Tiefenpsychologische Untersuchung der Erlebnisstruktur des Spielfilms "Das weiße Band"


Masterarbeit, 2016

146 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abkurzungsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Die Handlung des Films
1.2 Produktionsinformationen und Auszeichnungen
1.3 Rezeption in der Presse
1.4 Fragestellung
1.5 Wirtschaftliches Erkenntnissinteresse
1.6 Kulturelle Relevanz
1.7 Aktueller Forschungsstand

2. Theoretischer Hintergrund
2.1 Theorie
2.2 Methode
2.3 Versionengang
2.3.1 Gestaltlogik
2.3.2 Gestalttransformation
2.3.3 Gestaltkonstruktion
2.3.4 Gestaltparadoxie
2.4 Verfahren und Aufbau der Untersuchung
2.5 Stichprobe

3. Wirkungsanalyse
3.1 1. Version - Grundqualitat
3.2 Wirkungsraum
3.3 Verwandlungsmuster
3.4 Paradox
3.5 Kulturbezug
3.6 Zusammenfassung

4. Schlussbetrachtung

Anhang 1

Erlebnisprotokoll

Anhang 2

Interviewbeschreibung 1

Interviewbeschreibung 2

Interviewbeschreibung 3

Interviewbeschreibung 4

Interviewbeschreibung 5

Interviewbeschreibung 6

Interviewbeschreibung 7

Interviewbeschreibung 8

Anhang 3

Transkription

Quellenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Fachzeitschriften

Internetquellen

Abstract

Michael Haneke ist einer der bekanntesten Vertreter des europaischen Autorenkinos. Jeder seiner Filme ist vollkommen anders inszeniert, jedoch alle auf ihre Art einzigartig und bewegend.

Der Spielfilm Das weiRe Band erzielte einen uberragenden Erfolg und wurde zahlreich pramiert. Besonders bemerkenswert ist jedoch, die hohe Bereitschaft der Zuschauer, sich nach der Rezeption intensiv mit dem Film auseinander zusetzen.

Die vorliegende Arbeit untersucht die Erlebnisstruktur des Zuschauers bei der Rezeption des Filmes.

Das Ziel der Master-Arbeit ist die tiefenpsychologische Wirkungsanalyse des Filmerlebens auf der Basis der Methode der morphologischen Psy- chologie.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: DVD Cover aus Deutschland, USA, Russland und Japan (www.cinematerial.com, 2016)

Abb. 2: Wirkungsraum, eigene Darstellung

Abkurzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

„Wir sind alle zu allem fahig“

Michael Haneke

Michael Haneke ist einer der wichtigsten und kontroversesten Regisseure der europaischen Filmgeschichte. Seine Filme laden den Zuschauer ein, einen Perspektivenwechsel zu wagen und hinter die Kulissen der be- schonigten und romantisierten Gesellschaft zu wagen. Er zeigt eine Welt, die jede moralische Grenze uberschreitet und jedes Tabu bricht, und dem Zuschauer trotzdem beangstigen realitatsnah, faszinierend und manchmal unfreiwillig vertraut vorkommt.

Einer seiner letzten Filme, „Das weifte Band“ aus dem Jahr 2009, ist der Gegenstand der Untersuchung dieser Arbeit. Dabei wird das Augenmerk auf das Erleben des Zuschauers beim Betrachten des Filmwerkes gelegt. Dieses Erleben ist die Grundlage der tiefenpsychologischen Wirkungsana- lyse.

Im ersten Abschnitt der Arbeit wird das Thema und die Fragestellung aus- fuhrlich vorgestellt und die wirtschaftliche und kulturelle Relevanz der Un­tersuchung erlautert.

In dem zweiten Abschnitt wird die angewandte morphologische Theorie und Methode erlautert und das Forschungsdesign der Untersuchung vor- gestellt.

Der dritte und letzte Abschnitt der Arbeit beinhaltet die Untersuchungs- auswertung der Wirkungsanalyse des Films auf der Grundlage der in dem vorherigen Kapitel vorgestellten morphologischen Methode.

1.1 Die Handlung des Films

Die Geschichte des Films spielt wenige Tage vor dem Ersten Weltkrieg in einem kleinen kargen Dorf in Norddeutschland. Die Hauptprotagonisten der Geschichte sind die Kinder des Dorfes, die strenger protestantischer Erziehung unterworfen sind, die von stetiger korperlicher Bestrafung und Demutigung gepragt ist. Diese haben sich zu einer Kindergruppe zusam- mengeschlossen, deren Anfuhrerin Klara, die Tochter des Dorfpfarrers ist.

Im Verlauf der Filmhandlung bekommt man einen Einblick in die verschie- den Familienleben der Dorfbewohner, die maftgeblich von Kalte, Distanz und Gewalt gepragt sind. Insgesamt zeigt der Film 6 Familiengeschichten, die im Alltag nur wenige Beruhrungspunkte haben, jedoch wie durch ein unsichtbares Netz durch ihre Kinder miteinander verbunden sind.

Das Dorfleben zeichnet sich nach Auften durch eine fast unheimliche Ru- he und Gottesfurchtigkeit -bevor das Erntefest beginnen darf, werden noch Psalmen gelesen. Hinter den verschlossen Turen zeigt sich das hierarchische, autoritare und von Gewalt und Doppelmoral gepragte Fami­lienleben. Der Film zeigt ein breites Spektrum an Grausamkeiten hinter der ruhigen Fassade, Lugen, perfide Bestrafungsrituale, Brutalitat, suizida- le Kinder und Missbrauch pragen den Alltag der Dorfbewohner.

Regelmaftig wird das Dorfleben durch grausame Ereignisse erschuttert. Alles beginnt mit dem Reitunfall des Arztes. Es finden sich einige Anhalts- punkte dafur, dass jemand das Ungluck provoziert hat, jedoch verlaufen die Ermittlungen im Sande. Als der Sohn des Barons nach dem Dorffest entfuhrt wird, ist es offensichtlich, dass es sich um ein Verbrechen han- delt. Die Polizei kann aber wieder keinen Tater stellen.

Die Verbrechensserie gipfelt in der Entfuhrung des geistig behinderten Sohnes der Hebamme, der schwer misshandelt mit zerstochenen Augen im Wald gefunden wird.

Inzwischen erhartet sich der Verdacht einiger, dass die grausamen Taten von der Kindergruppe, insbesondere von der Anfuhrerin Klara ausgehen. Als der Lehrer des Dorfes seine Vermutung gegenuber dem Pfarrer, dem Vater der Klara, auftert, wird er hart abgewiesen und zum Schweigen ge- zwungen. Der Pfarrer ist sich der Schuld der Kindergruppe sicher, schutzt sie jedoch mit seiner Machtposition.

Auch die Hebamme verschwindet auf dem Weg zu Polizei, wo sie die Ta- ter benennen mochte. Durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges gera- ten die Geschehnisse in Vergessenheit. So bleiben die Verbrechen unge- klart und unbestraft.

1.2 Produktionsinformationen und Auszeichnungen

Der Film Das weiRe Band ist eine europaische Koproduktion mit einem Gesamtbudget von 12 Mio. Euro. Fur die Besetzung der Hauptrollen konn- ten zahlreiche namhafte deutsche Schauspieler gewonnen werden. (vgl. imdb.com, 2010) Insbesondere die schauspielerische Leistung der Kin- derdarsteller wurde zahlreich gelobt und pramiert.

Der osterreichischer Filmregisseur Michael Haneke schrieb das Drehbuch und fuhrte Regie bei dem Film.

Der Film Das weiRe Band startete am 15.Oktober 2009 in den deutschen Kinos und erreichte 400.000 Kinozuschauer. (ffa.de, 2009) Die Einschalt- quoten der Erstausstrahlung im Fernsehen lagen bei 13,2 % Marktanteil und erreichten damit durchschnittlich 4,25 Mio. deutsche Zuschauer. (vgl. Weis, 2011)

Der Film lief auf zahlreichen nationalen und internationalen Festivals, ge- wann 56 Filmpreise und wurde fur 36 weitere Filmpreise nominiert. (imdb.com, 2010). Die bedeutendsten europaischen Auszeichnungen des Films sind die Goldene Palme der Internationalen Filmfestspiele von Can­nes und die dreifache Auszeichnung mit dem Europaischen Filmpreis in den Kategorien „Bester Film“, „Beste Regie“ und „Bestes Drehbuch“. Auch international bekam der Film Das weiRe Band grofte Aufmerksamkeit. Er gewann den „Golden Globe Award“ fur den besten fremdsprachigen Film und wurde in der Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“ fur den Oscar nominiert. (vgl. imdb.com, 2010)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: DVD Cover aus Deutschland, USA, Russland und Japan (www.cinematerial.com, 2016)

Trotz einer sehr pragnanten deutschen Verortung, wurde der Film erfolg- reich weltweit sowohl als Kinofilm als auch auf DVD vertrieben.

