltung zu erklären. Denn gegenüber dessen Abbild des Tempels, das auf Goethe wie ein „garstiges palmyrisches Ungeheuer“ (IR 118) wirkt, muss das Original umso strahlender erscheinen.[24]

So nimmt es denn auch nicht wunder, dass der kurze Aufenthalt in Assisi auf Goethe höchst nachhaltig gewirkt hat: „Was sich durch die Beschauung dieses Werks in mir entwickelt, ist nicht auszusprechen und wird ewige Früchte bringen.“ (IR 118) Wo also die Sprache als adäquates Beschreibungsinstrument für die fulminante Wirkung des Tempels versagt, da erwägt Goethe auf die bildliche Darstellung zurückzugreifen. So beabsichtigt er etwa, sich eine genaue Grundrisszeichnung des Tempels zukommen zu lassen (vgl. IR 118). Weniger in der Sprache, sondern vielmehr in der möglichst exakten visuellen Darstellung, so glaubt er, lasse sich die vollendete Ästhetik des Tempels dauerhaft konservieren und die bewegende Erfahrung des ‚Genialischen‘ wiederholen.[25]

3.3 Das Verhältnis von Natur und (Bau-)Kunst: Das Aquädukt von Spoleto

Nur einen Tag nach der eindrücklichen Besichtigung des Minervatempels, am 27. Oktober 1786, besucht Goethe die südlich von Perugia und nördlich von Rom gelegene Kleinstadt Spoleto, um unter anderem das dortige Aquädukt zu besichtigen. Diese Begegnung stellt innerhalb von der Rezeption antiker Baudenkmäler einen Sonderfall dar: Wie andere Italienreisende vor ihm hielt auch Goethe das Aquädukt für ein römisches, in Wahrheit aber handelt es sich um ein mittelalterliches Bauwerk, das nach römischem Vorbild errichtet wurde.[26] Dennoch ist der Aufenthalt in Spoleto nicht vorschnell als belanglos abzutun, denn der Reisende formuliert anlässlich der Besichtigung des Aquädukts einige durchaus zentrale Gedanken über sein Architekturverständnis.

Ebenso wie in den beiden zuvor besichtigten Bauwerken spürt Goethe auch im Aquädukt eine besondere ästhetische Ausdruckskraft: „Das ist nun das dritte Werk der Alten, das ich sehe, und immer derselbe große Sinn.“ (IR 121 f.) Der „große Sinn“ liegt jedoch nicht nur in der äußeren Schönheit der antiken Bauwerke, sondern vor allem auch in deren ideellem Gehalt. Denn Goethe rezipiert die Bauten auch als baupraktische Verwirklichungen höherer Ideen, als Manifestationsformen abstrakter ästhetischer Prinzipien. Dementsprechend erkennt er im Amphitheater das Ideal der Schlichtheit umgesetzt, im vielgelobten Minervatempel dagegen die perfekte Harmonie des Ganzen mit seinen Teilen. Der hohe ästhetische Wert der Bauwerke bemisst sich für ihn somit in einer Transponierungsleistung der antiken Architekten: Mit ihren Bauten haben sie es geschafft, das rein Geistige in eine adäquate körperliche und sinnlich fassbare architektonische Form zu bringen. Dadurch werden die antiken Bauwerke für Goethe zugleich zu einem Träger- und Erkenntnismedium für überzeitlich gültige ästhetische Ideale.

Im Falle des Aquädukts besteht dieses Ideal im funktionalen Zusammenwirken aller Bauelemente. Denn trotz seines – vermeintlich – antiken Ursprungs transportiert das Aquädukt immer noch Wasser in die nahegelegene Stadt. Das Bauwerk ist also nicht zum bloßen Anschauungsobjekt für Schaulustige oder Bildungsreisende verkümmert wie etwa das Amphitheater. Vielmehr erfüllt es selbst in der Rezeptionsgegenwart Goethes noch seinen ursprünglichen Bestimmungszweck: „Die zehen Bogen […] stehen von Backsteinen ihre Jahrhunderte so ruhig da, und das Wasser quillt immer noch in Spoleto an allen Orten und Enden.“ (IR 121) Jeder einzelne der zehn Brückenbögen, ja jedes Bauelement ist für die Funktionalität des Aquädukts gleichermaßen unabdingbar, weil durch das Fehlen auch nur eines einzelnen der Wassertransport nicht mehr länger möglich wäre. Aus dem gleichen Grund wird sich Goethe später auch lobend über ein in Rom besichtigtes Aquädukt aussprechen: „Der schöne, große Zweck, ein Volk zu tränken durch eine so ungeheure Anstalt!“ (IR 135)

In der Funktionseinheit der Bauelemente offenbart sich für Goethe das Natürliche des Aquädukts von Spoleto. So bemerkt er resümierend: „Eine zweite Natur, die zu bürgerlichen Zwecken handelt, das ist ihre Baukunst [d.i. die Baukunst der Alten], so steht das Amphitheater, der Tempel und der Aquadukt [sic!].“ (IR 122) Hiermit bestimmt er das Verhältnis zwischen Natur und Kunst bzw. Architektur auf zweifache Weise. Erstens ist die Natur die Vorbedingung für alles Menschengemachte. So ist denn die Beschaffenheit eines jeden Bauwerks nicht bloß ein reines Genieerzeugnis des Architekten, sondern immer auch das Produkt von in der Natur vorgefundenen Bedingungen;[27] daher fungiert auch das natürliche Terrain als Generalschlüssel für die Erkenntnis der Beschaffenheit und Ästhetik eines jeden Bauwerks. Dass etwa das Aquädukt gerade aus zehn Brückenbögen besteht, ergibt sich auch aus dem Abstand jener beiden Hügel, die das Bauwerk miteinander verbindet, ebenso wie die Höhe des Aquädukts in Relation zur Höhe der Berge steht.[28]

Zweitens müssen Natur und Kunst zugleich strukturäquivalent sein, wie schließlich schon die Bezeichnung der Architektur als „zweite Natur“ suggeriert.[29] Um natürlich zu sein, muss die Baukunst zur ästhetisierten Natur werden, d.h. die Architektur muss als Korrelat der Natur natürliche Kompositionsprinzipien so nachahmen, dass beide Systeme kongruieren.[30] Genauso wie in der Natur nach Goethes Anschauung nichts Willkürliches existiert, so muss auch die Architektur so beschaffen sein, dass alle Bauelemente zur Gesamtfunktion eines Bauwerks beitragen. Doch wiewohl sich auch die Form des Bauwerks aus der Natur ergeben muss, gilt dasselbe nicht für dessen Funktionalität. Diese nämlich kann sich laut Goethe nur aus „bürgerlichen Zwecken“ ergeben, also aus zivilisatorischen Erfordernissen wie dem Bedürfnis nach Schauspiel, Religiosität oder stabiler Wasserversorgung.

