Ist der autoritäre Populismus auf das Wahlprogramm der AfD anwendbar?

Kulturelle Hegemonieträume der AfD


Hausarbeit (Hauptseminar), 2017

20 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Kulturelle Hegemonie
2.1 Hegemonie nach Gramsci
2.2 Autoritärer Populismus am Beispiel des Thatcherismus

3 AfD
3.1 Methodik
3.2 Analyse
3.2.1 Verbrechen
3.2.2 Erziehung
3.2.3 Wohlfahrt
3.2.4 Familie/Mütter/Frau
3.2.5 „Rasse“
3.3 Synthese & Strategischer Charakter

4 Schluss

Literaturverzeichnis

Anhang

1 Einleitung

„Innerhalb des Industriesystems gibt es nichts mehr zu konservieren, da es beherrscht wird von <Eigenlogik>, <Marktgesetzen> und <Wachstumszwängen>. Konservieren will der Konservatismus nur noch innerhalb des Kultursystems.“(Greiffenhagen 1985, 379)

Dieser Kommentar Martin Greiffenhagens zum Neokonservatismus aus dem Jahr 1985 bietet einen interessanten Hinweis um den aktuellen Erfolg[1] der Partei Alternative für Deutschland zu verstehen. Seine Analyse besagt, dass neokonservative Strömungen nach der zu Weimarer Zeiten begonnenen und in der Nachkriegszeit vollzogenen „technokratischen Wende“ ihren Fokus nun auf den Kulturbereich richteten, in dem es angeblich noch etwas zu bewahren gab (Greiffenhagen 1985, 375).

Die sogenannte technokratische Wende bedeutete die Abkehr der Konservativen von der Dis­kreditierung des Kapitalismus und dessen technologischen Neuerungen als „seelenlos“ (Lenk 1989, 231), inhuman und den kulturellen Verfall fördernd. Sie lässt sich als eine Reaktion auf den unaufhaltsamen gesellschaftlichen Wandel im 20.Jahrhundert einerseits sowie die sozia­len Unruhen um 1968 bewerten, in deren Gefolge eine Neuausrichtung der Linken als zuneh­mend fortschritts- bzw. technikabgewandt stattfand. Diese liberal anmutende Affirmation des­selben war allerdings konservativ eingefärbt, in dem sich, an Ernst Jüngers Begriff der „orga­nischen Konstruktion“ anschließend, des bisher abgewehrten Wirtschaftssystems als überhis­torischer Konstante angenommen wurde, die zu einer Art zweiter Natur geformt werden sollte (Lenk 1989, 231ff). Sie ließen sich dafür wie viele Konservative vor ihnen (Greiffenhagen 1985, 381) auf einen gedanklichen Spagat ein: Die kulturellen Folgen kapitalistischer Ent­wicklung, nämlich der Wertewandel vom Ensemble aus Disziplin, Pflichtgefühl, Leistungs­und Unterordnungsbereitschaft hin zu Selbstverwirklichung und Konsumbedürfnissen, wur­den eben nicht als Rückkopplungserscheinungen bewertet, sondern als von materiellen Ein­flüssen unabhängiger, rein geistig-moralischer Verfall (Greiffenhagen 1985, 376ff). Solch eine strikte Trennung der beiden Systeme ist in der Realität offensichtlich nicht gegeben und dass aus einer ehemals protestantischen Arbeitsethik eine hedonistische hervorging (Bell 1994, 94), ist zwar widersprüchlich, aber bei weitem nicht das einzige dialektisch Angelegte inner­halb der Moderne[2].

Es scheint als ob die AfD als neue (rechts-)konservative Akteurin in einem vergleichbaren Di­lemma steckt. Im Wahlprogramm positioniert sie sich positiv zur „sozialen Marktwirtschaft“[3], will technologischen Fortschritt ohne Einbeziehung ökologischer Kriterien[4] und „mittel­standsfreundliche Wirtschaftspolitik“[5] vorantreiben - und befindet sich damit auf einer Linie mit FDP und neoliberalen Flügeln in SPD und CDU[6]. Allerdings problematisiert sie die sozio- kulturellen Implikationen des Neoliberalismus in einer Weise, als ob die beiden nicht in wech­selseitigen Zusammenhängen stehen würden. So werden bspw. globale Migrationsbewegun­gen nicht im Kontext von Kolonialismus und heutigen neokolonialen Arrangements analy­siert, sondern allein auf eine isolierte „Bevölkerungsexplosion“ zurückgeführt[7]. Aufgrund die­ser gedanklich vollzogenen Trennung von Kultur und Wirtschaft verkennt sie, dass die global­wirtschaftliche Spitzenposition Deutschlands nicht ohne die neoliberalen Umstrukturierungen der letzten Jahrzehnte[8] zu denken ist - und kann auf dieser Basis die kulturellen Folgen ideo­logisch abwehren.

Es ergibt sich die Frage, wie diese diskursive Umlenkung auf kulturelle Phänomene funktio­niert. Eine mögliche Teilantwort darauf gibt Stuart Hall in seiner auf Gramscis Hegemonie­Verständnis basierenden Analyse des Erfolgs der Tory-Partei unter Margaret Thatcher im Eng­land der 1980er Jahre. Diese Arbeit unternimmt den Versuch, sein Konzept des „autoritären Populismus“ auf das Wahlprogramm der AfD anzuwenden. Nach einem Exkurs zu Hegemo­nie nach Gramsci und einer Übersicht zum autoritären Populismus in der Thatcher-Ära folgt eine systematische Behandlung des AfD-Wahlprogramms entsprechend heraus gearbeiteter Themenbereiche kulturellen Hegemoniestrebens. Beantwortet werden soll die Frage, inwie­weit sich der strategische Charakter der beiden konservativen Akteure ähnelt.