1.3 Rezeption in der Presse

Der Film Das weiRe Band wurde zahlreich in der Presse erwahnt und dis- kutiert. Fur die Jahre 2009 und 2010 werden in der Pressedatenbank ge- nios.de uber 4600 Erwahnungen und Artikel zu dem Film gelistet. (geni- os.de, 2016)

Gespannt wurde der Film Das weiRe Band erwartet, in einem Zwiespalt aus Ablehnung und Neugier, denn die letzten zwei Filme von Michael Ha- neke, Cache (2005) und Funny Games US (2007), waren so unterschied- lich inszeniert und trotzdem gleichermaften wirkungsvoll und verstorend.

„Als Filmemacher hat Haneke gegen den Stachel ge- lockt wie kaum ein Zweiter. Mit Filmen, die verstoren und erschrecken. Die immer wieder vom plotzlichen Einbruch der Gewalt in den Alltag erzahlen, ohne diese erklaren zu konnen oder auch nur zu wollen.

Hanekes Filme sind unbequem, man muss, man kann sie nicht mogen. Aber man wird dennoch in sie hineingezogen, liefert sich ihnen fasziniert aus. Und kann sich noch nicht einmal trosten, dass sie mit dem Nachspann zu Ende sind. Hanekes Filme wir- ken noch lange nach.“

( Zander, 2015 )

Michael Hanekes Filme haben nie den Anspruch gehabt, den Zuschauer zu unterhalten oder hohe Einspielzahlen zu generieren. Er verzichtet auf gewohnliche Dramaturgie, vorhersehbare Wenden und zufriedenstellende Enden. Mit jedem Film erschafft er ein eigenes Werk, was gegen Regeln verstoftt und keine Grenzen respektiert und trotzdem eine hohe Anzie- hungskraft fur Zuschauer hat.

„The White Ribbon is a ghost story without a ghost, a whodunit without a denouement, a historical parable without a lesson, and for two and a half hours, this unforgettably disturbing and mysterious film leads its viewers alongside an abyss of anxiety.”

(Bradshaw, 2009)

Kritikerstimmen, die Haneke vorwerfen, er wurde „letztlich nur einen Markt, der tatsachlich immer harteren <Stoff> sucht.“ (Claus, 2007) beliefern, sind selten. Im Gegenteil steht er sehr kritisch zu der Gewaltdarstellung des Mainstream-Films, der die Gewalt uberspitzt und als Unterhaltungsinstru- ment einsetzt, um den Zuschauer zu amusieren. Hankes Ziel ist es viel mehr, den Zuschauer mit einer ungeliebten Realitat der gewaltverherrli- chenden Gesellschaft zu konfrontieren und sie zu zwingen, sein eigenes Medienverhalten zu hinterfragen. Seine Gewaltdarstellungen im Film schockieren, wirken aber niemals plakativ.

„Der Schock entsteht in diesen Filmen allerdings nicht durch explizite Darstellungen, Gewalt spielt sich meist sogar aufterhalb des Bildfelds ab. Es wirkt eher so, als wurde Haneke die Wirklichkeit ganz ungeruhrt auf den Seziertisch legen, und da bleibt nicht viel Hoffnung: ”Na schauen Sie sich doch die grofte Dramatik in der Geschichte der Menschheit an! Schauen Sie sich Shakespeare an, oder die griechi- sche Tragodie, das ist auch nicht so lustig. Wenn man ernsthaft auf die Welt schaut, kann man nicht gerade zu juchzen anfangen.“

(Sterneborg, 2012)

„Ich glaube, als Filmemacher vergewaltigt man den Zuschauer. Und ich will ihn zur Selbstandigkeit ver- gewaltigen. Ich will ihn dazu notigen, selber zu den- ken. Ich will ihn mit Widerspruchen konfrontieren, die er selbst losen muss. Ich will ihm keine Losung ge- ben. Weil er dann schlagartig aufhort zu denken.“

(Interview Michael Haneke, Pohl, 2010)

Die Presse zu dem Film Das weiRe Band setzte sich intensiv mit der Wahl der Hauptprotagonisten auseinander. Der gewagte Schachzug den Kin- derfiguren eine unbandige und dennoch rationalisierte Gewaltbereitschaft zuzuschreiben, destabilisiert den Zuschauer und lasst ihn zweifeln. Die Handlung des Films findet in einer so kompromisslosen und verzerrten Welt statt, in der nicht einmal Kinder vertrauenswurdig und schutzenswert sind.

„Werden die Dorfkinder in der ersten Halfte des Films noch als Opfer der religiosen Unterdruckung dargestellt, konzentriert sich die Regie gegen Ende auf ihre Boshaftigkeit und versucht, gezielt die Ab- scheu der Zuschauer hervorzurufen, als das blut- uberstromte behinderte Kind im Wald gefunden wird.“

( Nees, 2009 )

Die unheimliche und verstorende Kraft der schuldigen Kinder ist Hanke durchaus bewusst. Schon in fruheren Filmen bricht er das Tabu und zeigt ein Kinderbild, welches fern der kindlichen Naivitat und Reinheit ist. Viel mehr uberreizt er es, in dem er in Das weiRe Band die Anfuhrerrolle einer weiblichen Hauptfigur zuschreibt, einer Pfarrerstochter mit einer weiften Schleife im Haar.

„IV: Schon in fruheren Filmen, etwa in "Bennys Vi­deo” oder in "Funny Games", haben Sie den Verlust der Unschuld der Kindheit beschrieben.

MH: Seit Freud ist ja allgemein bekannt, dass die Unschuld der Kinder eine relative Sache ist. Ge- nauso wie in jedem Menschen steckt in jedem Kind eine grofte Portion Grausamkeit. Man muss sich ja nur ansehen, wie Kinder in einem Kindergarten mit- einander umgehen. Die Unschuld der Kinder ist ei- ne Projektion der Erwachsenen. In jedem Men- schen ist alles angelegt, es hangt von den Umstan- den ab, was sich daraus entwickeln kann. „

(Kammerer,2009)

1.4 Fragestellung

Im Rahmen der Masterarbeit werden die Strukturen der Erlebensprozesse und der Nachwirkungen der Zuschauer bei der Rezeption des Spielfilmes Das weiRe Band von Michael Haneke untersucht. Im Zuge der Vorrecher- che wurde eine auftergewohnlich starke Auseinandersetzung der Zu­schauer mit dem Film beobachtet. Die Wirkung und das Erleben des Films Das weiRe Band loste in vielen Zuschauern das Bedurfnis aus, sich in Form von Online- Rezensionen uber den Film zu diskutieren und ihre Er- schutterung, Verwunderung oder Ablehnung zu auftern. Viele der Dis- kussionsbeitrage gingen weit uber die reine Beurteilung des Filmes hinaus und suchten nach Beschonigung oder Rechtfertigung, aber auch nach Be- statigung der heutigen gesellschaftlichen Normen.

Im Rahmen der Untersuchung soll die Frage beantwortet werden, welche seelischen Komplexe mit der Gefuhlsgeschichte des Filmes behandelt werden und zu Nachwirkungen fuhren, die den Zuschauer zu einer inten- siven Auseinandersetzung mit dem Gesehenen bewegen.

In der Untersuchung sollen Probanden befragt werden, die den Spielfilm Das weiRe Band aus eigener Motivation bereits im Kino oder auf DVD ge- sehen haben.

1.5 Wirtschaftliches Erkenntnissinteresse

In der Zeit der heutigen Kinokultur wird es fur Produktionsfilmen immer komplizierter anspruchsvolle und dramatische Filme zu entwickeln und zu produzieren und erfolgreich an der Kinokasse zu vermarkten. Viele Dra- men feiern grofte nationale und internationale Erfolge auf den Filmfesti- vals, erreichen aber nur eine geringe Zahl an verkauften Kinokarten. Der Film von Michael Haneke schaffte es, beide Positionen erfolgreich zu be- dienen. Im Rahmen der Untersuchung soll herausgestellt werden, wie ein Zuschauer angesprochen werden muss, um sich fur eine Filmrezeption eines Dramas zu entscheiden und wie man den Erfolg solcher Filme plan- bar machen kann.