Die strukturelle Kongruenz von Natur und Kunst konkretisiert sich für Goethe überdies auch bei der kurzen Besichtigung der Ruinen eines Amphitheaters bei Taormina an der Ostküste Siziliens am 7. Mai 1787. Das Bauwerk wurde in der Senke zwischen zwei einander angrenzenden Hügeln errichtet. Dadurch, dass das Halbrund des Theaters beide Hügel miteinander verbindet, stellt Goethe die Symbiose von Natur und Kunst her: „Was dies [d.i. die Landschaft] von Natur auch für eine Gestalt gehabt haben mag, die Kunst hat nachgeholfen und daraus den amphitheatralischen Halbzirkel für Zuschauer gebildet […].“ (IR 296) Damit wird der Stellenwert der Kunst als der eines Korrektivs der Natur bestimmt: Erst durch den Eingriff der Kunst in die Natur erhält das Amphitheater die ihm eigene Funktion. Natur und Kunst stimmen im Bauwerk so sehr überein, dass Goethe nicht zu bestimmen vermag, ob es sich bei dem Bauwerk nun um ein Natur- oder Kunstwerk handele (vgl. IR 296).

Vor dem Hintergrund einer solchen Kunstauffassung ist es nur konsequent, wenn von Goethe eben auch die Ästhetik des Aquädukts von Spoleto als eine natürliche empfunden wird.[31] Als ganz und gar widernatürlich erscheint ihm hingegen der in diesem Zusammenhang erwähnte „Winterkasten auf dem Weißenberg“ (IR 122), womit wohl das um 1798 abgerissene barocke Jagdschloss Weißenstein bei Kassel gemeint ist: „Nun fühle ich erst, wie mir mit Recht alle Willkürlichkeiten verhaßt waren, wie z.B. der Winterkasten auf dem Weißenstein, ein Nichts um Nichts, ein ungeheurer Konfektaufsatz, und so mit tausend andern Dingen.“ (IR 122) Goethe erkennt hinter dem üppigen Formenbesatz des Jagdschlosses nicht die „wahre innere Existenz“ (IR 122), d.h. das Natürliche. Im Unterschied zu den bisher besichtigten antiken Bauwerken nämlich sind die einzelnen Bauelemente des Jagdschlosses lediglich schmückendes Dekor und leisten somit keinen Beitrag zur Gesamtfunktionalität des Bauwerks. In diesem Zusammenhang tritt der Bildungsaspekt von Goethes Italienreise ganz unverhüllt in den Vordergrund: Die Reise nämlich wird zur Gelegenheit einer ästhetischen Horizonterweiterung und die antiken Bauwerke zu Erkenntnismedien, an denen sich induktiv ein Begriff des Altertums gewinnen lässt.

3.4 Kunstgeschichte als ästhetisches Erkenntnismittel: Die Tempelruinen von Paestum

So sehr sich Goethe auch um die Entwicklung einer natürlichen Ästhetik anhand der antiken Baudenkmäler bemüht, so sehr scheint ihm dies zunächst nicht zu gelingen, als er Ende März 1787, etwa fünf Monate nach der Besichtigung des Minervatempels und des Aquädukts, drei Tempelruinen dorischen Stils in der südlich von Salerno gelegenen Ruinenstadt Paestum in Augenschein nimmt. Die Überreste des Hera-, Athene- und Poseidontempels sind ihm wohl dadurch bekannt geworden, dass sie seit ihrer Wiederentdeckung am Beginn der 1750er-Jahre zur frequentierten Reisestation im Rahmen der als Grand Tour bekannten Bildungsreise durch Teile von Mittel- und Südeuropa avanciert sind.[32]

Goethes Ersteindruck von den drei Tempelruinen unterscheidet sich wesentlich von seiner Reaktion auf die vordem besichtigten antiken Bauten, denn der Reisende zeigt sich zunächst wenig begeistert und schildert seine Eindrücke erstmals in unverhüllt negativer Konnotation. Die Tempel, wie überhaupt ihr dorischer Stil, erscheinen ihm als zu wuchtig, zu wenig grazil und zu roh, ja die einzelnen Bauelemente insbesondere der Säulen scheinen ihm konturlos und so grob gefertigt, dass er nur noch von „stumpfen, kegelförmigen, enggedrängten Säulenmassen“ spricht (IR 219). Die wohlabgewogenen Proportionen voriger antiker Bauwerke entdeckt Goethe in Paestum jedenfalls nicht. Stattdessen wirken die Tempelruinen auf ihn bloß „lästig“, gar „furchtbar“ (IR 219) und avancieren nachgerade zur Ausdrucksform für eine wenig entwickelte, ja barbarische Baukunst.[33] Damit entziehen sich die Tempel für Goethe zunächst einem sofortigen Zugriff auf ihre Schönheit, ja ihnen ist zumindest mit dem Maßstab zeitgenössischer Ideale nicht beizukommen.

Die Besichtigung der drei Tempelruinen in Paestum wird für den Reisenden daher zu einer Begegnung mit einer „völlig fremden Welt“ (IR 219). Als fremd erscheinen ihm die Tempelruinen vor allem wegen ihrer altersbedingt noch wenig elaborierten Bauweise. Sie wurden im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. im Zuge der griechischen Kolonisation der italienischen Halbinsel errichtet und zählen damit zu den ältesten antiken Bauten, denen Goethe während seiner Italienreise begegnet ist. So sind denn die Tempelruinen für ihn zunächst einmal Zeugnisse einer weit zurückliegenden Zeit, in der die architektonischen Möglichkeiten späterer Zeiten noch nicht zuhanden waren und in der folglich auch andere ästhetische Maßstäbe galten, die dem heutigen Betrachter fremd geworden sind.

Es sind jedoch nicht nur allein das Alter der Ruinen, sondern auch die eigenen Sehgewohnheiten, die die Paestum-Tempel als Kunsterzeugnisse einer archaischen Zeit erscheinen lassen: „Nun sind unsere Augen und durch sie unser ganzes inneres Wesen an schlankere Baukunst hinangetrieben und entschieden bestimmt […].“ (IR 219) Goethe mag hier einerseits die denkwürdige Besichtigung des Minervatempels im Sinn haben. Andererseits aber dürften ihm tempelartige Formen und imposante Säulenformationen schon vor dem Antritt der Italienreise alles andere als fremd gewesen sein. Denn vor dem Hintergrund seiner Vertrautheit mit dem antikisierenden Formenkanon des Palladianismus und des Klassizismus nimmt es nicht wunder, dass Goethe die Grazilität modernerer Baustile dem als grob und sperrig empfundenen dorischen Stil des authentischen antiken Materials vorzieht.[34]

Goethe versucht nun, sein Befremden beim Anblick der Tempelruinen rational zu erklären. Er geht damit von einem bloß passiven in einen aktiv-reflektierenden Rezeptionsmodus über.[35] Dadurch erst erkennt er, wenngleich auf den zweiten Blick, dass er wahre architektonische Meisterwerke vor sich sieht. Die Überwindung seines initialen Befremdens gelingt ihm wiederum durch die Überbrückung der Differenz zwischen der gegenwärtigen Rezipierbarkeit der Tempelruinen und deren unwiederbringlicher Erfahrbarkeit in ihrer Entstehungszeit. Dies erreicht Goethe diesmal aber nicht wie zuvor durch den Einsatz seiner Imaginationskraft, sondern durch die Performanz einer kunsthistorischen Reflexions- und Denkoperation:

Doch nahm ich mich bald zusammen, erinnerte mich der Kunstgeschichte, gedachte der Zeit, deren Geist solche Bauart gemäß fand, vergegenwärtigte mir den strengen Stil der Plastik, und in weniger als einer Stunde fühlte ich mich befreundet, ja ich pries den Genius, daß er mich diese so wohl erhaltenen Reste mit Augen sehen ließ […]. (IR 219 f.)

