Die Reproduktion der Gesellschaft. Die Habitustheorie von Pierre Bourdieu und das Modell der soziologischen Erklärung


Diplomarbeit, 2003

132 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung
1.1 Fragestellung
1.2 Vorgehensweise

2. Bourdieus Habitustheorie
2.1 Die Soziologie Pierre Bourdieu`s
2.2 Der Habitus…
2.3 Kapitalformen
2.3.1 Ökonomisches Kapital
2.3.2 Kulturelles Kapital
2.3.2.1 Inkorporiertes kulturelles Kapital
2.3.2.2 Objektiviertes kulturelles Kapital
2.3.2.3 Institutionalisiertes kulturelles Kapital
2.3.3 Soziales Kapital
2.3.4 Symbolisches Kapital
2.3.5 Kapitalumwandlungen
2.4 Das soziale Feld
2.5 Klasse und sozialer Raum
2.5.1 Der soziale Raum
2.5.2 Die Klasse
2.5.3 Klasse und Habitus
2.6 Funktionen und Bedeutung des Habitus
2.7 Die Reproduktion sozialer Ungleichheit
2.7.1 Die Lebensstiltheorie
2.7.2 Die Reproduktion sozialer Strukturen

3. Die soziologische Erklärung und die Habitustheorie
3.1 Das Modell der soziologischen Erklärung
3.1.1 Das Konzept soziologischer Erklärungen
3.1.2 Das Grundmodell soziologischer Erklärungen
3.2 Die Erklärung in der Habitustheorie
3.2.1 Die Einverleibung der Gegebenheiten
3.2.2 Der Habitus
3.2.3 Die Generierung von Praxisformen
3.2.4 Die Reproduktion
3.3 Eine kritische Betrachtung der Habitustheorie
3.3.1 Allgemeine Modellbetrachtung
3.3.1.1 Klassen und Lebensstile
3.3.1.2 Berücksichtigung der Zeit
3.3.2 Die Situation
3.3.2.1 Situation und Struktur
3.3.2.2 Feld und Raum
3.3.2.3 Feld und Kampf
3.3.2.4 Kapital
3.3.2.5 Das inkorporierte kulturelle Kapital
3.3.2.6 Klasse
3.3.3 Die Logik der Situation
3.3.3.1 Habitus und Framing
3.3.3.2 Strategie und Habitus
3.3.3.3 Familiale Sozialisation
3.3.4 Der Habitus
3.3.4.1 Reduktion des Akteurs?
3.3.4.2 Bounded Rationality
3.3.4.3 Informationsverarbeitung und Geschmack
3.3.5 Die Logik der Selektion
3.3.5.1 Habitus und Rational-Choice
3.3.5.2 Subjektive Logik?
3.3.6 Die soziale Praxis
3.3.6.1 Ambivalenz in Distinktion und Lebensstil
3.3.6.2 Prozesshaftigkeit der Praxis
3.3.6.3 Die Homologie der Räume
3.3.7 Die Logik der Aggregation
3.3.8 Resümee

4. Implikationen
4.1 Verbesserungsvorschläge
4.2 Die Erklärung einer Reproduktion
4.2.1 Das kollektive Explanandum
4.2.2 Die Logik der Situation
4.2.3 Die Logik der Selektion
4.2.4 Die Logik der Aggregation

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einführung

Der französische Sozialwissenschaftler Pierre Bourdieu wäre am 1. August 73 Jahre alt geworden. Er wurde 1930 in einem kleinen Ort der französischen Pyrenäen geboren und durchlief alsbald die komplette wissenschaftliche Karrierehierarchie Frankreichs, wo er sich auch aufgrund der Aufnahme in das „Collège de France“ 1982 schließlich zur Akademikerelite zählen durfte. Im französischen Ausland wurde er hauptsächlich durch sein materialreiches Werk „Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“ bekannt, in welchem er Forschungen über die Interdependenz zwischen sozialstruktureller Positionierung, der Ausprägung klassenspezifischer Geschmacksdispositionen und der sich darauf gründenden symbolischen Lebensführungsstile, bezogen auf die französische Gesellschaft der 60er und 70er Jahre, betrieb.