1.6 Kulturelle Relevanz

Der Film Das weiRe Band von Michael Haneke entfuhrt den Zuschauer in einen Moment deutscher Geschichte, der nicht so lange her ist, wie man es sich wunschen wurde. Er zeigt die Natur des Menschen auf eine un- geschonte Art, bereitwillig zu korperlicher und psychischer Gewalt, ge- schutzt durch Mantel religioser Erziehung. Dem Zuschauer wird ein kom- promissloses Weltbild aufgezeigt, welches sich auf den ersten Blick nur schwer mit den heutigen Moralvorstellungen vereinbaren. Trotzdem liegen nur wenige Generationen zwischen den Kindern auf der Leinwand und der heutigen Gesellschaft. Der Film zwing den Zuschauer zu der Frage, ob die heutige Welt tatsachlich so frei von Gewalt, Aggressionen und Unterdruc- kung ist, oder ob diese Faktoren immer noch ein festes Fundament jeder Gesellschaft bilden.

1.7 Aktueller Forschungsstand

Zu dem Film Das weiRe Band gibt es zum jetzigen Zeitpunkt sehr wenige Forschungsarbeiten. Bei der Recherche wurden nur zwei Hausarbeiten aus den Fachbereichen Germanistik und Literatur gefunden, die sich ex- plizit mit dem Film auseinandersetzen. In der Diplomarbeit der Universitat Wien Michael Haneke: Der Einbruch des Realen setzt sich der Verfasser Adrian Jager mit den Filmen Benny’s Video und Cache philosophisch auseinander.

Die ahnliche Thematik der Vergangenheitsbewaltigung und Verdrangung wird in dem Buch Das Lehrstuck „Holocaust“, Wirkungen und Nachwirkun- gen eines Medienereignisses - zur Wirkungspsychologie eines Mediener- eignisses behandelt. Der mehrteilige Fernsehfilm aus dem Jahr 1978 er- zahlt die Geschichte der fiktiven judischen Familie Weift in den Zeiten des Nationalsozialismus. In der morphologischen Forschungsarbeit untersu- chen die Autoren des Buches die Wirkunken und Nachwirkungen des Me- dienereignisses „Holocaust“.

2. Theoretischer Hintergrund

2.1 Theorie

Das theoretische Konzept der Masterarbeit bildet die, in den 1960er Jah- ren von Prof. Wilhelm Salber an der Universitat zu Koln begrundete Mor- phologische Psychologie. Diese ist „eine Wissenschaft, die sich mit der menschlichen Wirklichkeit und ihrem Wandel beschaftigt.“ (Salber, 2013, S.7) Die Grundlage der Morphologische Psychologie bildet der Alltag. Er schlieftt alle alltaglichen Tatigkeiten des Menschen ein und zeigt damit die gelebte menschliche Wirklichkeit auf. (vgl. Salber, 2013)

Die ersten Grundlagen der Morphologie bilden die Werke von Johann Wolfgang von Goethe Die Mophologischen Schriften und Die Metamor­phose der Pflanzen aus den 1790er Jahren. Darin begann Goethe „eine neue Auffassung vom Lebensgeschehen zu entwerfen.“ ( Conrad & Sal­ber, 2006, S .10) Goethe ging darin von Gestalten aus, die standigen Wei- terentwicklungen und Metamorphosen unterworfen waren. Die Verwand- lungen waren nicht beliebig, sondern folgten einem ganzheitlichen Prinzip. (vgl. Balzer & Naderer, 2011, S. 89)

Die morphologische Psychologie „dehnt den Gestalt-Begriff uber Goethes „Morphologie...““. (Salber, 2013, S.62). Der Gestaltbegriff umfasst nicht nur die pflanzliche Entwicklung, er umfasst die gesamte menschliche Exi- stenz. Es wird von Gestalten ausgegangen, die sich nie in einem festen Zustand befinden, sondern standigen Umwandlungsprozessen unterlie- gen. Diese Umwandlungsprozesse werden vor dem Hintergrund des All­tags der Probanden betrachtet. Jede Gestalt wird dabei nie isoliert be- trachtet, sondern stets in direkten Zusammenhang zu anderen Gestalten und Umbildungsprozessen gesetzt.

2.2 Methode

Die Methode nach der in der Morphologischen Medienpsychologie ge- forscht wird, ist die Beschreibung von Erlebensprozessen. Im Fokus der Beschreibung liegt dabei auf den Bildung- Umbildung Prozessen von Ge- stalten. Dabei erzahlt der Proband im Rahmen eines Tiefeninterviews, wie er das Medium erlebt hat und welchen Stellenwert es in seinem Alltag ein- nimmt. Das Interview wird anschlieftend in vier Versionen beschrieben. Dabei wird der Erlebensverlauf rekonstruiert und Schlieftungstendenzen herausgearbeitet.

2.3 Versionengang

2.3.1 Gestaltlogik

In der ersten Version wird eine grundlegende, ubergreifende Qualitat aus allen Interviews gesucht. Der Proband vereinheitlicht alle erlebten Proble- me auf einen Gesamteindruck und versucht eine Atmosphare des Films zu erfassen. Es werden alle Eindrucke zu dem Film aufgenommen. Hier- bei werden auch die Alltagsprozesse der Probanden erfasst, um mogliche Gestaltbildungen und Gestaltverwandlungen zu erkennen. ( vgl. Salber, 2013)

2.3.2 Gestalttransformation

In der zweiten Version wird die Grundqualitat auf ihre Wirkungstendenzen untersucht. Die Spannungsverhaltnisse werden in Form eines Hexa- gramms mit den Gegensatzpaaren Aneignung/Umbildung, Einwir- kung/Anordnung und Ausbreitung/Ausrustung dargestellt.

2.3.3 Gestaltkonstruktion

In der dritten Version (Verwandlungsmuster) wird die Logik der Span­nungsverhaltnisse in dem Wirkungsraum untersucht. Es wird ein logisches Konzept der Gestalten vorausgesetzt, welches aber nicht eine starre Kon- struktion darstellt, sondern beweglich ist. In dieser Version werden der Sinn und die zeitgeistliche Einbettung der Konstruktion gesucht. Durch Experimentieren, Umkonstruieren und Drehen werden vordergrundig un- sichtbare Aspekte offengelegt. (vgl. Salber, 2013). Um ein Erklarungsmu- ster des menschlichen Verhaltens zu erkennen, werden ublicherweise Marchen oder Mythen unterstutzend eingesetzt. Diese geben Anhalts- punkte fur Gestaltbildungen der menschlichen Lebensformen. (vgl. Salber, W. 1999)

2.3.4 Gestaltparadoxie

In der vierten Version (Typisierung) werden die Widerspruche (Paradoxi- en) benannt. Diese sind ein fester Bestandteil der Konstruktion. Blothner benannte im Rahmen seiner Filmanalyse 18 Grundkomplexe, die in jedem Zuschauer bereits vorhanden sind und in der Filmrezension wirksam wer­den. (vgl. Blothner, 1999)

2.4 Verfahren und Aufbau der Untersuchung

Die eingesetzten Verfahren sind das Erlebnisprotokoll und das Tiefenin- terview.

Im ersten Schritt wird das eigene Erleben des Spielfilms in Form eines Erlebnisprotokolls beschrieben und erste Qualitaten und Strukturen herausgehoben. Diese zeigen sich durch eine intensive selbstreflexive Auseinadersetzung mit dem Thema. Die Erkenntnisse sind wesentlich fur die Erstellung des Untersuchungsleitfadens fur die Tiefeninterviews.

Im zweiten Schritt werden unter Einsatz des Interviewleitfadens 8 morpho- logische Tiefeninterviews (TI) durchgefuhrt. Einige Tage vor dem TI erfolgt eine Sichtung des Films durch den Probanden. Ein einzelnes TI hat eine Dauer von 1,5- 2,5 Stunden und wird bevorzugt in einer vertrauten Um- gebung des Probanden durchgefuhrt. Dieses Vorgehen ermoglicht auch einen zusatzlichen Einblick in die unmittelbare Lebenswelt des Proban- den.

Im Rahmen des TI beschreibt der Proband das Erleben des Filmes aus seiner Perspektive. Der Interviewer unterstutzt den IP darin, sein Erleben zu zerdehnen und mit freien Einfallen zu untermalen. Durch das Zerdeh- nen des Erlebens konnen Zusammenhange und Strukturen deutlich wer- den, die vordergrundig unbemerkt bleiben.