Goethes Rezeptionsweise antiker Architektur erfährt hier eine entscheidende Wendung. Er beurteilt die Ästhetik der Tempel nicht mehr länger rein morphologisch, d.h. anhand der sichtbaren architektonischen Formen, sondern (kunst-)historisch. Durch den Rekurs auf die Kunstgeschichte befreit er sich von den eigenen architekturästhetischen Vorprägungen und Normvorstellungen. Erst dieser Akt der Loslösung ermöglicht es ihm, die Tempelruinen nicht im Lichte des eigenen gegenwärtigen Kunstempfindens zu beurteilen, sondern, von diesem absehend, die Schönheit der Bauwerke sowohl an den architektonischen Möglichkeiten als auch am Kunstgeschmack ihrer Entstehungszeit zu messen.[36] Als geeigneter Maßstab für das vergangene Kunstempfinden dient ihm dabei der „strenge Stil“ der damaligen griechischen Kunst. Die kunsthistorische Kontextualisierung – der als fachspezifische Methode Winckelmann maßgeblich den Weg bereitet hat – wird für Goethe somit zu einem Instrument, das ihm den Nachvollzug und die Erkenntnis einer zeitgebundenen Ästhetik ermöglicht.[37] Denn erst durch den Abruf historischer Kenntnisse lernt der Reisende binnen nur einer Stunde jene Bauwerke einer fernen Kunstepoche wertzuschätzen, die anfangs doch so sehr den durch den Kunstgeschmack der eigenen Zeit geprägten ästhetischen Normen zuwiderliefen.[38]

Von der nunmehr freigelegten Schönheit der Paestum-Tempel ist Goethe so überwältigt, dass er dort den ganzen Tag verbringt.[39] Er wird dabei von dem Zeichner Christoph Heinrich Kniep (1755-1825) begleitet, den er nur kurz vor seinem Paestum-Besuch bei einem Aufenthalt in Neapel angetroffen hat. Kniep ist für Goethe nicht nur ein Reisebegleiter, sondern auch „ein sehr treuer Landschaftsmaler“ (IR 204). Als ein solcher fungiert er für den Reisenden als äußeres Auge, das die Schönheit der antiken Baudenkmäler für das innere Auge festhält.[40] So eben auch in Paestum:

Und so verbrachte ich den ganzen Tag, indessen Kniep nicht säumte, uns die genauesten Umrisse [der Tempelruinen] anzueignen. Wie froh war ich, von dieser Seite ganz unbesorgt zu sein und für die Erinnerung so sichere Merkzeichen zu gewinnen. (IR 220)

Knieps Zeichnungen der Tempelruinen ermöglichen Goethe, die letztlich doch glückliche Begegnung mit den Bauwerken nicht nur sprachlich in Form von Tagebuchnotizen zu konservieren, sondern darüber hinaus auch in visueller Form. Gleichwohl, so weiß Goethe, kann selbst die akkurateste Zeichnung nur eine blasse Ahnung von der wirklichen Schönheit der antiken Ruinen vermitteln. Denn nur durch das Durchmessen der Tempel, durch den aktiven Nachvollzug ihrer noch erkennbaren Proportionen, offenbaren die Bauwerke sich als großartige Zeugnisse griechischer Kulturgeschichte: „[N]ur wenn man sich um sie her, durch sie durch bewegt, teilt man ihnen das eigentliche Leben mit […].“ (IR 220) Gerade dieses durch den Rückgriff auf die Kunstgeschichte von Goethe erfahrene Leben hat den Reisenden wohl mit ebensolcher Nachhaltigkeit beeinflusst wie der Anblick des Minervatempels in Assisi. Nicht grundlos schließlich schreibt er späterhin über den Besuch in Paestum in einem Brief an Herder: „[E]s ist die letzte und, fast möcht‘ ich sagen, herrlichste Idee, die ich nun nordwärts vollständig mitnehme.“ (IR 323)[41]

3.5 Der ästhetische Makel des Unvollendeten: Der Tempel von Segesta

Nach dem wahrhaft denkwürdigen Aufenthalt bei den Tempelruinen von Paestum muss Goethe die Besichtigung des Hera-Tempels von Segesta im Nordwesten Siziliens gänzlich ernüchternd vorgekommen sein. Er besucht das Bauwerk – das wohl am Ende des 5. Jahrhunderts n. Chr. begonnen, aber niemals fertiggestellt wurde – am 20. April 1787, nur etwa einen Monat nach seinem Paestum-Besuch. Bereits im erwähnten Brief an Herder bemerkt er, dass die Paestum-Tempel „allem vorzuziehen [sind], was man noch in Sizilien sieht.“ (IR 323) In diesen Zeilen klingt implizit schon an, dass der tendenziell euphorische Grundton bei der Besichtigung der bisherigen antiken Baudenkmäler sich während der Sizilien-Reise nicht fortsetzt.[42]

Symptomatisch für Goethes Wahrnehmung des Tempels von Segesta ist denn auch ein weitgehend deskriptiv-nüchterner Rezeptionsmodus. Der Reisende scheint sich damit erstmals an eine selbstformulierte Rezeptionsmaxime zu halten, die er schon anlässlich der Besichtigung des Aquädukts von Spoleto artikuliert hat: „Ich halte die Augen nur immer offen und drücke mir die Gegenstände recht ein. Urteilen möchte ich gar nicht, wenn es nur möglich wäre.“ (IR 122)[43] Diese Charakteristik der eigenen Rezeptionshaltung ist für Goethes Begegnung mit dem Tempel in Segesta in besonderer Weise programmatisch. Denn tatsächlich ist seine Rezeption hier mehr ein Protokoll von Detailbeobachtungen am Bauwerk als eine evaluative Form von Rezeption. So beschreibt er etwa sachlich und gründlich die Anzahl der Säulen, den Baugrund, das Baumaterial und insbesondere das Verhältnis zwischen der Anlage der Stufen und derjenigen der Säulen (vgl. IR 269 f.). Seine Wahrnehmung des Tempels verhält sich im Vergleich zur vordem an den Tag gelegten Rezeptionshaltung konträr: Weniger das wahrnehmende und urteilende Subjekt als vielmehr das Wahrnehmungsobjekt selbst steht nunmehr im Mittelpunkt der Aufzeichnungen.

Das ästhetische Urteil Goethes über den Tempel scheint dagegen nur implizit durch. So schreibt er nach einer Begehung des antiken Bauwerks:

Bald sieht es aus, als wenn die Säule auf der vierten Stufe stände, da muß man aber wieder eine Stufe zum Innern des Tempels hinab, bald ist die oberste Stufe durchschnitten, dann sieht es aus, als wenn die Säulen Basen hätten, bald sind diese Zwischenräume wieder ausgefüllt, und da haben wir wieder den ersten Fall. Der Architekt mag dies genauer bestimmen. (IR 269 f.)