In den letzten Jahren seiner Arbeit wollte er sein Schaffen vor allem als Anthropologie verstanden wissen: Als umfassende Analytik des vergesellschafteten Menschen. Dabei nahm er eine Position ein, mit welcher er den Gesellschaftsmitgliedern eine soziale Praxis zuordnete, die durch systemische Befangenheit ausgezeichnet war. Er stellte bei diesen den „Sinn für das Spiel“ fest, der jegliche Handlung bestimmt und ihnen damit die Möglichkeit einer permanenten Selbstreflexion nimmt.

In seiner Antrittsvorlesung am „Collège de France“ referierte er in der „leçon sur la leçon“ über die Herrschaftsmechanismen von Vorlesungen, um damit der Akademikerwelt, der er ja selbst angehörte, die Neutralität zu nehmen. Die Erkenntnis und die Offenbarung dieser Wirkungen betrachtete er als Freiheitserhalt aufgrund der Reflexion des Selbst und der Dinge. Nur diese Reflexion, die er dem sozialisierten Akteur weitgehend abstreitet, ermöglicht es, die Herrschaftsmechanismen zu erkennen und zu überwinden, um nicht an der Reproduktion der Herrschaft beteiligt zu sein.

Mit dieser kritischen Haltung vor allem gegenüber dem Neoliberalismus hatte er das von ihm selbst gepflegte Ideal weltanschaulicher Neutralität abgelegt und so auch natürlich kritische Gegenreaktionen auf sich gezogen.

Um zu seinen Erkenntnissen über einen handelnden Akteur in der Gesellschaft zu gelangen, musste Bourdieu jedoch den Gegensatz von makrosoziologischen Gesellschaftsanalysen und mikrosoziologischen Handlungstheorien überwinden, da nur so der Beitrag der Gesellschaft im individuellen Handeln zu ermitteln ist.

In ursprünglichen, klassischen Theorien wurde versucht, Soziologie nur auf der makrosoziologischen (Durkheim, Parsons) oder nur auf der mikrosoziologischen (Mead, Schütz, Homans) Seite zu betreiben, was eine Einseitigkeit des jeweiligen Forschungsgegenstands mit sich brachte.

Eine logische Lösung konnte also nur in der Verbindung dieser beiden Gegensätze zu finden sein. So hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, die gegenteiligen Ansätze zu überwinden, um so ein Gesellschaftsmodell aufzustellen, welches die Oberfläche der Gesellschaft in Form der Strukturen mit einem adäquaten Handlungsbegriff, der sozialen Praxis, verbinden sollte.

Über dieses Modell stellte er dann ein stark sozial determiniertes Subjekt fest, welches offenbar in erster Linie damit beschäftigt war, die Strukturen in Form der gegebenen Herrschaftsverhältnisse zu reproduzieren.

Diese Reproduktion steht nun im zentralen Interesse dieser Arbeit. Diese und die von Bourdieu herausgearbeiteten Zusammenhänge werden in den nächsten drei Kapiteln zu untersuchen sein.

1.1 Fragestellung

In seiner eigentümlichen Praxeologie der Praxis stellte Bourdieu also einen Handlungsbegriff auf, durch welchen eine Reproduktion des Selbst und der Strukturen nahezu vorgegeben war. Im Mittelpunkt dieses Ansatzes stand dabei das theoretische Konstrukt des Habitus, über welches Bourdieu glaubte, jedes soziale Handeln erklären zu können.

In dieser Arbeit werden die theoretischen Erkenntnisse der Habitustheorie dann in Hinsicht der Leistung als adäquate soziologische Erklärung zu untersuchen sein.