Irrelevant ist dabei die Vollstandigkeit der Inhaltswiedergabe. Im Gegenteil ist es sogar wesentlich, welche Handlungsstrange der Proband auslasst und welche Nebenhandlungen, Ungereimtheiten und Widerstande in sei- nem Erleben an hoher Bedeutung gewinnen. Wichtige Erkenntnisse zu unbewussten Prozessen werden in der Interview-Dynamik deutlich.

Im nachsten Schritt erfolgt die Beschreibung der einzelnen Tiefeninter- views. Dabei werden wesentliche Phanomenen herausgearbeitet und strukturiert. Eine vereinheitliche Beschreibung alles Tiefeninterviews zeigt die ubergreifenden Grundstrukturen und ist die Basis fur die Grundqualitat. In den nachsten Schritten werden der Wirkungsraum und das Verwand- lungsmuster ausgearbeitet. Im letzten Schritt wird dem Film ein oder meh- rere Grundkomplexe nach Blothner (Blothner,1999) zugeordnet. (vgl. Sal- ber, 2013)

2.5 Stichprobe

Die Basis der Untersuchung bildet eine Stichprobe von 8 Probanden. Die- se haben den Film Das weiRe Band im Kino oder Fernsehen bereits aus eigener Initiative gesehen. Eine zweite Sichtung des Films erfolgt wenige Tage vor dem Tiefeninterview.

Die Probandengruppe besteht aus 4 mannlichen und 4 weiblichen Pro­banden im Alter von 23 bis 57.

Die Akquise der Probanden erfolgte uber eine Anzeige im Internetportal Das Schwarze Brett Leipzig dsbl.de.

3. Wirkungsanalyse

3.1 1. Version - Grundqualitat

Grundqualitat: Hineingezogen werden in eine verkehrte Welt und vergebli- ches Strampeln

Verkehrte Welt

Der Zuschauer gerat bereits am Anfang des Films in eine verkehrte Welt. Die ersten Bilder des Films prasentieren dem Zuschauer eine idyllische Landschaft, die zunachst an Landurlaube oder an alte, vertraute Fernseh- serien aus der Kindheit erinnern. Dieser Eindruck verkehrt sich schnell, als der Arzt einen Unfall hat. Der Zuschauer befindet sich in einer neuen, un- erwarteten Position und versucht die Situation einzuordnen. Er findet sich immer wieder in Verhaltnissen, die fur ihn offensichtlich verkehrt und zwie- spaltig sind. Er ist gezwungen, sich mit einem Weltbild auseinanderzuset- zen, welches ihm fremd erscheint. Gleich am Anfang wird mit Kinderfigu- ren konfrontiert, die ihn eher an Soldaten erinnern und unheimlich ihm sind. Er muss sich von seinen vertrauten Vorstellungen losen und sich mit der Figur eines bosen, unheimlichen Kindes auseinandersetzen. Immer wieder wird der Zuschauer mit absurden Situationen konfrontiert, die sich eindeutig von seinem gewohnten Weltbild unterscheiden. Er wird durch den Film aufgefordert, die verkehrte Welt zu akzeptieren.

Hineingezogen werden

Der Zuschauer kann sich der Handlung nicht entziehen und wird in sie hi­neingezogen. Die Situation wird mit dem Versinken in einem Sumpf vergli- chen. Er muss sich unwillkurlich auf die Grundstimmung des Films einlas- sen und versucht stetig Auswege aus dem Sumpf zu finden und sich zu befreien, in dem er nach Mittelwegen sucht. Jeder gescheiterte Zwi- schenweg fuhrt aber zu einer weiteren Verstrickung, die ihn weiter hinein- zieht.

Der Zuschauer verliert auch das Vertrauen in die positiv behafteten Dinge, zum Beispiel in die Liebesgeschichte zwischen dem Lehrer und der Eva.

In Erwartungshaltung einer bosen Entwicklung vermutet er bei dem Paar eher eine Verkehrung ins Negative vorstellen als einen positiven Ausgang.

Bis zum Ende des Films gerat der Zuschauer in eine Situation einer voll- kommenen Machtlosigkeit und sucht nach einem entschiedenen Ausweg , weil er eingesehen hat, dass die gedampften Zwischenwege zu keiner Lo- sung fuhren.

Vergebliches Strampeln

Der Zuschauer befindet sich in einer unbekannten, unsicheren Situation und versucht sich an vertraute Muster zu halten.

Er versucht eine mogliche Struktur fur das eigene Erleben zu finden. Eini- ge versuchen den Film in die Form einer Kriminalgeschichte zu bringen, in der Hoffnung eine gewohnte Dramaturgie zu konstruieren. Dieses schlagt fehl, weil nach kurzer Zeit deutlich wird, dass keine relevanten Ambitionen bestehen, die zur Fassung der Tater fuhren konnen.

Die Zuschauer hebt bestimmte Figuren als Helden hervor, um die Ge- schichte zeitweise als einen Western Film zu betrachten. Besonders auf- fallig ist dabei der Versucht den Sohn des Bauern, der in seiner Wut die Kohlkopfe des Barons zerstort hat, als einen Revolutionar zu stilisieren, der gegen die Ubermacht der Obrigkeiten kampft und den Kreis der Un- terwerfung und Ausbeutung durchbrechen will.

Auch die Baronin wird insbesondre von weiblichen Probanden als starke, feministische Frau positioniert, die gegen das patriarchalische System an- kampft. Es werden moderne und vertraute Handlungsmuster gesucht, um eine gewisse Sicherheit innerhalb der Geschichte zu generieren.

Dem Zuschauer fallt es schwer, konsequent bei einer Meinung zu bleiben. So wird die gelobte Rebellion des Bauernsohns nach kurzer Zeit relativiert und als Grund fur den spateren Selbstmord des Bauers angefuhrt. Auch die Handlungen und Entscheidungen der Baronin werden kritisiert und damit relativiert. Bei kritischen Situationen wird ein Mittelweg gesucht. Es geling nicht, klare Positionen zu beziehen oder eine Tater - Opfer Zuord- nung zu finden. Jede negative oder schockierende Tat wird von den Zu- schauern verurteilt und gleichermaften entschuldigt. Beispielsweise wird der brutale Umgang des Pfarrers mit seinen Kindern einerseits kritisch verurteilt, andererseits wird uber Generationen hinweg entschuldigt. Das Verhalten wird von dem Zuschauer durch die erlebten Erziehungsmetho- den des Pfarrers in seiner eigenen Kindheit entschuldigt und damit relati- viert. Die Suche nach dem stetigen Mittelweg fuhrt fast bis zum Ende des Films. In der Szene, in der die Tochter des Pfarrers den Vogel brutal totet, kann der Zuschauer sich der Situation nicht entziehen und muss einge- stehen, dass das dauerhafte Wegsehen Schuld an dieser Situation ist. Als kurz darauf das kleine Madchen weitere Taten beim Lehrer ankundigt und dieser sie nicht ernst nimmt, erlebt der Zuschauer eine selbstverschuldete Machtlosigkeit.

Als der behinderte Junge mit den zerstochenen Augen aufgefunden wird, wird klar, dass die Situation ausweglos ist. Das Ende des Films erlebt der Zuschauer als einen verlorenen Kampf, da eine entschiedene, konsequen- te Haltung gegenuber den Tatern ausbleibt.

3.2 Wirkungsraum

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Wirkungsraum, eigene Darstellung

Aneignung: Suche nach bekannten Schemata

Der Film konfrontiert den Zuschauer sehr abrupt mit einer unbekannten und verwirrenden Situation. Der Anfang des Films mit einem langen schwarzen Vorspann ohne Bilder oder Musik und die schwarz-weift Auf- nahen zwingen ihn sich mit einer neuen Situation auseinander zu setzen. Der plotzliche Unfall des Arztes ist eine uberraschende und schnelle Wendung in Geschehen. Der Film weicht stark von einer klassischen Dramaturgie ab, an die der Zuschauer gewohnt ist. Es werden keine Rol- len eingefuhrt oder Zusammenhange erklart. Der Zuschauer ist zunachst mit der Situation uberfordert. Er sucht nach logischen Anhaltspunkten, um eine Strategie zu entwickeln, die ihn zuverlassig durch den Film bringt. Der Zuschauer versucht die Handlung des Films an eine traditionelle Dramaturgie eines Kriminalfilms anzupassen. Er ordnet die Figuren in Op- fer und Tater ein, scheitert aber daran, weil er Schwierigkeiten hat, sich zu positionieren. Im nachsten Schritt werden Figuren auserwahlt, die ihm ver- traut und modern erscheinen. Diese werden als Helden des Films stilisiert, ihnen wird die Macht zugeschrieben, die Handlung zu verandern. Ein Bei- spiel dafur ist die Figur des Lehrers. Ihm werden von dem Zuschauer posi­tive und moderne Ansichten zugeschrieben. Auf Grund seiner beruflichen Position wird bei ihm eine akademische Bildung vorausgesetzt, die ihn von den anderen Figuren unterscheidet. Dieser Status ist die Grundlage fur ein hoheres Vertrauen in die Figur. Sie setzen in ihn die Hoffnung, eine Ver- anderung herbeizufuhren. Er bekommt von dem Zuschauer einen Ver- trauensvorschuss.