Hier wie auch im Folgenden versucht Goethe den Tempel anhand der fertiggestellten Bauelemente zu rekonstruieren. Doch aus dem vorhandenen Material vermag er weder die äußere Gestalt zu imaginieren noch die Absichten des Baumeisters zu ergründen. Die Bauelemente des Tempels scheinen ihm wenig aufeinander abgestimmt, sodass sich insgesamt nicht der Eindruck einer Harmonie des Ganzen mit seinen Teilen einstellen kann: Die oberste Treppenstufe erscheint dem Reisenden stellenweise in Relation zum Tempelboden versetzt, und auch bei der Säulengestaltung erkennt er keine einheitliche Konzeption: „Inwiefern die Säulen Sockel haben sollten, ist schwer zu bestimmen und ohne Zeichnung nicht deutlich zu machen.“ (IR 269) Goethe erwähnt hier die Zeichnung im Zusammenhang mit einem anderen Funktionspotential als zuvor: Sie dient nicht mehr der möglichst exakten Konservierung eines nachgerade überwältigenden Eindrucks von den antiken Bauwerken, sondern wird, gleichsam als Bauzeichnung fungierend, zum Hilfsmittel bei der Rekonstruktion der Konzeption und der Komposition des unfertigen Tempels.

Doch genauso wie Goethe die innere Harmonie des Tempels verborgen bleibt, so stehen auch Natur und Architektur in einem Missverhältnis zueinander: Aufgrund des unvollendeten Bauwerkszustands ragt „der rohe Kalkfels höher als das Niveau des angelegten Bodens […].“ (IR 270) Natur und Kunst sind im Tempel als isolierte Systeme repräsentiert, da die natürliche Umgebung keine symbiotische Verbindung mit der Tempelbauweise eingeht. Dadurch tritt die Artifizialität des Bauwerks offen zutage: Der Tempel wird in all seiner Künstlichkeit erkennbar, weil ihm alles Natürliche fehlt. Dies umso mehr, als auch dessen Lage in den Augen Goethes „sonderbar“ (IR 270) ist: Vom Meer aus ist das Bauwerk kaum zu sehen, und landeinwärts blickt es auf eine triste Landschaft voller „blühende[r] Disteln“ und „wilde[m] Fenchel“ (beides IR 270). So bleibt denn der Besuch beim Tempel von Segesta für Goethe mit Blick auf den Bildungsaspekt seiner Italienreise letztlich eine ebenso unbefriedigende wie wenig ertragreiche Begegnung: An dem niemals vollendeten Tempel lässt sich kein Begriff des Altertums gewinnen. Ein Schlüsselmoment bei der Rezeption des Bauwerks wie etwa beim Besuch in Assisi oder in Paestum bleibt daher aus.

3.6 Die Ästhetik des Verfalls: Die Tempelruinen von Akragas

Gleiches trifft auch auf Goethes Wahrnehmung der Tempelruinen von Akragas bzw. Agrigent zu. Die an der Südküste Siziliens gelegene Stadt stellt innerhalb der Reiseroute die letzte bedeutende Begegnungsstätte mit antiker Baukunst dar. Der Reisende besichtigt hier fünf aus der Zeit der griechischen Kolonisation Siziliens stammende Tempelruinen dorischen Stils. Die Tempel wurden wohl im Laufe des 5. Jahrhunderts v. Chr. erbaut, in einer Zeit großer ökonomischer und kultureller Blüte, in der Akragas – neben Syrakus – zur wichtigsten Stadt Siziliens aufstieg.

Goethe beurteilt die Ästhetizität der in Akragas vorgefundenen Tempelruinen ausgesprochen heterogen. Über den Äskulaptempel bemerkt er lediglich, er biete „ein freundliches Bild“ (IR 276), und auch der Junotempel gewährt vor dem Hintergrund einer pittoresken Umgebung einen „bedeutenden Anblick“ (IR 275). Dagegen vermag er dem Jupitertempel nur wenig abzugewinnen. Durch den Verfall hat das Bauwerk seinen vormaligen ästhetischen Wert und seine frühere beeindruckende Wirkung nahezu vollständig eingebüßt. Der Tempel erzeigt sich Goethe demnach nur noch als „Schutthaufen“ (IR 276), als ungestalte Masse einzelner Bauelemente, deren Form und Anordnung für den heutigen Betrachter nicht mehr rekonstruierbar sind. Um dennoch eine Ahnung vom Gesamtbild des Bauwerks zu gewinnen, bemüht sich Goethe um den akribischen Nachvollzug der Tempelproportionen. Er versucht die Überreste des kolossalen Triglyphs „mit ausgespannten Armen“ (IR 276) zu durchmessen und den Umfang der Säulen zu erfassen. Doch selbst dieses Vorgehen ermöglicht ihm nicht die ästhetische Wertschätzung des Bauwerks, denn am Ende verlassen er und Kniep den Tempel mit „dem unangenehmen Gefühle, daß hier für den Zeichner gar nichts zu tun sei.“ (IR 276) Der Jupitertempel stellt für Goethe weder eine erinnerungs- noch konservierungswürdige Rezeptionserfahrung dar, ja das Bauwerk figuriert nur noch als „Knochenmasse eines Riesengerippes“ (IR 276) – der gewählte Vergleich zeigt an, dass die Ruinen zwar noch die frühere Imposanz erahnen lassen, dass der Tempel aber letztlich doch nur aus verstummten, toten Überresten einer vergangenen Epoche besteht.[44]

Steht die Baufälligkeit des Jupitertempels einer tiefgehenden ästhetischen Erfahrung im Wege, so ist es beim Herkulestempel gerade das Verfallene, was in Goethes Augen die Faszination für das Bauwerk erst erzeugt. In der Anordnung der noch stehenden Säulen erkennt er zwar „Spuren vormaliger Symmetrie“ (IR 276), mehr noch aber interessieren ihn die umgestürzten Säulen. Deren einzelne Segmente nämlich sind im Laufe der Jahrhunderte in bemerkenswerter Gleichmäßigkeit zusammengefallen (vgl. IR 276). Die am Boden verstreuten Säulentrommeln verbinden sich so mit den noch aufgerichteten Säulen in Goethes Wahrnehmung zu einem „merkwürdige[n] Vorkommen“ (IR 276), zu einer Verfallsästhetik, in der sich die einstige Symmetrie des Tempels selbst im Zustand der Baufälligkeit noch abbildet.