Im zentralen Interesse wird dabei die über den Handlungsbegriff vermittelte Erklärungskraft stehen, die in der Habitustheorie zu finden ist. Dabei wird auf die Aussagen der erklärenden Soziologie zurückzugreifen sein. Deren Konzept ist ausgerichtet auf interdisziplinäre Kooperation, vor allem mit den Fachgebieten der Psychologie, der Sozialpsychologie, der Ökonomie, Recht oder Geschichte. Die erklärende Soziologie basiert auf Arbeiten von z.B. Boudon und Coleman; Vertreter in Deutschland sind z.B. Diekmann, Esser, Friedrichs u.a.

Das in der erklärenden Soziologie aufgestellte „Modell der soziologischen Erklärung“ wird in dieser Arbeit die Grundlage bilden, um die Habitustheorie zu untersuchen. Dieses Modell enthält die Verbindung von Mikro- und Makroebene. Es entgegnet einer Gleichsetzung von Akteuren im methodologischen Individualismus und individuellen menschlichen Subjekten und betont eine Modellierung von unintendierten und unentrinnbaren Folgen situationsgerechten Handelns, um so gesellschaftliche Phänomene erklären zu können.

Das Ziel der auf diesen Modellen beruhenden Soziologie ist die Erklärung kollektiver Tatsachen als eigentlicher Gegenstand soziologischer Untersuchungen, was jedoch nur über die Gesetze des individuellen Handelns zu erreichen ist. Dieses Ziel ist auch der Praxeologie Bourdieu`s zu entnehmen.

In dieser Arbeit gilt es nun aufzulösen, inwiefern Pierre Bourdieu diesem Ziel nachkommt, bzw. ob die Habitustheorie eine adäquate soziologische Erklärung darstellt. Wird der Mikro-Makro-Gegensatz überwunden und kann der Handlungsbegriff Bourdieu`s soziales Handeln tatsächlich erklären, um so die Ermittlung des Beitrags der Gesellschaft in der individuellen Praxis adäquat zu ermöglichen?

1.2 Vorgehensweise

Inwiefern die Habitustheorie nun als eine soziologische Erklärung im Sinne der erklärenden Soziologie betrachtet werden kann, wird also zu großen Teilen am Handlungsbegriff festzumachen sein. Die theoretische Priorität der Auflösung der gestellten Fragen wird daher auf der Individualebene liegen. Um diese Thematik nun zu bearbeiten, wird wie folgt vorzugehen sein.

Im nun folgenden zweiten Kapitel wird eine sehr ausführliche Beschreibung der Habitustheorie die Grundlage für die darauf folgende Diskussion sein. Dabei wird das als äußerst komplex zu betrachtende Werk Bourdieu`s in einer Weise dargestellt werden, die sowohl die Vielfalt seiner Forschungen und Analysen erkennen lassen, aber dennoch den konstruierten „theoretischen Werkzeugen“, mit denen er seine Theorie schließlich aufstellte, eine bestimmte Ordnung verleihen soll. Dazu werde ich zunächst auf die Soziologie, die Pierre Bourdieu betrieb, eingehen, um den Hintergrund bzw. die Ermöglichung der Habitustheorie überhaupt darzustellen.

Im darauf folgenden Abschnitt soll dann auf den Habitus eingegangen werden, der sich dann durch die ganze Vorstellung der Theorie ziehen wird. In den nächsten drei Abschnitten und ihren Unterabschnitten sollen daran anschließend die theoretischen Konstrukte des Kapitals mit seinen Unterformen, des Felds, der Klasse und des sozialen Raums aufgeführt werden, um daraufhin wiederum auf den Habitus und seiner Funktion bzw. Bedeutung nunmehr im Kontext dieser von Bourdieu konstruierten Werkzeuge einzugehen.