2 Kulturelle Hegemonie

2.1 Hegemonie nach Gramsci

1891 in Sardinien geboren (Barfuss/Jehle 2014, 9), war Antonio Gramsci einer der ersten, der eine Abgrenzung von der zeitgenössischen marxistischen Basis-Überbau-Vorstellung aus einer marxistischen Position heraus vornahm. Ökonomische Strukturen diktieren seiner Meinung nach den geistigen nicht mechanistisch ihre Struktur, sondern beide Dimensionen „entsprechen“ sich, wie Marx es formulierte. Sie sind vielfältig verwoben, „notwendig aufeinander bezogen und [stehen] in Wechselwirkung“ (Barfuss/Jehle 2014, 18f.). Dennoch lässt sich festhalten, dass diejenigen Gruppen, die über Produktionsmittel und materielle Ressourcen verfügen, entsprechend mehr Möglichkeiten haben, „geistige Produkte“ herzustellen und folglich eine höhere Wahrscheinlichkeit besteht, dass diese und nicht andere ihre Interessen durchsetzen (Candeias 2007, 19.f). Gramscis Erkenntnisinteresse gilt aus seiner politischen Einstellung als Kommunist heraus letztlich der Frage, wie beherrschte Klassen trotz ihrer nachteiligen materiellen Ausstattung eine Gegenhegemonie aufbauen könnten. Denn die ihm gegenwärtigen revolutionären Versuche in Europa an den zeitweisen Erfolg der Sowjets anzuknüpfen laufen ins Leere (Candeias 2007, 17). Doch was heißt für ihn in diesem Kontext Interessen „durchzusetzen“?

Die altgriechische Wortbedeutung zu „Hegemonie“ bezieht sich auf „führen“, „vorangehen“, „voransein“ und weniger auf ein „Herrschen“ mit Zwang, wie im politischen Sprachgebrauch üblich. Ein „hegemoniales Projekt“ im Sinne Gramscis beruht daher nicht auf der alleinig autoritären Durchsetzung der Eigeninteressen einer bestimmten Gruppe gegen Widerstände anderer. Vielmehr basiert es auf einer gesellschaftlich umfassenden, wenn auch labilen Annahme ihres ideologischen Programms unter kompromisshafter Einarbeitung anderer Partikularinteressen, die den Grundprämissen allerdings nicht widerstreben dürfen. Somit kann Hegemonie niemals ohne die aktive Zustimmung der Unterworfenen entstehen, die in diesem Prozess „ein echtes Interesse [entwickeln]“ und „reale Vorteile [erwarten], die sich keineswegs auf Selbsttäuschung reduzieren lassen (...).“ „Zwang und Konsens“ bedingen folglich nur gemeinsam ein erfolgreiches Hegemonie-Projekt. Gramsci prägt dazu den Begriff der „passiven Revolution“: eine tiefe Umwälzung, in der die Unterworfenen bis zu einem gewissen Grad einwilligen sich zu unterwerfen, sodass ein weniger großes Zwangsmoment von Nöten ist um eine Verallgemeinerung der Interessen mit Führungsanspruch herzustellen. (Candeias 2007, 19f.). Die „Intellektuellen“ haben in diesem Prozess die „Aufgabe (...) die Hegemonie (...) zu organisieren.“ (Barfuss/Jehle 2014, 27; 72).

Der Zustand der Hegemonie lässt sich auch als Widerspruchs-Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten fassen, das im selben Moment eine Einheit darstellt. Dies bezeichnet Gramsci auch als „geschichtlichen Block“ - denn in ihrer Widersprüchlichkeit sind sie notwendigerweise aufeinander bezogen. Alle Beteiligten sind aktiver Teil der Hegemonie, nur an unterschiedlichen Positionen reproduzierend tätig (Barfuss/Jehle 2014, 20).

Zusammengefasst entspricht Hegemonie in diesem Sinne dem Ergebnis einer Bewegung von einem anfänglich partikular-korporativen Interesse einer sozialen Gruppe hin zu einem universalisierten, in deren Zuge sich ein die kulturelle, ökonomische und politische Ebene betreffender Zustand einer Art „Regierung mit dem Konsens der Regierten“ einrichtet (Barfuss/Jehle 2014, 26; Candeias 2007, 180).

Zwar arbeitet Gramsci an einer Weiterentwicklung des Begriffs, jedoch recht unsystematisch und so bleibt er innerhalb seiner Schriftensammlung relativ unscharf. Bereits vor der Entstehung der Gefängnishefte verwendet Gramsci den Hegemonie-Begriff, allerdings wie in seinem Umfeld alltagssprachlich üblich, erst noch in Anlehnung an Lenin als „Vorrangstellung innerhalb eines Klassenbündnisses“. Sein politisches Ziel als Abgeordneter der Kommunistischen Partei war dementsprechend eine Hegemonialstellung des Proletariats über die Bauern in gemeinsamer Gegnerschaft zum Bürgertum (Barfuss/Jehle 2014, 9, 25). Aufgrund seines sprachwissenschaftlichen Studienhintergrunds betrachtet er dann Hegemonie synonym mit „Prestige, Anziehungs- bzw. Ausstrahlungskraft“ und überträgt dies gar auf die Öffentlichkeitswirkung Lenins, wovon er sich in den Gefängnisheften wieder distanzieren wird. (ebd., 27f.) In diesen fasst er Hegemonie nun bedeutend weiter und komplexer, was zu den diversen wissenschaftlichen Anschlüssen an seine Theorie geführt hat.

Ernesto Laclau, auf dessen Analysen Hall sich zu großen Teilen stützt, lässt später in seiner diskurstheoretischen Fortführung das ökonomistische Residuum Gramscis zurück - die Prämisse, nach der jegliche Interessenverallgemeinerung vom grundlegenden ökonomischen Interesse der Berufsgruppen ausgehe. Genauso gut könne ein Streben nach Hegemonie im kulturellen Bereich beginnen (Candeias 2007, 181).

2.2 Autoritärer Populismus am Beispiel des Thatcherismus

Den Begriff des autoritären Populismus entwickelt Hall 1980 im sich teils kritisch abgrenzen­den Anschluss an das seiner Meinung nach „allzu durchsichtig[e]“ Konzept des autoritären Etatismus des Staatstheoretikers Nicos Poulantzas. Hall greift dabei auf die politische Theorie von Antonio Gramsci zurück, um die kulturelle Dimension der autoritären staatlichen Tenden­zen mit zu fassen, die in seinen Augen erst für die breite gesellschaftliche, „populare“ Legiti­mation und Akzeptanz derselben sorgen und daher nicht vernachlässigt werden dürfen. (Hall 2014a, 105)

Halls' Erkenntnisinteresse gilt daher vorrangig den „Operationen, die dazu dienen, in diese neuen Formen eines staatlichen Autoritarismus einen popularen Konsens hineinzubinden oder zu konstruieren.“ (ebd.) Er arbeitet drei Aspekte heraus, die eng mit der Krise des demokrati­schen Staates in England zusammenhängen und mit den anhaltenden hegemonialen Kämpfen um diesen verwoben sind. Einerseits beschränken alle drei die demokratische Partizipation „von unten“, andererseits finden sie Wege, „das Volk“ ideologisch in die Krise zu integrieren. (ebd., 104)