Auch die Figur der Baronin wird als eine feministische Heldin positioniert. Der Zuschauer sieht in ihr eine moderne Frauenfigur, die bereit ist, ihren Mann zu verlassen, um ihre Kinder zu schutzen. Sie wird mit den anderen Frauen im Film verglichen, die unterwurfig handeln und keine moderne Vorbildfunktion erfullen.

Umbildung: Halte das Unmogliche fur moglich

Der Film provoziert den Zuschauer und fordert ihn auf, sein gewohntes Weltbild zu verlassen. Er prasentiert eine Welt mit anderen Gesetzen und Maftstaben. Der Zuschauer muss sich von Anfang an mit unublichen Fi- guren und Situationen auseinander setzen. Gleich am Anfang wird er mit Kindern konfrontiert, die bedrohlich und hart wirken. Sofort muss der Zu­schauer seine Vorstellung von der unbeschwerten und unschuldigen Kin- derfigur umdenken und sich auf ein neues, noch undurchsichtiges Welt­bild einstellen. Im Verlauf des Films wird er weiter mit Situationen konfron­tiert, die in seiner alltaglichen Welt nicht ublich sind, merkt aber, dass die- se Welt trotz der anderen Maftstabe und Gesetze besteht und funktioniert. Ein weiteres Beispiel ist der suizidale Sohn des Pfarrers, der seinen Selbstmord provozieren will, in dem er Gott die Moglichkeit geben will, ihn zu toten. Die Szene konfrontiert den Zuschauer mit einer verzerrten und absurden Situation, die aber innerhalb der Filmhandlung plausibel und glaubwurdig ist.

Anordnung: Entscheidungszwange und scheiternde Auswege

Von dem Zuschauer wird von Anfang an eine Entschiedenheit verlangt. Er wird mit verschiedenen Situationen konfrontiert, die zur einer Entschei- dung drangen. Es fallt ihm aber schwer sich zu positionieren und eine kla- re Aussage zu treffen. Der Zuschauer etabliert fur sich einen Mittelweg, mit dem er sich zunachst sicher fullt. Er hat damit die Moglichkeit einer- seits zu werten und anderseits die Aussagen sofort zu relativieren. Er ent- zieht sich damit einer klaren Entscheidungsfindung. So fallt es ihm bei- spielsweise leichter, die Taten die Kinder zu entschuldigen, indem er die Schuld der elterlichen Erziehung gibt. Im Verlaufe des Films merkt er aber, dass er die fehlenden Entscheidungen zu einer Zuspitzung des Gesche- hens fuhren und das eine endgultige Entscheidung gefordert ist. Zum En- de des Films versucht der Zuschauer nicht mehr einzelne Positionen zu entschuldigen. Er drangt immer starker zu einer Aufklarung der Situation und einer Bestrafung der Tater. Es wird immer weniger relevant, dass es bei den Tatern um anfangs schutzenswerte Kinder handelt. Der starke Drang nach einer endgultigen Losung der Situation uberwiegt beim Zu- schauer.

Einwirkung: Ausweg suchen

Der Zuschauer versucht in dem gesamten Filmverlauf einen Ausweg zu finden. Dieses findet auf verschiedene Arten statt. Der Zuschauer sucht nach Pausen aus dem Filmgeschehen, zum Beispiel werden die Liebes- geschichte zwischen dem Lehrer und der Eva oder das Dorffest von dem Zuschauer als einen Moment zum Aufatmen beschrieben. Er sucht ver- rauenswurdige Momente in denen er sich der kurz der Verkehrtheit der Dinge entziehen kann. Ein weiterer Versuch des Auswegs, ist die stetige Suche nach Mittelwegen, um sich einer konkreten Situation zu entziehen. Er versucht die Moralvorstellungen der heutigen Gesellschaft immer wie- der in der Handlung einzubinden und sich damit zu rechtfertigen.

Ausrustung: Political Correctness

Die Wahrnehmung der Zuschauer, sowohl der Interviewpartner, als auch der Schreiber der Filmrezensionen, ist stark gepragt von politischer Kor- rektheit. Da der Film kein konkretes Gut- Bose- Schemata vorgibt, ist der Zuschauer gezwungen, sich selbst eine Meinung zu bilden und eine Posi­tion zu beziehen. Dieses fallt dem Zuschauer schwer, jede negative Hand- lung wird uber mehrere Generationen entschuldigt. So wird das Verhalten des Pfarrers gegenuber seinen Kindern durch die vermuteten rigorosen Erziehungsmethoden seines Elternhauses entschuldigt. Es ist fur den Zu- schauer schwer, eine klare Tater - Opfer Struktur zu konstruieren. Auch schon bei kurzen negativen Aufterungen gegenuber einzelnen Personen, hat der Zuschauer das Bedurfnis sich zu entschuldigen. Eine Moglichkeit der Distanzierung findet der Zuschauer in der Verschiebung der Handlung in die Vergangenheit. Aus der damit neu gewonnenen Perspektive geling es ihm leichter zu urteilen und das Geschehen zu sortieren. Immer wieder sucht der Zuschauer Bestatigung, in dem er betont, dass in der heutigen Zeit alles vollkommen anders und so eine Situation vollkommen unmoglich ware.

Ausbreitung: Aussohnen mit der Verkehrtheit

Der Zuschauer wird durch den Film gezwungen, sich mit der Verkehrtheit der Dinge auseinanderzusetzen. Im Verlauf der Handlung wird das Be- durfnis des Zuschauers, sich auf die verkehrte Welt einzulassen und sie wertfrei zu akzeptieren, immer grower. Er ist bereit, die in der Handlung funktionierenden Gesetzte und Maftstabe anzuerkennen und nach diesen zu Handeln.

3.3 Verwandlungsmuster

In der 3. Version wird das Verwandlungsmuster herausgearbeitet.

Dieses findet sich in dem Marchen „Das Marienkind“ von den Gebruder Grimm wieder. (vgl. Grimm, 2015)

Die Struktur des Marchens entspricht ebenfalls einer Scherenstruktur, wie auch die Struktur des Filmes „Das weifte Band“

Zu Beginn des Marchens wird das Marienkind von der Jungfrau Maria in den Himmel geholt. Es gerat erstmal in einer Position, in der es sicher und gut aufgehoben fuhlt. Ebenso wie der Zuschauer, der am Anfang des Films die ihm gezeigte Welt als idyllisch und vertraut empfindet.

Das Marienkind sucht, wie der Zuschauer immer nach einem Mittelweg in einer Situation, die nach einer konsequenten Entscheidung verlangt. Als es von der Jungfrau Maria das Verbot ausgesprochen bekommt, die 13. Tur nicht zu offnen, entscheidet es sich fur einen Zwischenweg, die Tur nur ein kleinen Spalt zu offnen. Es will nicht auf den Blick hinter die Tur verzichten, aber es will auch nicht mit den Konsequenzen einer Ubertre- tung konfrontiert werden.

"Ganz aufmachen will ich sie nicht und will auch nicht hineingehen, aber ich will sie aufschlieRen, damit wir ein wenig durch den Ritz sehen."

Als das Marienkind von der Jungfrau Maria mit ihrem Fehlverhalten konfrontiert wird, entzieht es sich wieder einer konsequenten Entscheidung, in dem es lugt und verneint, die Tur aufgemacht zu haben. Diese Handlung fuhrt dazu, dass das Marienkind aus dem Paradies auf die Erde zuruckfallt. Diesen Fall aus der Idylle erlebt auch der Zuschauer, als er sich abrupt durch den Unfall des Arztes in einer verkehrten, unbekannten Welt wiederfindet. Das Marienkind fugt sich den Umstanden, verfallt aber immer wieder zuruck in die Erinnerung, wie sein Leben fruher war und vergleicht es mit der neuen verkehrten Welt. Den gleichen Zwiespalt erlebt auch der Zuschauer, er versucht sich einerseits mit der verkehrten Welt zu arrangieren, andererseits vergleicht er die verkehrte Welt mit seiner gewohnten Welt.