Das zweite Kapitel schließen wird dann die Erklärung der Reproduktion, wobei hier in erster Linie die Lebensstiltheorie dargestellt wird, und nur kurz der gesamte als Reproduktion zu bezeichnende Prozess, welchen die Habitustheorie beschreibt, angesprochen wird. Diese Zusammenfassung wird dann erst im nächsten Kapitel schon in Bezug auf die Logiken der erklärenden Soziologie gegeben.

Das dritte Kapitel wird sich hauptsächlich im Rahmen der kritischen Diskussion der Habitustheorie abspielen. Dazu soll im ersten Abschnitt zunächst nur kurz das Modell der soziologischen Erklärung dargestellt werden, um so einen Einblick in die Schritte und Logiken von diesem zu geben. Weite Teile werden dabei jedoch vorausgesetzt. Der nächste Abschnitt bezieht sich dann auf die angesprochene Zusammenfassung der Habitustheorie, welche hier bereits in vergleichbare Schritte eingeteilt wird, um eine anschließende kritische Diskussion zu erleichtern. Diese wird dann im darauffolgenden Abschnitt stattfinden und in die einzelnen Elemente und Schritte aufgegliedert sein, die einer soziologischen Erklärung entsprechen. Diesen Abschnitt und zugleich auch dieses Kapitel abschließend wird dann ein vorzeitiges Resümee diese Kritik in ihren wesentlichsten Merkmalen nochmals aufgreifen.

Im vierten Kapitel werden dann die aus den vorherigen Kapiteln gewonnenen Erkenntnisse dazu verwendet, diverse Verbesserungen im modelltheoretischen Bereich auf die Habitustheorie vorzuschlagen. Den zweiten und letzten Teil dieses Kapitels wird dann eine Anwendung der Habitustheorie mit Einbezug dieser Modifikationen auf die Elemente und

Schritte des soziologischen Erklärungsmodells darstellen.

Die Arbeit abschließend folgt ein Fazit, in welchem nochmals kurz die prägnanten Punkte aufgegriffen werden, um schließlich eine zusammenfassende Aussage über die aus den gewonnenen Erkenntnissen zu ziehenden Implikationen in gesellschaftstheoretischer wie in modelltheoretischer Hinsicht zu geben.

2. Bourdieus Habitustheorie

Im Zentrum der Soziologie Bourdieu`s stehen soziale Ungleichheiten und damit zusammenhängend Formen der Herrschaft. In erster Linie behandelt er dabei jene Herrschaftsformen, die er mit symbolischer Herrschaft bzw. symbolischer Gewalt bezeichnet. In den Kontext der symbolischen Gewalt gehen gemäß seiner Kultursoziologie jene Formen und Modi der Herrschaft ein, welche über spezifische, auf Kultur bezogene Lebensweisen bzw. Arten der Lebensführung vermittelt werden. Dies garantiert eine Institutionalisierung und somit eine gesellschaftliche Legitimierung dieser, um so wiederum durch die dadurch implizierte Selbstverständlichkeit unseres Denkens Kultur zu produzieren bzw. zu reproduzieren.[1]

Bourdieu geht von einer ungleichen Verteilung von Ressourcen innerhalb der Gesellschaft aus. Hierbei entscheidend sind die Kapitalformen des ökonomischen, des Bildungs- und des sozialen Kapitals (Beziehungen, Netzwerke), welche dem Einzelnen je nach Klassen bzw. Klassenfraktionen, in welche er hinein geboren wurde, unterschiedlich eigen sind. So bieten sich dem Akteur unterschiedliche Chancen, seine Fähigkeiten zu nutzen, die ihm durch die „famille d`origin“ gegeben sind. Entsprechend seiner Bezugsumgebung erlernt der Mensch Habitusformen, die als latente Denk-, Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster fungieren. Diese differieren zwischen den einzelnen Klassen aufgrund der unterschiedlichen Situation, die dort jeweils besteht. Durch das Erlernen dieser Habitusformen durch die nachfolgende Generation und durch die verfügbaren klassenspezifischen Ressourcen dieser, wird der Einzelne nur wenige Entscheidungsmöglichkeiten als relevant betrachten und es werden klassenspezifische Entscheidungen gefällt. So findet eine soziale und kulturelle Reproduktion der Ungleichheitsstruktur der Gesellschaft - vor allem bezüglich der Oberschicht - statt.