1) Die sozialdemokratische >Lösung<

„Mrs. Thatcher hat sich nicht gescheut, es zu sagen -, dass, egal ob >Labour< oder >die Konservativen< am Ruder waren, beim politischen Management des ökonomischen Klassen­kampfes in Wirklichkeit die >Sozialdemokratie< >das Kommando< hatte.“ (Hall 2014a, 107)

Das erste grundlegende Problem sei demnach bereits in der Sozialdemokratie selbst angelegt, die in einem langen Trend des Scheiterns einen „pragmatischen und schleichendem Autorita­rismus“ in Kauf nahm und aktiv beförderte um kapitalistische Krisenerscheinungen aufzufan­gen (Hall 2014a, 104f.). Als staatsinterventionistische Antwort auf die Formierung politischer Klassenkämpfe trete sie mit ihren gewerkschaftlichen als auch Partei-Elementen als integrie­render Akteur zwischen Arbeits-, Staats- und Kapitalinteressen in Erscheinung. Sich als legiti­me Repräsentation der Arbeiterinnen darstellend, sei ihr Hauptziel jedoch die Abmilderung der Akkumulationskrise, wobei ihr repräsentativer Charakter in der Realität weit weniger aus­geprägt sei als ihr interventionistischer. Nötig für diese „sozialdemokratische Lösung“, wie er diese politische Strategie polemisch bezeichnet, wird somit eine Einhegung und „Disziplinie­rung des Klassenkampfes“, deren Akteure „für kapitalistische ökonomische Lösungen“ „ge­wonnen“ werden sollen. Binnen dieser korporatistischen Management-Strategie werden sys­temimmanente Kompromisse zum realen Nachteil der arbeitenden Klassen geschlossen, die kapitalistische Denkgebäude nicht verlassen und den „klassischen sozialdemokratischen Be­griff vom Staat als neutralem Schiedsrichter zwischen den Klassen“ ausnutze, was Hall schlussendlich als eine Gramscianische „passive Revolution von oben“ deutet (ebd., 106f.).

Dass die realen Ergebnisse der Labour-Strategie nicht ausreichten, um deren ideologischen Rückhalt innerhalb ihrer Wähler_innenschaft stabil aufrecht zu erhalten, zeigte sich u.a. an ei­nem erneuten Auftreten massiver Arbeitskämpfe Ende der 1970er Jahre und den Erfolgen der Tory-Partei, die die „desorganisierte Unzufriedenheit der popularen Klassen“ nutzen konnte, indem sie die Sozialdemokratie mit Etatismus und der Agenda eines kollektivistischen Staats­sozialismus gleichsetzten und dazu eine konträre Position einnahmen - „gegen den Macht­block“ (ebd., 107f.).

2) Law & Order

„Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr >führend<, sondern einzig >herrschend< ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, dass die großen Massen sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben.“ (Gramsci zi­tiert nach Hall 2014a, 109)

Als Mitte der 1960er Jahre das aktive und mitunter gewaltsame Einfordern von gesellschaftli­cher Anerkennung und demokratischer Mitbestimmung durch diverse neue soziale Bewegun­gen seinen Lauf nimmt und die sozialen Strukturen und Herrschaftsverhältnisse grundsätzlich in Frage gestellt werden, entsteht ein Unruhezustand mit „Oberflächenerscheinungen“ wie ei­nem Anstieg der Kriminalitätsrate, sexueller Freizügigkeit und „moralischer Permissivität“. Konservative fokussieren allerdings ausschließlich auf diese erst durch sie derart dramatisch und umfassend konstruierte „Krise der moralischen Ordnung“- statt auf deren strukturelle Ur­sachen (Hall 2014a, 108f.). Sie setzen dabei auf die repressiven staatlichen Maßnahmen zur Wiederherstellung vergangener Zustände sowie auf eine ideologische Anrufung der „respekta­blen Arbeiterklasse“ und der kleinbürgerlichen „Ladenbesitzer-Figur“ als weitere Träger des traditionellen Wunsches nach Disziplin. Sie stehen im Zentrum des thatcheristischen Diskur­ses (ebd., 114).

Konsequenz als auch Symptom der „Autoritätskrise“ innerhalb der herrschenden sozialen Ordnung ist dementsprechend die qualitativ als auch quantitativ intensivere Nutzung der re­pressiven Apparate. Die ideologische Legitimationskrise der herrschenden Klassen kann letzt­endlich bedeutsam abgemildert werden, indem sie die in der Bevölkerung auf der „Ebene der universalen, entpolitisierten und erfahrungsbezogenen Sprache“ erlebten Krise in Form „rea- le[r] Erfahrungen und materielle^] Bedingungen [aufgreifen].“ Andere Teile der beherrschten Klassen affirmieren dagegen den Verfall traditioneller Werte und tragen damit unbeabsichtigt zur Legitimation der Strategie bei, den Ruf nach Disziplin als Durchsetzung von Ordnung und Autorität „von oben“ zu übersetzen (ebd., 110).

3) Aufstieg des autoritären Populismus

„Die Rolle organischer Ideologien - derjenigen, die danach trachten, sich über die gesamte Gesellschaft auszubreiten und eine Form des nationalen Volkswillens zur Bewältigung einer gewaltigen geschichtlichen Aufgabe zu schaffen - besteht darin, in das gewöhnliche, wider­sprüchliche, flüchtige Alltagsbewusstsein zu intervenieren; in das „praktische Bewusstsein “ der Massen, in die gegebene Anordnung ihres geistigen Lebens einzugreifen, diese zu erneu­ern und dem Leben eine systematischere Richtung zu geben.“ (Gramsci, zitiert nach Hall 2014a, 203)

Die „organischen“ Ideologien Gramscis werden bei Hall nun im Rückgriff auf Laclau als „praktische materielle Kraft“ gefasst, die den Alltagsverstand diskursiv transformieren bzw. dekonstruieren und rekonstruieren oder auch das „ideologischen Feld[] durch Kampf“ struk­turieren. Solche „praktischen Ideologien“ sind ein enorm wichtiger Bestandteil hegemonialer Kämpfe (Hall 2014a, 110f.) Der Kern des autoritären Populismus ist nun dessen erstaunliche Paradoxie. „Das Volk“ wird erfolgreich angerufen, seinen Willen in einer Autorität aufgehen zu lassen - um seiner selbst Willen. Hier handelt es sich um eine konsensuale Selbstentmach­tung, die erklärungsbedürftig ist.