Als das Marienkind von dem Konig im Wald gefunden wird und auf sein Schloss geholt wird, ist es ein Moment zum Aufatmen. Solche Momente erlebt der Zuschauer auch in der Liebesgeschichte zwischen dem Lehrer und der Eva oder bei dem Dorffest. Diese scheinen einem Ausweg aus der verkehrten Welt zu bieten.

Als das Marienkind einen Sohn zu Welt bringt, erscheint die Jungfrau Ma­ria und stellt es vor die Entscheidung, entweder die Wahrheit zu sagen, oder das Kind zu verlieren. Da das Marienkind nicht bereit ist, konsequent sein Vergehen zu gestehen, nimmt die Jungfrau Maria das Kind mit in den Himmel. Seine Unentschiedenheit fuhrt dazu, dass die Menschen verlan- gen, dass das Marienkind hingerichtet wird. Der Konig kann es verhindern, jedoch verstrickt es sich immer weiter in die negative Situation.

Wieder bekommt das Marienkind ein Kind von dem Konig und wird von der Jungfrau Maria vor die Entscheidung gestellt, entzieht sich jedoch der Konsequenz und verliert auch das zweite Kind. Wieder erregt das Ver- schwinden des Kindes aufsehen und das Volk verlangen die Hinrichtung. Der Konig kann es noch mal richten, aber die Situation wird immer kompli- zierter. In diese Situation gerat der Zuschauer ebenfalls, durch das standi- ge Entziehen von konsequenten Entscheidungen und Positionierungen, kann er sich zwar kurzzeitig in Sicherheit wiegen, verstrickt sich aber im- mer tiefer. Beim dem dritten Kind hat das Marienkind die Gelegenheit sei­ne zwei Kinder im Himmel zu sehen und bekommt einen Ausweg angebo- ten. Wenn es die Wahrheit sagt und entschieden zu seinem Vergehen steht, bekommt es die Kinder zuruck. Das Marienkind entzieht sich wieder und verliert auch das dritte Kind.

Auch der Zuschauer bekommt einen Ausweg geboten. In der Szene, in der die kleine Pfarrerstochter dem Lehrer ihren Traum beichtet, bekommt er eine Moglichkeit sich konsequent zu positionieren und entschieden zu handeln.

Dem Zuschauer wird zunehmend bewusst, dass er nur durch Entschie- denheit sich aus der Situation retten kann. Er umgeht aber die konsequen- te Entscheidung wieder einmal. Er versucht die Situation zu relativieren, obwohl ihm bewusst ist, dass das vorherige Geschehen, welches sich in der brutalen Totung des Vogels gipfelt, unausweichlich eine entschiedene Konsequenz fordert.

Das Marienkind wird mit der Zuspitzung der Unentschiedenheit konfron- tiert, in dem der Konig es nicht mehr retten kann und es wird zum Schei- terhaufen gebracht wird. Als dem behinderten Jungen die Augen zersto- chen werden, wird der Zuschauer ebenfalls mit der Konsequenz seiner Unentschiedenheit konfrontiert. In diesem Moment begreift er, dass er die Situation nur durch eine klare Positionierung retten kann. Auch in dem Marchen kann sich das Marienkind vor dem sicheren Tod retten, in dem es endlich konsequent in dem letzten Moment die Wahrheit sagt. Dadurch wird es gerettet und bekommt die Kinder zuruck. Diese Auflosung der Si­tuation fehlt allerdings im Film. An dem Punkt an dem der Zuschauer be- reit zu einer konsequenten Positionierung ist und die Bestrafung der Tater fordert, wird er enttauscht. Die gewunschte Stellung der Tater wird durch den Pfarrer verhindert und die Situation lost sich nicht auf. Es ist dem Zu­schauer bewusst, welche Handlung notwendig ware, um einen Ausweg zu bilden, jedoch ist er machtlos und muss sich mit der Stagnation abfinden. Das offene Ende des Films hinterlasst bei dem Zuschauer das Bedurfnis, sich weiter mit der Geschichte zu befassen. Er kann sich mit der unabge- schlossene Handlung nicht abfinden und sucht verstarkt eine fortfuhrende Auseinandersetzung, die sich unter anderem in dem Bedurfnis auftert, im Rahmen von Filmrezensionen im Internet sein Erleben fortzusetzen.

3.4 Paradox

In der 4. Stufe des Versionenganges werden die Paradoxien dargestellt, die beim Schauen des Filmes behandelt werden. Es handelt sich dabei um zwei Komplexe nach Blothner „Verkehrung- Halt“ und „Zerflieften - Konsequenz“ ( Blothner, 1999, S.95 ff) .

Verkehrung - Halt

Der Film „Das weifte Band“ konfrontiert den Zuschauer mit einer Welt, die nicht mit seinem gewohnten Umfeld kompatibel ist. Gleich am Anfang des Films wird er aus einer vertrauten, idyllischen Umgebung rausgerissen und in eine verkehrte Welt versetzt. Er findet sich in einer Situation wieder, der er nicht mehr trauen kann und selbst gewohnte, zuverlassige Dinge in Frage stellt. So kommen dem Zuschauer von Anfang an die Figuren der Kinder suspekt und bedrohlich vor, er ist gezwungen umzudenken und sein gewohntes Bild von dem unschuldigen und vertrauenswurdigen Kind zu uberdenken. Im Verlaufe des Film wird er standig mit Situation und Er- eignissen konfrontiert, die ihm zwiespaltig erscheinen.

Der Zuschauer sucht in dieser verkehrte Welt nach einem vertrauten Halt, der ihm als Hilfestellung dienen kann, um in dieser fremden Welt zu recht zu kommen. Er sucht sich bestimmte Figuren, die seinen modernen Vor- stellungen entsprechen, in denen er etwas Vertrautes wiederfindet.

Die Figur des Lehrers wird von den Zuschauer zu einer modernen Figur stilisiert, ihm werden positive Eigenschaften und ein progressives Weltbild zugeschrieben, Auf Grund seines vermuteten akademischen Grades und seiner Erfahrung, wird ihm eine Weltoffenheit und Weisheit zugeschrie­ben, die ihn deutlich von den anderen Bewohner des Dorfes unterschei- det. Der Zuschauer stellt aber eine hohe Erwartungshaltung an die Figur des Lehrers und ist zunehmend enttauscht, als er merkt, dass der Lehrer in relevanten Situationen nicht ausreichen reagiert.

Weitere Halte fur den Zuschauer bilden unter anderem die Liebesge- schichte zwischen dem Lehrer und der Eva, die Figur der Baronin, als moderne Feministin und die Figur des Bauernsohns, der als rebellischer Held stilisiert wird. In solchen vertrauten Strukturen versucht der Zuschau­er einen Halt in der Verkehrung zu finden. Allerdings findet der Zuschauer im Verlaufe des Films einen Gefallen an der Verkehrtheit, fangt an ihre Funktionalitat zu verstehen und beginnt sich mit ihr auszusohnen. Sobald er sich aber der Verkehrung zu sehr angenahert hat, sucht er aber wieder Halt in vertrauten Mustern und Strukturen. Der Zuschauer findet sich in ei- nem Spannungsverhaltnis zwischen der Neugierde auf das Fremde Ver- kehrte und der Suche nach Sicherheit in dem Vertrauten.

Zerflieften- Konsequenz

Im Verlaufe des Films „Das weifte Band“ wird der Zuschauer in eine Welt versetzt, die von ihm eine konsequente Haltung einfordert. Der Zuschauer versucht sich aber einer konsequenten Entscheidungsfindung zu entzie- hen und sucht nach Auswegen und Mittelwegen. Am Anfang des Films weicht er jeder Situation aus, in der er eine klare Position beziehen muss- te. Es fallt ihm beispielsweise schwer, eine konsequente Meinung zu dem prugelnden Pfarrer zu bilden, er verliert sich selbst in seinen vielfaltigen Ausfluchten, in dem er das Verhalten des Pfarrers uber Generationen hinweg entschuldigt oder die Schuld den zu passiven Kindern gibt. Das standige Zerflieften in den vielfaltigen Alternativen und Entschuldigungen fuhrt zu einer Zuspitzung der Situation, die immer harter einer klare Positi­on einfordert. So lange wie moglich versucht der Zuschauer die Moglich- keit des Ausweichen beizubehalten, selbst als alle Fakten fur die Schuld der Kinder sprechen, versucht er optional noch eine weitere fiktive Person in das Geschehen einzubinden, die fur die Taten verantwortlich gemacht werden soll.