Eine ähnliche Form von Ruinenästhetik materialisiert sich für Goethe auch im teilweise restaurierten Konkordiatempel.[45] Dieser ist unter den in Akragas besichtigten Bauwerken derjenige, der am meisten mit Goethes präexistenten ästhetischen Wertmaßstäben kongruiert und der den erhabenen Tempeln in Paestum am meisten gleichkommt. Sein Äußeres wirkt auf den Reisenden indes weit weniger roh als etwa der Jupitertempel:

[S]eine schlanke Baukunst nähert ihn schon unserm Maßstabe des Schönen und Gefälligen, er verhält sich zu denen von Pästum wie Göttergestalt zum Riesenbilde. (IR 275)

Goethe drückt mit diesem Vergleich einerseits seine Faszination von den immer noch monumentalen Dimensionen des Tempels aus. Andererseits aber verblasst das riesenhafte Bauwerk im Kontrast zu den gleichsam von gottgleichem Schöpfergenius erfüllten Paestum-Tempeln. Den Grund dafür sieht Goethe aber nicht in der materiellen Vergänglichkeit des Bauwerks, sondern in den „geschmacklos ausgeführt[en]“ (IR 275) Restaurationsmaßnahmen: Der weiße Gips, mit dem Risse im Baumaterial ausgebessert worden sind, steht in farblichem Kontrast zum Beige der noch erhaltenen Bausubstanz. Durch diesen Eingriff in das antike Original wird der eigentlich gefällige Anblick des Bauwerks für Goethe destruiert:

[D]adurch [durch die Restauration] steht dieses Monument auch auf gewisse Weise zertrümmert vor dem Auge; wie leicht wäre es gewesen, dem Gips die Farbe des verwitterten Steins zu geben! (IR 275)

Dadurch, dass die Restaurationsmaßnahmen ganz unverhohlen als solche erkennbar sind, bewirken sie nur das exakte Gegenteil ihres eigentlichen Zwecks: Sie entästhetisieren den Anblick des Tempels, anstatt ihn aufzuwerten.[46] Die zeitgenössischen Wiederherstellungsversuche fungieren bloß als Hintergrund, vor dem sich die Arbeit der antiken Baumeister umso mehr schätzen lässt. Ganz ähnlich und gewiss nicht ohne Spott hat sich Goethe auch schon über eine in Rom besichtigte antike Grabstätte geäußert: „Diese Menschen [die antiken Baumeister] arbeiten für die Ewigkeit, es war auf alles kalkuliert, nur auf den Unsinn der Verwüster nicht […].“ (IR 135) Das Bewundernswerte an der Arbeit der antiken Baumeister liegt für den Reisenden gerade darin, dass die pragmatische und die ästhetische Funktion des Baumaterials nicht zwingend in einem Ausschlussverhältnis zueinander stehen müssen, sondern sich im Anblick des Konkordiatempels zu einem harmonischen Ganzen fügen: „[M]an findet noch Überreste eines feinen Tünchs an den Säulen, der zugleich dem Auge schmeicheln und die Dauer verbürgen sollte.“ (IR 275 f.)[47]

4. Schlussbetrachtung

Die Untersuchung der Antikenrezeption Goethes am Beispiel der Begegnung mit antiker Baukunst hat zunächst einmal gezeigt, dass für die Rezeptionshaltung des Reisenden, so wie sie sich in der Italienischen Reise darstellt, das enge und aufeinander bezogene Ineinander von Deskription, Evaluation und Reflexion charakteristisch ist: Nicht nur nimmt Goethe als wahrnehmendes Subjekt die Eindrücke von den antiken Bauten im Sinne eines passiven Auf-sich-wirken-Lassens auf und dokumentiert diese dann retrospektiv in der Italienischen Reise, sondern er fällt auch explizite oder implizite ästhetische Urteile, ja er reflektiert diese teilweise sogar, indem er sich der eigenen urteilsbildenden Kriterien bewusst wird.

Bei dieser Form von Rezeption ist die Beteiligung der Sinne und des Verstandes gleichermaßen unerlässlich. Die Sinne nehmen die äußeren architektonischen Strukturen auf; mittels des Intellekts dagegen abstrahiert Goethe vom konkreten Bauwerk, um so induktiv auf überzeitlich gültige ästhetische Idealvorstellungen schließen zu können, etwa auf Proportionalität und Schlichtheit oder auf die Harmonie von Form und Funktionalität sowie von Kunst und Natur. Mit dieser Rezeptionshaltung distanziert er sich zunehmend von einer zentralen Auffassung seiner Sturm-und-Drang-Zeit, nämlich dem Primat des Gefühls: Das Gefühl als bestimmendes Instrument der Weltwahrnehmung muss im Rahmen der Italienreise einer mehr und mehr intellektualisierten Form von Rezeption weichen.

Dieser fundamentale Wandel ist nicht nur ein Indiz für einen persönlichen Reifeprozess während der Reise, sondern auch Ausweis einer fast durchweg kritischen Rezeptionshaltung. So zeigt Goethe, den vielgelobten Minervatempel in Assisi ausgenommen, keine bedingungslose Begeisterung für die besichtigten antiken Bauwerke. Er ist zwar ausgesprochen aufgeschlossen gegenüber dem Neuen und dem Fremden in Gestalt der noch unbekannten antiken Bauwerke, ja in manchen Fällen wertet er gerade das Neue gegenüber dem bereits Bekannten kategorisch auf – etwa im Falle der als zu üppig empfundenen gotischen und barocken Baukunst. Jedoch verfällt Goethe nicht unreflektiert dem Reiz des Neuen; er bewundert oder verklärt die antiken Bauwerke nicht kritiklos – denn nicht alles, was antik ist, kann er auch als persönlichen oder künstlerischen Gewinn verbuchen. Den Tempelruinen in Agrigent zum Beispiel vermag Goethe mehrheitlich nur wenig abzugewinnen. Sie bleiben für ihn letztlich das, was sie äußerlich darstellen: Ruinen.

Goethes Interesse bei der Besichtigung antiker Architektur richtet sich indes nicht nur auf das Bauwerk selbst, sondern erstreckt sich gleichermaßen auch auf die Bewunderung des Künstlertums der antiken Baumeister. So appliziert der Reisende den Geniebegriff der Sturm-und-Drang-Zeit auf die Werke der antiken Architekten, wie das Beispiel des Minervatempels in Assisi wohl am eindrücklichsten gezeigt hat. Durch die Betrachtung der antiken Bauten im Lichte der Genieästhetik rezipiert Goethe die Bauwerke als Hervorbringungen einer dem Künstler innewohnenden schöpferischen Kraft, für die nicht bloß das starre Befolgen von Prinzipien und Regeln der Baukunst kennzeichnend ist, sondern in der die künstlerische Eigenleistung, ja eine individuelle Bauwerkskonzeption unverhüllt zum Vorschein kommt.

Allein diese Genialität ist für Goethe nicht immer auf den ersten Blick erkennbar; sie muss erst durch eingehende Besichtigung freigelegt werden. Dazu setzt der Reisende verschiedenartige Techniken ein, die ihm die tiefergehende ästhetische Erschließung der antiken Bauten ermöglichen. Von zentraler Bedeutung ist hier der wiederholte Einsatz der Imaginationskraft. Das Zusammenspiel von äußerem und innerem Auge ermöglicht es Goethe, seine Architekturwahrnehmung auf den Bereich des Vorgestellten, des Idealen auszudehnen. Er reichert damit das empirisch vorhandene Anschauungsmaterial mit eigenen Vorstellungen an, um auf dialektische Weise ein ideales Vorstellungsbild zu erzeugen, das ihm die Antike in gleichsam verlebendigter Form zu begegnen und die antiken Bauwerke ausgehend von ihrer Entstehungszeit zu erfahren gestattet.

Eine Schlüsselstellung für die Rezeption antiker Architektur nimmt denn auch Goethes Bemühen um die historische Kontextualisierung der Wahrnehmungsobjekte ein. In der Genese eines Bewusstseins für die Geschichtlichkeit der Architektur, ja der Kunst überhaupt, darf man daher auch den zentralen Bildungsertrag der Italienreise sehen. Goethes Winckelmann-Rezeption wirkte impulsgebend für eine Betrachtungsweise von Architektur, die nicht mit externen, zeitgenössischen Maßstäben über antike Kunst urteilt, sondern die das ästhetische Urteil in Abhängigkeit von historischen Bedingtheiten der jeweiligen Entstehungszeit fällt.