Innerhalb dieses diskurstheoretischen Laclauschen Bezugs ist die Annahme zentral, dass Ele­mente wie „Populismus“ oder „Demokratie“ nicht einer bestimmten Klasse essentiell einge­schrieben sind, sondern deren Position und Ausformung immer von der aktiven Artikulation bzw. Desartikulation durch teilnehmende Akteure im ideologischen Feld abhängig ist - und damit auch von anderen Klassen als bisher üblich besetzt werden kann (ebd., 111). Im Folgen­den wird beschrieben, wie dies konkret funktioniert.

In „popular-demokratischen“ Diskursen steht der Widerspruch zwischen „dem Volk“ und „dem Machtblock“ im Mittelpunkt der diskursiven Elemente (ebd., 112) Die Ideologien sind darum bemüht, diesen überzeugend aufzulösen. Die englischen Konservativen inszenieren sich bspw. recht erfolgreich als auf der „Wir“-Seite des Antagonismus befindlich, indem sie sich als mutige Verteidiger der Freiheit von Kleinunternehmer- und Individualbesitztum gegen die übermächtige Sozialdemokratie und den durch sie repräsentierten tendenziell kollektivisti- schen, bürokratischen Staatsapparat ausgeben. Dieses Feld, kreisend um „Unterdrücker/ Un­terdrückte“, bietet laut Laclau nämlich Potential für einen Kampf, der „umfassender ist als der von Klasse-gegen-Klasse“ (ebd., 113).

Hall konzentriert sich in seiner Analyse auf das Diskursmoment der „Volksmoral“. Denn ent­scheidend sei,

„dass sie die praktischste materiell-ideologische Kraft in den populären Klassen ist - die Sprache, die ohne Unterstützung von Ausbildung, Erziehung, kohärentem Philosophieren, Ge­lehrtheit oder Bildung die direkte und unmittelbare Erfahrung der Klasse berührt und die Macht hat, die Welt der problematischen sozialen Realität in klare und unzweideutige morali­sche Gegensätze einzuteilen(ebd. 116)

Gerade in Zeiten krisenhafter sozialstruktureller Neuordnungen fungieren moralische Tradi­tionen als Ankerpunkte für durch den sozialpsychologischen Anpassungsdruck Verunsicherte. Konservative Politik erhält dann breite Zustimmung auch in beherrschten Klassen, da sie auf altbekannt Alltägliches setzt, normative Handlungsorientierungen liefert und so eine Strategie der Komplexitätsreduktion für überlastete moderne Subjekte anbietet (Schilk 2016). Für den Thatcherismus arbeiten Hall folgende Themen eines miteinander versponnenen Moralkomple­xes heraus: Verbrechen, Erziehung, Wohlfahrt, Frau/Familie/Sexualität und „Rasse“ (Hall 2014a, 116ff).

Die leicht gestiegene Kriminalitätsrate wird stellvertretend für den Gesamtbereich „Verbre­chen“ herangezogen, welches als eine „innere Bedrohung“ der „bereits beschränkten materiel­len Ressourcen“ und des „Ordnungssinns“ vieler Arbeiterinnen und Kleinunternehmerin­nen wahrgenommen wird. Im Nachkriegs-Kontext der „harten Realitäten einer Konkurrenzge­sellschaft“ sprechen die Forderung nach einer Wiederkehr autoritärer Erziehungsstile im Bil­dungsbereich v.a. besitz-individualistische Eltern an, die durchsetzungsfähige Kinder bevor­zugen (ebd., 117). Ein verschwenderischer Wohlfahrtsstaat untergrabe in unverantwortlicher Weise die ökonomische „Selbstständigkeit der einfachen Leute“, indem er, das Leistungsprin­zip aushebelnd, der Gegenfigur des (meist obendrein kulturfremden) Wohlfahrtsempfängers Steuergelder der hart arbeitenden Bevölkerung schenkt (ebd.).

Frauen und insbesondere Müttern kommt in diesem Moral-Ensemble eine zentrale Stellung zu. Als „Hüterinnen“ der Familie wird ihnen einerseits die natürliche Aufgabe des Konservie­rens von Moral und praktischem Alltagswissen zu Fragen der Haushaltsführung bzw. Famili­enfinanzen bis zur Kindererziehung zugeschrieben, die durch den liberalen Staat in Frage ge­stellt wird, der sie zur Lohnarbeit „zwinge“. Andererseits bilden sie als Frauen ein wichtiges Bindeglied zur konstruierten Gefahr durch männliche „Fremde“ (ebd., 118).

Die Vermischung von abgeschlossen gedachten Kulturen ist demnach die größte aller äußeren Bedrohungen überhaupt. Dieser offene Rassismus wird von Tory in die Form von harmlose­ren Begriffspaaren wie „nationale Kulturen/fremde Kulturen“ oder die Anrufung „unseres Volkes“ gegossen, sodass sozial unerwünschte „extremistische“ Konnotationen von den ras­sistischen Inhalten abgetrennt werden (ebd., 118f.).

Mittels der beschriebenen Moralaspekte erreicht der Thatcherismus letztlich eine „effective penetration into the very heartland of Labour's support: in the unions, the working class and other social strata.“ (Hall 1980, 26). Mit seinen organisch anmutenden Wertvorstellungen von „Tradition, Englischtum, Respektabilität, Patriarchalismus, Familie und Nation“ und seiner Anrufung des „Besitzindividualisten“ überzeugt er seine Wählerinnen sogar mit dem unlogi­schen Wahlslogan „freier Markt und starker Staat“ davon, die neoliberale Agenda anzuneh­men (Hall 2014a, 179). Das folgende Kapitel ist dem Versuch der AfD gewidmet, ihre autori­tär-liberale bis neurechte[9] Programmatik zu bewerben.

3 AfD

3.1 Methodik

Es kann innerhalb einer Seminararbeit lediglich die Behandlung eines Ausschnitts des Kon­zepts des autoritären Populismus stattfinden. Die Auswahl fiel darauf, eine Art Voruntersu­chung für eine größer gefasste Diskursanalyse des kulturellen Hegemonie-Programms der AfD durchzuführen.