Erst als der behinderte Sohn der Hebamme mit zerstochenen Augen auf- gefunden wird, besteht der Zuschauer auf eine konsequente Entschei- dung. Er hat eingesehen, dass die vorherigen Ausfluchte aus der Situation zu dem Zustand beigetragen haben. Als er von dem Film die Konsequenz einfordert und die Tater gestellt und bestraft sehen will, wird er enttauscht.

Der Film entzieht sich einer konsequenten Entscheidung und zerflieftt in Ausfluchten. Jegliche Versuche die Tater zu Rechenschaft zu ziehen scheitern und alles bleibt in einer unsicheren, wagen Situation bestehen.

3.5 Kulturbezug

Die heutige Kultur ist stark gepragt von einem standigen Schwanken zwi- schen vielen Moglichkeiten und Ausfluchten. Die Bereitschaft sich konse- quent auf eine Entscheidung zu positionieren, ist sehr gering. Die Angst vor den Folgen einer falschen Konsequenz ist so groft, dass vermehrt Ausfluchte gesucht werden und versucht wird, eine Vielzahl an Moglich­keiten zu kombinieren. Dieses Vorgehen ist charakteristisch fur die Ein- und Auskuppelkultur der Gesellschaft.

Dieses Verhalten zeigt sich bei den Zuschauern des Filmes „Das weifte Band“. Es fallt ihnen schwer, eine klare Meinung zu bilden. Selbst eine klare Opfer - Tater Zuordnung scheitert, weil sie gleichermaften den Tater entschuldigen und das Opfer beschuldigen. Es wird immer eine unrealisti- sche Balance angestrebt. Jede Anbahnung einer Positionierung wird von ihnen selbst aufgehalten und relativiert. Standig auf der Suche nach Zwi- schenwegen, verlieren sie sich immer mehr und fuhlen sich machtlos.

Dieses Vorgehen wird auch in der Realitat praktiziert, jede Entscheidung und Positionierung wird mit einem hohen Maft an politischer Korrektheit und versuchter Ausgewogenheit getroffen, dass letztendlich keine sinnvol- len Ergebnisse entstehen.

Der Film Das weiRe Band konfrontiert den Zuschauer mit einer Welt, in der unsicheres Schwanken nicht funktioniert. Stattdessen wird von Anfang an eine Konsequenz gefordert, die er mit seinem gewohnten Wertesystem zunachst nicht vereinbaren kann. Im Verlaufe des Films werden ihm aber die Folgen seiner Untatigkeit immer wieder vor Augen gefuhrt. Er erkennt, dass in manchen Situationen eine konsequente Positionierung und Ent- schiedenheit sinnvoll gewesen ware und fangt an, sich mit der ungewohn- ten Welt anzufreunden.

3.6 Zusammenfassung

Der Film Das weiRe Band versetzt den Zuschauer in ungewohnte Welt und in eine verzerrte Situation. Er wird mit vielen Unklarheiten konfrontier- te und muss sich darin orientieren. Es fallt ihm schwer, denn das dort ge- lebte Weltbild lasst sich nicht mit den moralischen Rahmenbedingungen der heutigen Gesellschaft konfrontieren. Der Film fuhrt ihm eine kompro- misslose Welt vor, in der von jedem ein hohes Maft an Entschiedenheit verlangt wird. Diese Entschiedenheit kann und will der Zuschauer zu- nachst nicht erbringen. Er versucht durch den ganzen Film durch ein fur sich ertragliches Arrangement zu finden, indem er in jeder kritischen Situa­tion einen Zwischenweg bildet. Zunachst erscheint es ihm plausibel, denn so muss er sich nicht positionieren und fur eine bestimmte Figur Partei er- greifen. Er kann somit einerseits das Opfer bemitleiden, aber auch andererseits den Tater schutzen. Diese Flucht vor Konsequenzen fuhrt aber dazu, dass sich die Situation schnell verschlimmert und der Zuschauer immer tiefer in die verkehrte Welt reingezogen wird.

Jeder Versucht vor einer Konsequenz zu fliehen fuhrt zu einer immer hef- tigeren Zuspitzung des Geschehens. Zunehmend erkennt er auch die Vor- teile der entschiedenen Gesellschaftsstruktur.

Erst als die Gewalt ihren Hohenpunkt erreicht, fordert der Zuschauer eine bedingungslose Konsequenz von dem Film ein. Doch der Film enttauscht ihn, als der Zuschauer zu Entschiedenheit bereit scheint und eine Bestra- fung der Tater herbeisehnt, wendet sich der Film und sucht selbst einen Mittelweg. Diese Verkehrung bringt den Zuschauer aus der Fassung, es fuhrt ihm vor Augen, wie machtlos ihn seine anfangs praferierte Flucht in die Zwischenwege gemacht hat. Er ist bereit fur ein konsequentes Han- deln, bekommt aber keine Chance dieses auszufuhren.

4. Schlussbetrachtung

In der Einleitung wurde die Frage aufgeworfen, mit welchen Mitteln Mi­chael Haneke den Zuschauer mit einem Film so bewegen kann, dass er zur einer intensiven Auseinadersetzung nach der Filmrezension gedrangt wird.

Im Rahmen der Untersuchung wurden die Strukturen sichtbar, die den Zu­schauer beeindrucken und verstoren.

Der Film Das weiRe Band bringt den Zuschauer in eine, fur ihn ungewohn- te Welt. Er findet sich in einer Zeit wieder, die wenige Generationen von der Heutigen entfernt ist, aber vollkommen fremd erscheint. Die Welt, die ihn gezeigt wird, ist gepragt von emotionaler Kalte, Gewalt und Skrupello- sigkeit. Jeder Handlung oder Entscheidung folgen unvermeidbare Konse- quenzen.

Aus der heutigen Perspektive erscheint die Welt zunachst beangstigen und unbequem. Die Ein- und Auskuppel Kultur der heutigen Gesellschaft wirkt einfacher und lasst viele Auswahlmoglichkeiten. Entscheidungen werden unverbindlich getroffen und verworfen, konsequentes handeln wird eher noch verurteilt. Im Verlaufe der Filmhandlung erkennt der Zuschauer aber die Vorteile einer konsequenten Gesellschaftsstruktur und arrangiert sich mit ihr. Als er sich seiner Entscheidungen sicher ist und Konsequen- zen einfordert, wendet sich der Film und hinterlasst ihn mit einer Lucke, die er durch den Film nicht ausfullen kann. Diese unbefriedigende Situati­on fuhrt dazu, dass sich die Auseinadersetzung mit dem Film weit uber die Filmrezension fortsetzt.

Anhang 1

Erlebnisprotokoll

Der Film beginnt mit Stille. Diese Stille erscheint mir unendlich lang und unertraglich.