Wie dies von statten geht wird später anhand des Konstruktes des Habitus und diesbezüglich weiterer determinierender Begrifflichkeiten genauer erläutert. Zunächst jedoch soll noch die soziologische Theorie Bourdieu`s dargestellt werden, um den Hintergrund und das Gedankenbild seines Werkes verständlich zu machen.

2.1 Die Soziologie Pierre Bourdieu`s

„Hätte ich meine Arbeit in zwei Worten zu charakterisieren, das heißt, wie es heute oft geschieht, sie zu etikettieren, würde ich von strukturalistischem Konstruktivismus oder von konstruktivistischem Strukturalismus sprechen...“ (Bourdieu 1992: S. 135).

So äußerte sich Pierre Bourdieu in einem an der Universität von San Diego gehaltenen Vortrag (März 1986) zu seinem Gesamtwerk. Strukturalismus bezeichnet die Methode der Beschreibung objektiver Strukturen, die unabhängig vom Bewusstsein einzelner Akteure bezüglich ihres Handelns die Gesellschaft bestimmen und so deren Lebenswelt ausmachen. Konstruktivismus beschreibt die Entstehung und Entwicklung („soziale Genese“) von Handlungs-, Wahrnehmungs- oder Denkmuster der einzelnen Akteure, aber auch von gesellschaftlichen Strukturen.

Mit dieser Erklärung legt er zugleich das grundlegende Spannungsfeld seiner theoretischen Überlegungen dar. In den Sozialwissenschaften bedeuten die beiden theoretischen Ansatzpunkte des Strukturalismus und des Konstruktivismus ein vermeintlich sehr schwer verträgliches Gegensatzpaar. Es ist der Gegensatz zwischen Objektivismus und Subjektivismus, welchen Bourdieu in seinem Werk überwinden wollte. Er sah diese Dichotomisierung als künstlich und falsch an und hatte die Annäherung und Zusammenführung der beiden Teilwahrheiten zum Ziel. Er geht diesbezüglich von zwei unterschiedlichen Modi theoretischer Erkenntnis aus, die objektivistische Erkenntnis und die phänomenologische Erkenntnis, welche den Subjektivismus betrifft.

Der objektivistische Ansatz findet sich hauptsächlich im Strukturalismus von Claude Lévi Strauss oder Ferdinand de Saussure wieder. Die strukturale Anthropologie von Lévi-Strauss lässt sich als die eigentliche theoretische Herkunft Bourdieu`s bezeichnen, obwohl er sich theoretisch zunehmend davon distanzierte. Sein Vorwurf bezüglich des Objektivismus galt der mechanischen Handlungstheorie, bei welcher die Akteure lediglich zur Erfüllung der objektiven Struktur dienten - ihr Handeln sei bloß durch die Struktur determiniert.

Die phänomenologische Sichtweise betrifft in erster Linie den Existentialismus Jean-Paul Sartres, aber auch die Phänomenologie von Alfred Schütz, die Ethnomethodologie (Garfinkel) sowie der symbolische Interaktionismus (Mead, Blumer) finden sich darin wieder. Der phänomenologische Ansatz wird dabei als eine auf die Primärerfahrungen der Menschen reduzierte Soziologie dargestellt, wobei die Phänomenologie als die Lehre von Erscheinungen dabei eine Zusammenschau der erlebten Dinge der Menschen bedeutet, wie Interaktion, Kommunikation oder Tauschbeziehungen. Die phänomenologisch orientierte Soziologie bezieht sich lediglich auf eine praktische Auffassung der Lebenswelt. Und genau darauf bezieht sich auch die Kritik Bourdieu`s diesbezüglich: Die Reduktion auf Alltagserfahrungen sei in der Soziologie wissenschaftlich unzureichend. Genau dann werde der zusätzliche Sinn vergessen, der in ihrem Handeln stecke, eben jener, der sich auf die Funktionalismen und Strukturen beziehe.