Im ersten Schritt wird das Wahlprogramm nach den von Hall identifizierten Kern-Themen des Moral-Diskurses durchsucht und entsprechend zugeordnet. Die Analyse-Kategorien sind fol­gende: Verbrechen, Erziehung, Wohlfahrt, Familie/Mütter/Frau, „Rasse“. Eine Auflistung der konkreten Zuweisungen von (Sub-)Kapiteln sind Tabelle 1 im Anhang zu entnehmen. Belege werden durch einen Verweis auf die Kapitelnummer erbracht, da die Seitennummerierung des Programms nicht durchgängig ist. Anschließend erfolgt je Kategorie jeweils eine kurze Zu­sammenfassung zu inhaltlichen Standpunkten, um im dritten Schritt eine zugegebener Maßen grobe Verdichtung der dort auftretenden diskursiven Elemente vorzunehmen - mehr ist in die­sem Rahmen nicht möglich. Dabei werden exemplarisch einige bedeutsame Aspekte detail- lierter dargestellt um der Fülle an Material gerecht zu werden. Zuletzt werden die Anrufungs­strukturen der fünf Bereiche synthetisiert und der strategische Charakter herausgestellt.

3.2 Analyse

3.2.1 Verbrechen

Im Wesentlichen möchte die AfD repressive Organe stärken, im Speziellen das Racial Profiling technisch ausbauen, das Ausländer-, Jugend- und Abtreibungsstrafrecht verschärfen sowie die EU-Waffenrechtsverschärfung zurücknehmen (4, 7.5). Es wären diverse weitere Aspekte in das Diskursfeld Verbrechen einzuordnen, hier soll der Nachvollziehbarkeit wegen erst einmal auf die tatsächlich strafrechtlich relevanten fokussiert werden. Im Späteren werden die Querverbindungen zu dieser Kategorie verdeutlicht.

Anrufungsubjekt ist der Steuerzahler bzw. „unbescholtene Bürger“ (4.8), dessen Leben, Identität, familiäre Werte und verdiente Rente erstens durch einen „Kulturkampf“ mit dem Islam (9.1) und zweitens durch steigende Kriminalitätsraten und Kosten als Folgen einer „Massenzuwanderung“ aus dem „Armenhaus der Welt“ - Afrika - bedroht sei (3.6). Verknüpft mit diesen rassistischen Primärbedrohungszenarien von außen gegenüber der inneren „Stabilität“ Deutschlands (3.6) ist ein ebenso tief gehender Binnen-Konflikt: Die EU und das deutsche Polit-Establishment seien aktive Komplizen dieser und weiterer dem Volkswillen widersprechenden Entwicklungen und daher grundsätzlich kriminell (1).

Aus der Bewertung der EU als autoritäre Institutionen-Übermacht, die den „unbescholtenen Bürger“ per Waffenverschärfungsgesetz daran hindern wolle, seine Selbstverteidigung gegenüber den äußerlichen Bedrohungen wahrzunehmen (4.7), ergibt sich bspw. die Forderung nach einem „D-Exit“ inklusive Austritt aus der Währungsunion (2). Steuer­Verschwendung durch Behördenangestellte soll durch eine Strafrechtsverschärfung zur Haushaltsuntreue Einhalt geboten werden, wobei impliziert wird, es gäbe einen solchen Straftatbestand[10] noch nicht (1.1.4). Eingebettet ist diese Forderung in viele andere im Kontext eines allumfassenden Antagonismus zwischen einer verbrecherischen, illegal herrschenden politischen Elite und „dem Volk“ (1, 1.3), dessen Souveränität über Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ihm in einem geheimen Putsch entzogen wurde (1, 1.1).

Raffgierig dargestellte Inkassounternehmen, die das Gewaltmonopol des Staates als auch das Urheberrecht missbrauchen würden, um sich an rechtschaffenden Bürgern zu bereichern, die Streamingdienste nutzen, bedienen ein ebenso antisemitisches Motiv wie das der elitären

Verschwörung[11]. Denn dass Dienste gemeint sind, die illegal sind, wird dethematisiert, das Problem sind die „horrenden Kosten“, die diese Art Firmen stellen, bspw. auch an Schuldner. Dem wird das Positiv eines ehrlichen „kaufmännisch eingerichteten Gewerbebetriebs“ entgegengesetzt, dessen „ureigene“ Aufgabe die Schuldnerverwaltung sei (4.8, 4.9).

Der Straftatbestand der Abtreibung - in der Rechtspraxis unter bestimmten Voraussetzungen geduldet - wird pauschal moralisiert, indem einseitig die „Tötung Ungeborener“ als Mord selbstsüchtiger Frauen an Schutzbedürftigen aus illegitimen Beweggründen wie „Selbstverwirklichung“ oder „Zukunftsängsten“ dargestellt, die verfassungsrechtlich verankerten Grundrechte von Frauen auf körperliche Unversehrtheit als auch Selbstverwirklichung hingegen nicht einbezogen wird. Offenbar soll die Schwangerschaftskonfliktberatung Frauen stärker unter Druck setzen als bisher und nur noch diesem Zweck dienen (7.5).

3.2.2 Erziehung

Die AfD verfolgt das Ziel, einen Großteil der in den letzten Jahren erfolgten Reformmaßnahmen im Bildungsbereich rückgängig zu machen - wie den Ausbau von Gemeinschaftsschulen (8.1), Inklusionsmaßnahmen für Behinderte (8.3), Nicht­Heterosexuelle (7.7.1), Migrant_innen (8.4), im Speziellen Muslime (8.8-8.10) sowie das Bachelor-Master-System (8.5). Sie möchte den staatlichen Einfluss auf die Erziehung verringern und dafür das „Elternrecht auf [heteronormative] Erziehung“ (7.7) stärken - gleichzeitig jedoch ihre traditionalistische Werte dominant in die öffentliche Erziehung miteinbinden.