In der Zeit, in der der Vorspann eingeblendet wird, gibt es keine Gerau- sche. Es ist ungewohnt fur mich, etwas ohne Ton zu sehen. Ich bin verun- sichert, ob es richtig ist oder ob meine DVD einen Fehler hat. Nach einer Weile kommt die Stimme des Erzahlers und erlost mich aus meiner An- spannung. Der Erzahler klingt alt und verunsichert, aber vertrauenswurdig. Erst nach einer Weile wird ein Bild eingeblendet. Es zeigt eine idyllische Landschaft und einen Reiter. Kurz beneide ich den Reiter, ich muss an ei­nen Urlaub denken, wunsche mir selbst in der Umgebung zu sein. Doch dann spricht der Erzahler von dem Reitunfall des Arztes und auf dem Bild sturzt ein Mann mit dem Pferd. Der Reiter bleibt regungslos am Boden lie- gen, eine junge Frau rennt aus dem Haus und rennt zu dem Mann. Kurz zeigt das Bild das Pferd, welches sich auf dem Boden windet. Es tut mir leid, ich frage mich kurz, ob es jetzt erschossen wird. Es wird offen gelas- sen, was mit dem Arzt ist und was genau passiert. Im nachsten Bild sieht man eine strenge Frau, die ihren Sohn von der Schule abholen will. Sie trifft auf eine Gruppe Kinder. Ein Madchen ist eindeutig die Anfuhrerin , sie ist mir sofort unsympathisch. Ihre Fragen nach dem Zustand des Arztes wirken unehrlich und eher neugierig und missgunstig. Es scheint, als ob sie unzufrieden damit sind, dass der Arzt sich erholen wird und irgend- wann zuruck kommt. Die Kinder gehen in einer geschlossenen Gruppe davon und die Frau holt ihren geistig behinderten Sohn ab. Im nachsten Moment sieht man die Anfuhrerin der Kindergruppe bei sich zu Hause. Der strenge Vater bestraft alle Familienmitglieder mit Essensentzug fur das Vergehen zweier Kinder. Niemand widerspricht dem Vater. Er kundigt eine offentliche Bestrafung der Kinder am nachsten Tag an, vor den an- dren Kindern der Familie. Die Kinder tun mir leid, ich empfinde die Bestra­fung zu hart , nur fur ein verspatetes Zuruckkommen. Der Vater will die Kinder auch mit einem weiften Band markieren. Ich muss an einen Juden- stern denken. Die Kinder werden gebrandmarkt. Im Anschluss sagt der Vater, dass die Bestrafung fur ihn viel schlimmer ist, als fur die Kinder. Er wurde die ganze Nacht schlecht schlafen, bei dem Gedanken an die mor- gige Bestrafung. Ich finde die Aussage scheinheilig. Die ganze Situation ist erniedrigend fur die zwei erwachsenen Kinder. Keine traut sich zu wi- dersprechen. Die Kinder werden ins Bett geschickt. Ich empfinde das Vor- gehen nicht angemessen, muss aber unwillkurlich an einige Kinder in meinem Bekanntenkreis denken, die komplett konsequenzenlos erzogen werden und damit unertraglich sind. Ich frage mich, ob es einen Mittelweg geben kann.

Ganz nebensachlich wird ein zweiter Unfall erwahnt, eine Arbeiterin kommt im Sagewerk um. Zum ersten Mal erlebe ich ehrliche Gefuhlsre- gungen im Film. Der Mann der Arbeiterin trauert um sie. Erstmals spure ich eine echte Liebe und Trauer. Die Arbeiterfamilie strahlt viel mehr Liebe und Zusammenhalt aus, als die anderen Figuren. Kurz muss ich zuruck an die Baronin und ihr Kind und an die Pfarrersfamilie denken. Sie erschei- nen mir so pragmatisch und leblos.

Der Dorflehrer sieht ein Kind des Pfarrers im Wald auf einer Brustung ba- lancieren. Das Kind erscheint mir verzweifelt, anders als seine Schwester kampft er anscheinend mit Schuldgefuhlen. Seine Verzweifelung tut mir leid, er ist ein Kind und versucht einen Selbstmord zu provozieren. Er er- klart dem Lehrer , dass er Gott die Chance geben wollte, ihn zu toten. Er bittet den Lehrer, nichts seinem strengen Vater zu sagen. Sicherlich weift der Lehrer, dass diese Tat eine weitere Reihe von harten Bestrafungen nach sich ziehen wird und schutzt den Jungen.

Der Lehrer trifft zum ersten Mal auf das junge Kindermadchen der Baro­nin. Es entsteht ein unbeholfener aber ehrlicher Flirt. In diesem Moment spure ich richtige Emotionen. Das vorsichtige Annahern der Beiden anein- ander versohnt mich etwas mit der vorherigen Handlung des Films. Es ist ein Lichtblick in der kargen Handlung des Films. Die Gefuhle der des jun- gen Madchens und des Lehrers erinnern mich an einen Disney Film, so unrealistisch in der heutigen Gesellschaft.

In der nachsten Szene sehe ich ein junges Madchen mit einem kleinen Jungen am Tisch sitzten. Zunachst ist mir nicht klar, welche Rolle sie spielt. Ich frage mich, ob es ihr eigenes Kind ist. Erst kurze Zeit spater er- fahre ich, dass es sich um die Kinder des Arztes handelt. Die Schwester ist sehr liebevoll zu ihrem Bruder. Das kleine Kind fragt sie nach dem Tot der Arbeiterin und der Mutter. Die Schwester versucht es so gut es geht zu erklaren. Dabei ist sie selbst noch fast ein Kind. Ich spure eine tiefe Liebe zwischen den Beiden. Der kleine Junge strahlt eine ehrliche kindli- che Naivitat aus.

Die nachste Szene reiftt mich wieder aus der Idylle raus. Die Bestrafung der Pfarrerskinder steht an. Die Mutter schneidet ein weiftes Band zurecht um die Kinder zu brandmarken. Die Familie verschwindet hinter der ver- schlossenen Tur. Keiner sieht was gerade passiert. Aber ich spure einen Kloft im Hals. Ich muss kurz an die heutige Zeit denken, unwillkurlich an den Fall Natascha Kampusch, ich frage mich, was wirklich alles hinter ver- schlossenen Turen passiert. Der Sohn des Pfarrers kommt aus dem Zim­mer gerannt, er musst die Rute fur seine Bestrafung holen. Kurz darauf hort man die Schlage und die Schmerzensschrei der Kinder. Ich will am liebste den Film ausschalten. Der Sohn des Pfarrers tut mir leid, ich frage mich, ob er deswegen seinem Leben ein Ende setzen wollte. Kurz merke ich , dass ich deutlich weniger Mitleid gegenuber Clara, der Tochter des Pfarrers empfinde.

Ein groftes Fest findet statt, alle sind heiter und frohlich. In der Zeit der Feier zerstort der Sohn der toten Arbeiterin die Kohlkopfe auf dem Feld. Ich kann die Tat nachvollziehen. Er ist der erste in dem Film, der sich ge- gen die Ungerechtigkeiten der Geschehnisse wehrt. Ich ahne, dass die Tat fur ihn grofte Konsequenzen haben wird, habe aber Verstandnis fur seine Trauer und Wut . Die Arbeiterfamilie macht dem Sohn schwere Vor- wurfe, seine Unvernunft und seine Rachsucht wurde die ganze Familie ins Ungluck sturzen. Sein Vater wirft ihn aus dem Haus. Er tut mir leid, bis jetzt ist er der einzige im dem Film, der Courage zeigt.

Ein kleiner Lichtblick kommt in die dustere Handlung. Der kleine Sohn des Pfarrers bittet seinen Vater, einen verletzten Vogel zu pflegen. Dieser Junge ist rein und ehrlich. Zum ersten Mal spure ich bei dem Vater eine Liebe zu seinem Kind. Ich frage mich, ob dieser Junge sich auch veran- dern wird, ob er die Eigenschaften seiner Geschwister annehmen wird oder ob es eine Chance gibt, dass er diese Liebe weiter in sich tragen wird. Er ist ein Hoffnungsschimmer in der Geschichte.

Der Sohn des Barons verschwindet und wird erst spater schwer verletzt wiedergefunden. Er ist gefesselt und misshandelt worden. Die Tat erinnert mich an die Bestrafung der Pfarrerskinder. Ich ahne, dass die Kinder da- hinter stecken und versuche den Sinn dieser Tat zu verstehen. Fur was haben sie den kleinen Jungen bestraft? Der Junge ist verstort und kann den Tater nicht benennen. Ich wunsche mir so sehr, dass der Schuldige gefunden wird und auch seine Strafe dafur bekommt. Die Polizei befragt alle, zum ersten Mal kommt Bewegung in die Ermittlungen. Ich frage mich, warum vorher keiner so intensiv gehandelt hat.

Der Pfarrer spricht mir seinem altern Sohn, er fragt ihn ob er nachts ma- sturbiert und zwingt ihn dazu, die Handlungen zuzugeben. Er erniedrigt sein Kind, spricht von einem schnellen korperlichen Verfall und sagt ihm, dass er ihn zu Sicherheit nachts an das Bett fesseln wird. Der Junge tut mir leid, er scheint mir verzweifelt. Ich denke, an den Moment, an dem er sich im Wald umbringen wollte.

[...]

Ende der Leseprobe aus 146 Seiten

Details

Titel
Tiefenpsychologische Untersuchung der Erlebnisstruktur des Spielfilms "Das weiße Band"
Hochschule
BSP Business School Berlin (ehem. Potsdam)
Note
2
Autor
Jahr
2016
Seiten
146
Katalognummer
V427552
ISBN (eBook)
9783668716919
ISBN (Buch)
9783668716926
Dateigröße
1180 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
tiefenpsychologische, untersuchung, erlebnisstruktur, spielfilms, band
Arbeit zitieren
Polina Klebanova (Autor:in), 2016, Tiefenpsychologische Untersuchung der Erlebnisstruktur des Spielfilms "Das weiße Band", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/427552

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