Aber auch über den Gewinn eines Geschichtsbewusstseins für die Kunst hinaus sind von der Begegnung mit der Antike, speziell mit antiker Architektur, in mehrfacher Hinsicht produktive Impulse ausgegangen. Seine Erfahrungen mit antiker Baukunst konnte Goethe etwa in seiner Funktion als Ideengeber und Berater beim Bau des 1798 fertiggestellten und nach dem Vorbild eines antiken Tempels gestalteten Römischen Hauses in Weimar einbringen. In architekturtheoretischer Hinsicht dagegen nahm er die in Italien gewonnenen Erfahrungen zur Grundlage für eine Systematisierung derselben im Aufsatz Baukunst (1795). Und nicht zuletzt waren seine Antikenerfahrungen auch literarisch fruchtbar, denn sie dienten ihm unter anderem als Inspirationsquelle für die Römischen Elegien, die er unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Italien verfasste (1788-90). So setzte denn die Begegnung mit der Antike auch eine grundsätzliche ästhetische Prinzipienreflexion in Gang, durch die vor allem antike Stoffe und Formen zum Vorbild für die Literaturproduktion der Klassik wurden. Insofern verlieh die Auseinandersetzung mit der Antike und ihrer Baukunst dem Dichter auch den maßgeblichen Impetus für die Entwicklung einer an der Antike orientierten Kunstauffassung.

Literatur

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Ders.: Von deutscher Baukunst. D. M. Ervini a Steinbach. In: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 12: Schriften zur Kunst und Literatur. Maximen und Reflexionen. Textkritisch durchgesehen von Erich Trunz. Kommentiert von Herbert von Einem. München: C.H. Beck 1994, S. 7-15.

B. Sekundärliteratur

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Woesler, Winfried: Goethes Besuch der griechischen Tempel von Paestum. Erlebnis und Darstellung. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 68 (1987), S. 47-51.

[1] Vgl. zu den weiteren biographischen Motivationen für Goethes Italienreise Niggl, Günter: Goethes Italienische Reise. In: Ders. (Hrsg.): Studien zur Autobiographie. Berlin: Duncker & Humblot 2012, S. 147-172, hier S. 148 f.

[2] Vgl. Neutsch, Bernhard: Antiken-Erlebnisse Goethes in Italien und ihre Nachklänge. In: Heidelberger Jahrbücher 1963, S. 82-110, hier S. 84 f.

[3] Dies ist in der bisherigen Goethe-Forschung immer wieder hervorgehoben worden. Vgl. dazu Niggl: Italienische Reise, S. 153-157, sowie Wei, Hu: Johann Wolfgang Goethes Italienische Reise als Schrift der Ästhetik. In: Literaturstraße 12 (2011), S. 99-107, hier S. 107. Vgl. desgleichen Dauss, Markus: Schreiben der Kultur – Lesen der Natur. Die Schlüsselfunktion der Architektur in Goethes Italienischer Reise. In: David E. Wellberry (Hrsg.): Kultur-Schreiben als romantisches Projekt. Romantische Ethnographie im Spannungsfeld zwischen Imagination und Wissenschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, S. 193-216, hier S. 200, wo es heißt, die Italienische Reise oszilliere zwischen „scheinbar spontanem Notat und kalkulierter Rekonstruktion“.

[4] Vgl. weiterführend zur Entstehungsgeschichte des Reisewerks Niggl: Italienische Reise, S. 152-161, sowie das Nachwort in Goethe, Johann Wolfgang: Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 11: Autobiographische Schriften III. Italienische Reise. Textkritisch durchgesehen von Erich Trunz und kommentiert von Herbert von Einem. München: C.H. Beck 131994, S. 574-580. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe und werden im Folgenden im Haupttext als IR mitsamt der korrespondierenden Seitenzahl ausgewiesen.

[5] Vgl. Woesler, Winfried: Goethes Besuch der griechischen Tempel von Paestum. Erlebnis und Darstellung. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 68 (1987), S. 47-51, hier v.a. S. 48 f.

[6] Vgl. Adam, Wolfgang: Die Rosen von Paestum. In: Ders. (Hrsg.): Das achtzehnte Jahrhundert. Facetten einer Epoche. Festschrift für Rainer Gruenter. Heidelberg: Winter 1988, S. 247-270, hier S. 260-264.

[7] Vgl. Boyle, Nicholas: Eine Stunde in Paestum. Goethes Begegnung mit der Antike 1787. In: Ejirō Iwasaki/Yoshinori Schichiji (Hrsg.): Akten des VIII. internationalen Germanistenkongresses Tokyo 1990, Bd. 7. München: Iudicium 1991, S. 180-190.

[8] Vgl. dazu Neutsch: Antiken-Erlebnisse, S. 82-110, sowie die jüngste Untersuchung von Osterloh, Malte: Versammelte Menschenkraft. Die Großstadterfahrung in Goethes Italiendichtung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2016, hier insb. S. 53-107.

[9] Vgl. die hermeneutische Lesart bei Dauss: Schreiben der Kultur, S. 193-216. Vgl. desgleichen den knappen Aufsatz von Wei: Schrift der Ästhetik, S. 99-107. Eine spezifisch kunsthistorische Lesart der Reiseautobiographie liefert Eisler, János: Goethes Werke Von deutscher Baukunst D.M. Ervini a Steinbach (1772) und Italienische Reise (1817) aus kunstgeschichtlicher Sicht betrachtet. In: Arbeiten zur deutschen Philologie 25 (2002), S. 43-70.

[10] Vgl. Beyer, Andreas: Art. Italienische Reise. In: Ders./Ernst Osterkamp: Goethe-Handbuch. Supplemente, Bd. 3: Kunst. Stuttgart/Weimar: Metzler 2011, S. 404-413, hier bes. S. 105.

[11] Vgl. Pütz, Marinus: Die Geburt der Kunst aus dem Geiste der Natur. Versuch zu Goethes Italienischer Reise. In: Castrum peregrini 46 (1997), S. 25-37.

[12] Vgl. Egger, Irmgard: „Aus Wahrheit und Lüge wird ein Drittes.“ Zur Dialektik von Wahrnehmung und Einbildungskraft in Goethes Italienischer Reise. In: Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts 2004, S. 70-96.

[13] Vgl. Beyer, Andreas: Art. Palladio, Andrea. In: Ders./Ernst Osterkamp (Hrsg.): Goethe-Handbuch. Supplemente, Bd. 3: Kunst. Stuttgart/Weimar: Metzler 2011, S. 535-537, hier S. 535.

[14] Vgl. exemplarisch IR 73: „Palladio war durchaus von der Existenz der Alten durchdrungen und fühlte die Kleinheit und Enge seiner Zeit wie ein großer Mensch, der sich nicht hingeben, sondern das übrige soviel als möglich nach seinen edlen Begriffen umbilden will.“ Weitere Belege für Goethes Bewunderung Palladios finden sich bei IR 52 f., 55 f., 59, 71 f., 82, 88, 98 und 116. – Zur Bewunderung und zum teils ambivalenten Verhältnis Goethes zu Palladio vgl. Beyer: Palladio, S. 536, sowie Osterloh: Menschenkraft, S. 140-145.