Angesprochen werden familialistisch eingestellte, besorgte Weiße heterosexuelle Eltern, die eine stark leistungsorientierte Erziehung befürworten, keinen Wert auf individuelle Selbstverwirklichung oder soziale Gerechtigkeit legen und als Reaktion auf die gestiegenen Bildungsanforderungen den Wunsch nach einer soliden, erfolgversprechenden Berufswahl ihrer Kinder hegen. Das neoliberale Paradigma der Chancengleichheit wirkt gleichzeitig bedrohlich auf sie, da es den Leistungsdruck auf ihre Kinder und die soziale Abstiegswahrscheinlichkeit erhöhe. Obwohl Leistungsdruck im Allgemeinen affirmiert wird, erscheint sie auf einmal ablehnenswert, sobald sie durch „fremde“ Einflüsse generiert wird. Das öffentliche Bildungs- und Erziehungssystem wird als Teil eines autoritär­kommunistischen Staats identifiziert, der mittels seiner „Einheitsschulen“ und „planwirtschaftlichen“ Universitäten einen „Zwang zur Nivellierung“ durchsetze - hier verbirgt sich die Angst vor einer Anpassung des Leistungsniveaus an neuerdings inkludierte Gruppen (8.6). Letztlich wird der kommunistische Staat in eins gesetzt mit der „Ökonomisierung und Globalisierung“ (8).

3.2.3 Wohlfahrt

Die AfD konzentriert sich stark auf Forderungen nach der Beschränkung jeglicher Sozialleistungen für Langzeitarbeitslose (11.8) und Immigrantinnen, ob für Asylsuchende, EU-Bürger_innen (5.4, 5.7, 5.8) oder ehemalige türkische Gastarbeiter_innen (12.8). Diese Einsparungen sollen in Leistungserhöhungen für Familien mit Kindern (7), Gesundheitssystem (12) und Rentner_innen fließen - vor allem an solche mit Erziehungszeiten (11.7).

Mit den zwei Haupt-Problembezügen „Kinderarmut“/demografische Entwicklung und Migrationskosten sind zukünftige und heutige Rentner angerufen, sich Gedanken um ihre Alterssicherung machen. Immigration wird aus rassistischer Logik heraus nicht als potentielle Lösung der steigenden Asymmetrie zwischen Einzahler_innen und Rentenempfänger_innen in Betracht gezogen. Hinter dem Slogan „Kinderarmut bekämpfen“ steckt lediglich ein Investitionsprogramm in niedrigere Besteuerung von Familieneinkommen („Familiensplitting“), die auf Bezieher_innen niedriger Einkommen - also dort, wo Kinderarmut vorhanden ist - keinen wirklichen Einfluss hat. Es geht hier tatsächlich um die Förderung biologischer Reproduktion von deutschen Ehepaaren mittleren bis besseren Einkommens (11.2, 7.2), d.h. eine Ausrichtung sozialstaatlicher Solidarität auf die heterosexuelle Kernfamilie.

3.2.4 Familie/Mütter/Frau

Die traditionelle Kernfamilie inklusive klarer geschlechtlicher Arbeitsteilung (fußnote kemper) ist konsequenter Weise klares Leitbild der Familien- und Geschlechterpolitik der AfD. Jede Art von Geschlechterforschung, Gender-Mainstreaming, inklusiver Sexualpädagogik, Frauenorganisationen (,die ein Alleinerziehenden-Dasein als „normalen (...) Lebensentwurf propagieren“ - somit sämtliche Frauenorg.) und anderen staatlichen wie nichtstaatlichen Gleichstellungsinstrumenten soll eingestellt (7.3, 7.7), Abtreibung erschwert (7.5), Care-Arbeit wieder mehr ins Private geschoben werden (s.o.,7.4). Das Scheidungsrecht soll teils an Zustände vor 1977 angepasst werden (7.3.1).

Das unter Wohlfahrt besprochene Thema der niedrigen Geburtenraten wird im Diskursfeld Familie noch einmal dramatisch zugespitzt. Der Querverweis auf die von Thilo Sarrazin befürchtete, nahende „Selbstabschaffung“ Deutschlands ist der Anstoß für diese „aktivierende Familienpolitik“ die gleichzeitig eine alte Bekannte, die „nationale Bevölkerungspolitik“ reaktivieren soll (7, 7.1). Wer sich hier v.a angesprochen fühlt, ist der überforderte deutsche Mann - überfordert von gesellschaftlichem Strukturwandel mit steigender Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt durch Frauen und anderen Marginalisierten und sinkender Anerkennung für die eigene heterosexuelle, männliche und Weiße Identität. Das Feindbild Frauenemanzipation/ „Gender-Ideologie“ fungiert als Projektionsfläche für die aus der bröckelnden hegemonialen Position dieser Subjekte resultierenden Verlustängste und Aggressionen (7.7). Die positive Gegenfigur der als natürliche Einheit gedachten, „staatstragenden“ Institutionen „Ehe und Familie“ dient als Rettungsanker für die Souveränität des Staatsvolks (7, 7.1). Doch auch die von Emanzipationsanforderungen und dethematisierten Doppelbelastungen unter Druck stehende und überforderte deutsche Frau wird angerufen. Ihr wird das Angebot unterbreitet, ein gutes Stück Eigenverantwortung abzugeben und im Gegenzug ihre sozialisierten Stärken ausleben zu können ohne dafür in gesellschaftliche Anerkennungs-Ambiguitäten zu geraten.

3.2.5 „Rasse“

Das Wahlprogramm ist derart durchzogen von offenem als auch verdecktem Rassismus, dass aus Platzgründen nur eine Auswahl der wichtigsten Eckpunkte dargestellt werden kann.

Der globalpolitische und wirtschaftliche Einfluss Deutschlands soll vergrößert werden durch einen ständigen Sitz im Nato-Sicherheitsrat (3.1), den Abbau von Marktbeschränkungen zu ausländischen Märkten als Ersatz für Entwicklungshilfezahlungen, während die Übernahme deutscher Unternehmen durch nichtdeutsche zu „verhindern“ sei (3.5, 3.6). Migration solle nur ökonomischen Bedarf entsprechend zugelassen (5.2), das Genfer Flüchtlingsabkommen „neu verhandelt“ und das Asylrecht de facto ausgesetzt werden (5.5). Aufrüstungsvorhaben für Polizei, Militär und Grenzsicherung (inklusive Wiedereinführung der Wehrpflicht) werden zur Abschottung gegenüber „islamischem Terrorismus“ und ausländischen „gewaltbereiten Akteuren“ gefordert, während diese „nationale Sicherheitsstrategie“ keine inneren Bedrohungen zu kennen scheint (3.1-3.4). Eine massive Einschränkung der Religionsfreiheit ist nur im Kontext des Islam vorgesehen - der pauschal mit Terror identifiziert wird („islamischer Terrorismus“ statt „islamistischer“ Terrorismus) - und welchem gar ein eigenes, durchweg kriminalisierendes Kapitel gewidmet ist (6).

Kriminalität wird im gesamten Programm vorrangig rassistisch konnotiert und kontextualisiert (vgl. Kategorie Verbrechen). Aus den Gleichsetzungen miteinander verknüpfter Diskurselemente ergibt sich ein Block aus „islamischem Terrorismus“/Migration/Autokratischer Staatssozialismus/Globalisierung als Negativpol. Diesem wird ein Ideal aus Weltmacht/Volkssouveränität/Kulturreinheit gegenübergestellt. Anrufungssubjekt ist das Weiße Opfer der Globalisierung. Ähnlich dem überforderten Mann verschiebt es seine durch steigende systemische Komplexität und tiefgreifenden Strukturwandel hervorgerufenen Gefühle der Verunsicherung in einen Bereich, der seinem Alltagsverstand zugänglicher ist. Die AfD tritt an dieser Stelle als souveräne Bewahrerin von vermeintlich ursprünglich einheitlicher kultureller Identität und verdienter materieller Ressourcen auf. Ursachen des „Wohlstandsgefälles“ (5.1) zwischen Europa und Afrika werden nirgends diskutiert - als ob es erstens keinen (deutschen) Kolonialismus gegeben hätte, es zweitens keinen neokolonial anmutenden asymmetrischen Freihandel mit afrikanischen Staaten geben würde und Deutschland allein aus sich selbst heraus/aus eigener Kraft/aufgrund seiner Werte zu einem der reichsten Industriestaaten geworden wäre.

3.3 Synthese & Strategischer Charakter

Zwischen den Elementen der vorgestellten Kategorien bestehen diverse und vielschichtige Kopplungen, die an dieser Stelle in einem verdichteten Beispiel veranschaulicht werden:

Das Bild der selbstsüchtigen Frau, die es vorzieht gegen Lohn zu arbeiten und dafür den Mord an unschuldigen Föten, das Aussterben ihrer eigenen Kultur und gar die Gefährdung ihres eigenen Lebens sowie sexuellen und religiösen Selbstbestimmung durch kriminelle fremde Männer in Kauf nimmt, während die richtigen Männer im Gegensatz zur geheim herrschenden Elite gegen die drohende kulturelle Übernahme durch den Islam kämpfen.

Über die Anrufung solch rassistischer, antisemitischer und patriarchaler Diskurselemente und deren Integration ineinander wird eine künstliche Einheit hergestellt, die eine transzendente Verschmelzung von Bürger/innen und Staat zum souveränen Staatsvolk ermöglicht. Alle Abweichungen von der heteronormativen Weißen Norm-Familie als Basiseinheit des Staatsvolks werden einer exkludierten und gleichzeitig minderwertigen Position zugeordnet. Die von Hall als zentral herausgestellte Notwendigkeit, den Widerspruch Volk / Machtblock zu neutralisieren und eine eben solche ideelle Einheit zu versprechen, lässt sich ebenfalls bei der AfD erkennen. Der dafür aufgestellte Haupt-Antagonismus ist der zwischen den in sich widersprüchlichen Blöcken kleiner Mann und elitär-neoliberal-globalistischer / autokratisch- sozialistischer Staat, der den kleinen Mann bedränge und der ehrlich verdienten Früchte seiner Arbeit aus den niederen Beweggründen Habgier und Machthunger berauben wolle. Die Neutralisations-Strategie der AfD ist entsprechend folgende: Sie als Repräsentantin für mittelständisch-kleinunternehmerische und heteronormative, deutsche Steuerzahler aus dem Volk kämpft authentisch gegen die Verschwender da oben. Der personalisierende Charakter dieser Strategie ist offenbar identitätspolitisch doppelbödig. Denn die AfD schafft es, nicht nur Kleinunternehmer mit mittlerem Bildungsabschluss anzusprechen, sondern tatsächlich sogar deutlich mehr Arbeiterinnen[12]. Sie kann sich damit eine breite Basis aufbauen und die „populare“ Konsensbildung ideologisch anführen, die Hall ansprach. Dabei scheint die Identifikation mit den angerufenen Diskurssubjekten ausgeprägt genug zu sein, um darüber hinweg zu sehen, dass ein Großteil der neuen AfD-Abgeordneten im Bundestag Akademiker sind[13]. Das könnte zudem verständlich werden mit einem Verweis auf die Aufgabe des „Organisierens“ der Hegemonie (vgl. Kapitel 2.1) einerseits und dem Wunsch moderner Subjekte nach konkreten verantwortlichen Ansprechparter_innen für ihre komplexen, aber alltäglichen Bezugsprobleme andererseits.

4 Schluss

Die Ausgangs-These lässt sich bestätigen. Es gibt mehr Parallelen als Unterschiede im strate­gischen Charakter kulturellen Hegemoniestrebens beider Akteure. Auch die AfD ruft erfolg­reich Besitzindividualist_innen an, ihnen als aufstrebender akademischer Elite zu vertrauen, ihren erreichten Wohlstand gegen den tendenziell kollektivistischen Staat zu verteidigen. Die breite Themenbesetzung ist in beiden Fällen förderlich, um diverse Berufsgruppen zu inte­grieren und den Anschein eines kompetenten Konzepts zu liefern. Die personalisierte Struktur der formulierten Kritiken ermöglicht zum einen psychologisch entlastende Projektionen und Verschiebungen auf das andere und zum anderen die Vergrößerung des Vertrauensvorschus­ses, der nötig ist um „andere für sich sprechen zu lassen“[14].