[15] Vgl. dazu Beyer: Palladio, S. 535, sowie Woesler: Tempel von Paestum, S. 48.

[16] Diese Funktion erfüllte Volkmanns Reiseführer freilich nicht als einziges Werk in Goethes Lektüresammlung während der Reise. Für eine Auswahl vgl. Beyer: Italienische Reise, S. 404.

[17] Dies hat Adam speziell für die Beschreibung der Tempelruinen in Paestum nachweisen können. Vgl. Adam: Rosen von Paestum, S. 260.

[18] Vgl. Goethes Notiz vom 3. Dezember in Rom: „Winckelmanns Kunstgeschichte, übersetzt von Fea, die neue Ausgabe, ist ein sehr brauchbares Werk, das ich gleich angeschafft habe und hier am Orte in guter, auslegender und belehrender Gesellschaft sehr nützlich finde.“ (IR 147) Vgl. zu Goethes Winckelmann-Rezeption ausführlich Riedel, Volker: Goethes Blick auf die Jahrhundertgestalt Wickelmann. Stendal: Gulde 2011, S. 8-12, sowie Eisler: Kunstgeschichtliche Sicht, S. 59. Zu Winckelmanns Einfluss auf die Konzeption der Italienreise als Bildungstour vgl. Niggl: Italienische Reise, S. 148.

[19] Vgl. Beyer: Palladio, S. 535.

[20] Vgl. zu Goethes Verhältnis zur Gotik Eisler: Kunstgeschichtliche Sicht, S. 62 f. sowie Wei: Schrift der Ästhetik, S. 104. – Die zitierte Textstelle ist freilich nicht die einzige, an der sich Goethe abwertend über die gotische Architektur ausspricht. Schon in seiner kunstprogrammatischen Schrift Von Deutscher Baukunst (1772) schreibt Goethe: „Unter der Rubrik Gotisch […] häufte ich alle synonymische Missverständnisse, die mir von Unbestimmtem, Ungeordnetem, Unnatürlichem, Zusammengestoppeltem, Aufgeflicktem, Überladenem jemals durch den Kopf gezogen waren.“ (HA XII, 10; Hervorhebung wie im Original.) In retrospektiv-reflektierender Zurückschau hat sich Goethe später in Dichtung und Wahrheit von seiner negativen Einstellung gegenüber der gotischen Baukunst distanziert. So spricht er etwa davon, dass er „[u]nter Tadlern der gotischen Baukunst aufgewachsen“ (HA IX, 385) und dass die Gotik ihm erst späterhin als „neue Offenbarung“ vorgekommen sei (ebd.).

[21] So auch Miller, Norbert: Der Wanderer. Goethe in Italien. München/Wien: Hanser 2002, S. 70 f.

[22] Egger hat nachgewiesen, dass diese Rezeptionsweise charakteristisch für Goethes Wahrnehmung jeglicher Anschauungsobjekte während der Italienreise ist. Vgl. zu den Mechanismen dieser Rezeptionsweise Egger: Dialektik von Wahrnehmung und Einbildungskraft, S. 73-77.

[23] Vgl. ähnlich Wei: Schrift der Ästhetik, S. 103.

[24] Vgl. Beyer: Palladio, S. 536, sowie ähnlich Miller: Der Wanderer, S. 105.

[25] Vgl. weiterführend zu Goethes ‚zeichnerischem Blick‘ Egger: Dialektik von Wahrnehmung und Einbildungskraft, S. 79-82.

[26] Vgl. Miller: Der Wanderer, S. 105.

[27] Vgl. dazu auch Dauss: Schreiben der Kultur, S. 204 f.

[28] Der Besuch in Spoleto ist mitnichten die erste Gelegenheit, bei der Goethe die Architekturentwicklung als Resultat natürlicher Bedingungen beschreibt. Eine ähnliche Stelle findet sich etwa gleich zu Beginn der Italienischen Reise, wo ein Zusammenhang zwischen der Lage des Stifts Waldsassen und den geologischen Formationen der Umgebung hergestellt wird (IR 9 f.).

[29] Vgl. Dauss: Schreiben der Kultur, S. 208: „Die vollendete Eurythmie und harmonischen Proportionen der gelungenen Architektur korrespondieren mit der inneren Stimmigkeit der Gestalt des Natürlichen.“ Vgl. desgleichen Pütz: Geburt der Kunst, S. 32.

[30] Vgl. ergänzend auch das Resümee von Eisler: Kulturgeschichtliche Sicht, S. 68: „In seinen [Goethes] Beobachtungen in Italien verflechten sich die Einsichten der Gesetze der Natur und die Aufeinanderbeziehung der Regeln der Kunst. Er kommt bis zu seiner Behauptung, dass die Gesetze der Natur und die Regeln der Kunst einander nahe stehen.“ Ähnlich auch Niggl: Italienische Reise, S. 164, sowie Wei: Schrift der Ästhetik, S. 104. Zum späteren Wandel des Kunst- und Naturbegriffs Goethes vgl. Pütz: Geburt der Kunst, S. 35 f.

[31] Dauss zufolge ist das Verhältnis von Natur und Kunst in Goethes Denken weniger ein Äquivalenz- als vielmehr ein Unterordnungsverhältnis: Das Interesse des Reisenden an Gegenständen der Kunst (und damit auch an der antiken Architektur) stehe letztlich über seinem Interesse an der Natur. Kunst als „kultureller Dekodierungsschlüssel“ diene lediglich dazu, um ein tieferes Verständnis der Natur zu erreichen (Dauss: Schreiben der Kultur, S. 194.) Das hierarchische Verhältnis zwischen Natur und Kunst mag gewiss angesichts Goethes umfassender naturwissenschaftlicher Studien wahrscheinlich sein, allerdings lässt es sich für den konkreten Fall seiner Rezeption antiker Bauwerke nicht verifizieren.

[32] Vgl. Boyle: Stunde in Paestum, S. 180.

[33] Vgl. ähnlich Adam: Rosen von Paestum, S. 261: „Die Tempel von Paestum bilden für ihn [Goethe] den Inbegriff des Uneleganten, ja barbarischen.“

[34] Vgl. zum Einfluss des Palladianismus und des Klassizismus auf Goethes Rezeption antiker Architektur Dauss: Schreiben der Kultur, S. 201 f. sowie S. 210. – Unhaltbar ist dagegen das Urteil Niggls, der Goethes Kunstbetrachtung während der Italienreise als einen weitgehend voraussetzungslosen Rezeptionsprozess begreift, indem er von einer „vorurteilsfreien Aufnahme dieses fremden Landes“ spricht. Diese Ansicht trifft nur insoweit zu, als sie eine (hypothetische) Absicht Goethes ausdrückt, seinen Wunsch nämlich, antiker Kunst möglichst unter Verzicht auf präexistente Rezeptionsmuster begegnen zu können, die seine Wahrnehmung bereits im Vorfeld und zudem meist unbewusst steuern. Tatsächlich aber wird Goethes Antikenerfahrung in Italien maßgeblich durch eine Vielzahl prägender Faktoren beeinflusst, die eine vorurteilsfreie Rezeption antiker Kunst schlichtweg unmöglich machen (vgl. dazu Kap. 2 dieser Arbeit).

[35] Vgl. Adam: Rosen von Paestum, S. 261 f., wo von Paestum als einem „Protokoll einer intellektuell gesteuerten Wahrnehmung von Kunst“ die Rede ist (S. 262). Vgl. des Weiteren Woesler: Tempel von Paestum, S. 48, sowie Neutsch: Antiken-Erlebnisse, S. 93.

[36] Vgl. ergänzend Osterloh: Versammelte Menschenkraft, S. 280: „[A]nstatt die Vergangenheit mit dem Wissen der Zukunft zu betrachten, versetzt er [Goethe] sich in die Vergangenheit und betrachtet dort, nicht von dort die Gegenwart.“ Ähnlich auch Neutsch: Antiken-Erlebnisse, S. 96.

[37] So sehr auch die Performanz der kunsthistorischen Methode auf Goethes Winckelmann-Rezeption zurückgeht, so erkennt Goethe in Paestum nicht – zumindest auf der manifesten Textebene – den überzeitlichen, ahistorischen und absoluten Schönheitsgehalt der Tempel, den Winckelmann noch in den antiken Bauwerken identifizieren konnte. Vgl. dazu Pütz: Geburt der Kunst, S. 32 f.

[38] Beyer unterstellt in diesem Zusammenhang, dass Goethe sein Befremden beim Anblick der Paestum-Tempel nicht überwinde, da er sie als „zu weit von ihm und seiner Zeit abstehend“ begreife (Beyer: Italienische Reise, S. 406). Damit unterschätzt Beyer allerdings gerade die Wichtigkeit der reflektierenden und historisierenden Architekturbetrachtung Goethes, die zu einem Wandel in der Beurteilung der ästhetischen Qualitäten der Paestum-Tempel führt.

[39] Boyle dagegen hält Goethes verspätet einsetzende Euphorie über den Anblick der Paestum-Tempel für nicht authentisch; er deutet die Überwindung des anfänglichen Befremdens bloß als „umgedeutete[] Enttäuschung“ (Boyle: Stunde in Paestum, S. 183). Goethe habe verschweigen wollen, dass die dorische Baukunst ihm noch fremd vorkommen konnte (vgl. ebd., S. 189 f.). Mit dieser Interpretation verkennt Boyle jedoch den zentralen Bildungsertrag der Italienreise, der gerade in Paestum in der Annäherung an das Fremde durch dessen Betrachtung in einem (kultur-)historischen Kontext besteht.

[40] So Egger: Dialektik von Wahrnehmung und Einbildungskraft, S. 91.

[41] Im Zusammenhang mit dieser Textstelle hat Adam weiterführend darauf hingewiesen, dass Goethe den Besuch bei den Paestum-Tempeln als kleine Reminiszenz ein literarisches Denkmal im zweiten Teil des Faust gesetzt hat. Vgl. dazu Adam: Rosen von Paestum, S. 263. – Der Paestum-Besuch zeigt überdies, dass der Ruinencharakter antiker Bauwerke einer letztlich positiven Rezeption durch Goethe nicht entgegenstehen muss. Davon scheint zumindest Dauss auszugehen, wenn er schreibt: Die „idealisierte Totalität, für die das Altertum einsteht, gerät mit dem Fragmentcharakter des in Italien Vorgefundenen in Konflikt.“ (Dauss: Schreiben der Kultur, S. 193.) Gegen diese Ansicht spricht auch eine Äußerung Goethes in einem Brief an seinen Freund Karl Ludwig von Knebel vom 17. November 1786: „[A]lles ist nur Trümmer, und doch, wer diese Trümmer nicht gesehn hat, kann sich von Größe keinen Begriff machen.“ (zit. nach: Egger: Dialektik von Wahrnehmung und Einbildungskraft, S. 86.)

[42] Boyle überschätzt daher die Bedeutung der Sizilienfahrt für Goethes Rezeption antiker Baukunst, wenn er urteilt: „Hier [in der IR] erscheint der Besuch im ehemaligen Poseidonia [Paestum] als Auftakt zur unmittelbar darauffolgenden Sizilienfahrt, die die Bekanntschaft mit der griechischen Kunst ausbaut, das eigentliche Vordringen in kulturgeschichtliches Neuland bringt und somit zum Mittelpunkt und Gipfel des ganzen italienischen Bildungserlebnisses wird.“ (Boyle: Stunde in Paestum, S. 181)

[43] Vgl. zu dieser offenen, von subjektiven Erwartungen befreiten Rezeptionshaltung Niggl: Italienische Reise, S. 162 f.

[44] Unverständlich ist vor diesem Hintergrund das Urteil Niggls: „Auf dem Festland hatte Goethe Natur und Kunst, gerade auch die Antike, noch wissenschaftlich und historisch zu begreifen versucht […]. Auf Sizilien aber […] wird ihm das Altertum unmittelbare Gegenwart.“ (Niggl: Italienische Reise, S. 166.) So zutreffend diese Auffassung auch für Goethes Kunstrezeption sein mag, für seine Wahrnehmung antiker Architektur kann sie nicht verifiziert werden. Vielmehr verhält es sich gerade umgekehrt: Die Sizilienfahrt tritt hinsichtlich der Bedeutung für Goethes Begegnung mit antiker Architektur hinter den Erfahrungen auf dem Festland zurück. Dafür spricht nicht nur die zentrale Bedeutung des vorsizilianischen Paestum-Erlebnisses, sondern auch Goethes eigenes Empfinden über die Wichtigkeit seiner Sizilienreise (vgl. IR 323; Zitat oben, S. 18 dieser Arbeit).

[45] Vgl. zur Ruinenästhetik das entsprechende Kapitel bei Osterloh: Versammelte Menschenkraft, S. 274-280.

[46] Zurückzuweisen ist daher Woeslers Urteil, dass „Goethe angesichts des Concordiatempels von Agrigento die Harmonie des dorischen Stils endlich ganz auf[ging].“ (Woesler: Tempel von Paestum, S. 49.)

[47] Boyle dagegen verkennt die ästhetischen Erfahrungen Goethes während der Sizilienreise. So leitet er vorschnell aus der Dominanz deskriptiver Textpassagen bei den Tempelbesichtigungen auf Sizilien eine wenig tiefgehende Beschäftigung Goethes mit antiker Architektur ab (vgl. Boyle: Stunde in Paestum, S. 190). Jedoch zeugt gerade das Beispiel des Konkordiatempels vom Gegenteil.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Begegnung mit antiker Baukunst. Goethes Antikenrezeption in der "Italienischen Reise"
Hochschule
Universität Osnabrück
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
26
Katalognummer
V428153
ISBN (eBook)
9783668722750
ISBN (Buch)
9783668722767
Dateigröße
619 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Autobiographie, Weimarer Klassik, 19. Jahrhundert, Reisebericht
Arbeit zitieren
Andy Bergmann (Autor:in), 2017, Begegnung mit antiker Baukunst. Goethes Antikenrezeption in der "Italienischen Reise", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/428153

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