Besitzt das Einstiegs-Zitat von Martin Greiffenhagen nun immer noch eine gewisse Aktuali­tät? Die AfD wendet sich offiziell von neoliberalen Zwängen ab, propagiert jedoch ein Kon- zept, das unentschieden irgendwo zwischen autoritär-liberaler und neokolonial/nationalpro­tektionistischer Färbung schwankt. In ihrem kulturellen Programm versprechen sie dafür umso eindeutiger, die Zeit um 60 Jahre zurückdrehen zu wollen. Es ist keine Reflexion dar­über erkennbar, dass das aufklärerische Ideal individueller Selbstbestimmung, das sich seinen Weg durch die Sozialgeschichte bahnt, in der hiesigen flexibel-normalistischen Konsum­Gesellschaft ideologischer Antrieb für den neoliberalen Umbau der westlichen Ökonomien ist und somit ganz grundlegend mitverantwortlich für das im Vergleich stabile und derzeit man­chen schon zu schnell ansteigenden Wirtschaftswachstums[15]. Nur die gesellschaftspolitischen Folgen dieser Ideologie möchte man missen. Dass es im momentanen Zustand der AfD nicht nach einer eindeutigen Affirmation der derzeitigen neoliberalen Formation aussieht, spricht gegen unsere abschließende Fragestellung. Es wird offenbar ein Umbau in Richtung eines au­toritäreren Neoliberalismus angestrebt, auf der ideologischen Legitimationsgrundlage einer reaktivierten homogenen Volksgemeinschaft. Das klingt nach der „Schaffung von etwas Er­haltenswertem“ - einer KonserRevolution[16] als Reaktion auf „Sachzwänge“, deren Grundprämissen von immer mehr Menschen in Frage gestellt zu werden scheinen. Insofern ist es vielleicht an der Zeit, sich die befreienden Implikationen von Gramscis „geschichtlichem Block“ noch einmal vor Augen zu führen.

Literaturverzeichnis

Alternative für Deutschland 2017: Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2017. https://www.afd.de/wp-content/uploads/sites/111/2017/06/2017-06-01_AfD- Bundestagswahlprogramm_Onlinefassung.pdf. Abgerufen am 27.08.2017

Bell, Daniel 1994: Die nachindustrielle Gesellschaft, in: Wolfgang Welsch/Jean Baudrillard (Hrsg.): Wege aus der Moderne: Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Berlin

Bourdieu, Pierre 2013: Politik. Schriften zur Politischen Ökonomie 2. 1.Aufl., Berlin

Eisenstadt, Shmuel; Schluchter, Brigitte 2011: Die Vielfalt der Moderne. Heidelberger Max­Weber-Vorlesungen, 3.Aufl. Weilerswist

Enderwitz, Ulrich 1998: Zur Pathologie kapitalistischer Krisenbewältigung. 2., erweiterte Auflage. Freiburg

Greiffenhagen, Martin 1986: Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland: mit einem neuen Text: "Post-histoire?", Bemerkungen zur Situation des "Neokonservatismus" aus Anlaß der Taschenbuchausg. Frankfurt a.M.

Hall, Stuart 1980: Thatcherism - a new stage? In: Marxism Today, S.26-29. London

Hall, Stuart 2014a: Populismus, Hegemonie, Globalisierung. In der Reihe: Ausgewählte Schriften, Stuart Hall; 5. Hamburg

Hall, Stuart 2014b: Der Thatcherismus und die Theoretiker. In: Ideologie, Kultur, Rassismus. In der Reihe: Ausgewählte Schriften, Stuart Hall; 1. Hamburg

Kellershohn, Helmut 2017: AfD. Der Kampf zweier Linien. http://www.diss- duisburg.de/2017/02/helmut-kellershohn-afd-kampf-zweier-linien/ Abgerufen am 20.03.17.

Lenk, Kurt 1989: Technokratischer Konservatismus. In: Deutscher Konservatismus, Kapitel 12. New York

Oberndorfer, Lukas 2012: Die Renaissance des autoritären Liberalismus? Carl Schmitt und der deutsche Neoliberalismus. In: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 168, 42. Jg. 2012, Nr. 3, 413 - 431.

Schilk, Felix 2016: Souveränität statt Komplexität. Eine Diskursanalyse des COMPACT­Magazins im Kontext der politischen Legitimationskrise der Gegenwart . Münster

Anhang

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

[1] https://www.bundestag.de/parlament/wahlen/ergebnisse_seit1949/244692

[2] Vgl. Eisenstadt 2001, 24ff

[3] Vgl. Kapitel 9.1 im AfD-Wahlprogramm

[4] Vgl. Kapitel 13 im AfD-Wahlprogramm

[5] Vgl. Kapitel 10.6 im AfD-Wahlprogramm

[6] Helmut Kellershohn: AfD - Kampf zweier Linien. Über das Verhältnis von AfD und der Neuen Rechten

[7] Vgl. Kapitel 8 im AfD-Wahlprogramm

[8] Vgl. Stapelfeldt, Gerhard 2012: Neoliberaler Irrationalismus. Aufsätze und Vorträge zur Kritik der ökonomischen Rationalität. Hamburg

[9] Vgl. Oberndorfer, Lukas 2012: Die Renaissance des autoritären Liberalismus? Carl Schmitt und der

deutsche Neoliberalismus. In: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 168, 42. Jg. 2012, Nr. 3, 413 - 431.

[10] Haushaltsuntreue, § 266 StGB

[11] Vgl. Enderwitz, Ulrich 1998: Zur Pathologie kapitalistischer Krisenbewältigung. 2., erweiterte Auflage. Freiburg

[12] http://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-09/wahlverhalten-bundestagswahl-wahlbeteiligung- waehlerwanderung

[13] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/afd-im-bundestag-das-sind-die-neuen-abgeordneten-a- 1169756.html

[14] Bourdieu, Pierre 2013: Politik. Schriften zur Politischen Ökonomie 2. 1.Aufl., Berlin

[15] http://www.zeit.de/wirtschaft/2017-06/wirtschaftswachstum-ueberhitzung-investitionen

[16] Breuer, Stefan (1993): Anatomie der Konservativen Revolution. Darmstadt: Wissenschaftli­che Buchgesellschaft, S. 1-25; S. 180-202.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Ist der autoritäre Populismus auf das Wahlprogramm der AfD anwendbar?
Untertitel
Kulturelle Hegemonieträume der AfD
Hochschule
Technische Universität Dresden  (Soziologie)
Veranstaltung
Konservatismus - Begriff, Gestaltwandel und Strukturkrise einer politischen Ideologie
Note
1,7
Autor
Jahr
2017
Seiten
20
Katalognummer
V427727
ISBN (eBook)
9783668718609
ISBN (Buch)
9783668718616
Dateigröße
520 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Konservatismus, Afd, Neoliberalismus, Hegemonie, Politik, Populismus
Arbeit zitieren
Nora Molinari (Autor:in), 2017, Ist der autoritäre Populismus auf das Wahlprogramm der AfD anwendbar?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/427727

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