Daher kommt es in der Bourdieuschen Soziologie zu einer Abgrenzung vom Strukturalismus Lévi-Strauss`, aber auch von der subjektivistischen Erkenntnisweise, was ihm die Entwicklung einer dritten, der praxeologischen Erkenntnisform, und damit das Überwinden des Gegensatzes von Subjektivismus und Objektivismus ermöglicht. Bourdieu benutzt Argumente der jeweiligen Gegenposition, um phänomenologischer wie objektiver Erkenntnisweise zu widersprechen, was darauf hinweist, dass er diese nicht vollkommen ablehnen kann; vielmehr vereinigt die praxeologische Soziologie Elemente aus der objektivistischen und aus der subjektivistischen Betrachtungsweise, so dass in diesen Ansatz sowohl die Erkenntnisweise bezüglich der objektiven Strukturen und Relationen als auch die Logik bezüglich dem sozialen Handeln der Akteure in Form von „dialektischen Beziehungen zwischen diesen objektiven Strukturen und den strukturierten Dispositionen, die diese zu aktualisieren und reproduzieren trachten“ (Bourdieu 1979: S.147), einfließen.

Dies lässt sich mit Bourdieu auch als der Unterschied zwischen der Logik der wissenschaftlichen Erkenntnis und der Logik der praktischen Erfahrung ausdrücken, mit anderen Worten: Der Unterschied zwischen Theorie und Praxis.

Die Logiken von Theorie und Praxis folgen verschiedenen Regeln. Die praktische Logik betrifft das Handeln bzw. Praktiken innerhalb spezifischer Handlungsrahmen. Sie bezieht sich auf die Befriedigung von Praxisbedürfnissen realer Akteure, obliegt somit einer ökonomischen Denkweise und ist dadurch zeitlich. Wissenschaftliche Logik dagegen sollte von praktischen Bedürfnissen losgelöst und zeitlos sein. Unter den Bedingungen der Abkopplung von der Praxis kann die Wissenschaft lediglich eine spezifisch wissenschaftliche Wahrheit, aber keinesfalls eine Praxisrelevanz beanspruchen.

Eine soziologische Theorie lässt sich nur dann erstellen, wenn das wissenschaftliche Fundament des theoretischen Verhältnisses zur Praxis herausgestellt und reflektiert wird; d.h.

dass eine fundamentale Differenz von theoretischer Erkenntnispraxis und praktischer Erkenntnispraxis den Gegenstand dieser Reflexion bildet, wobei die unterschiedlichen zeitlichen, ökonomischen bzw. logischen und sozialen Bedingungen beider Praxisformen

kontrastiert heraus zu arbeiten sind. Diese Herausarbeitung bildet schließlich den ersten Grundstein für Bourdieus ‚praxeologischen‘ Versuch der Überwindung des Gegensatzes zwischen Objektivismus und Subjektivismus. Der zweite Grundstein ist die Habitustheorie, welche auf ,praxeologischer´ Reflexion aufbauend die Mechanismen der Entstehung von Praxis und praktischer Logik zu erklären versucht. Der Habitusbegriff stellt dabei das Bindeglied zwischen den als objektiv verstandenen Strukturen und der subjektiven Praxis der Akteure dar. Zusammen mit den theoretischen Konstrukten Kapital, Raum und Feld soll das Konzept des Habitus den Umfang und Gehalt des praxeologischen Ansatzes in Anbetracht des Verstehens von sozialem Handeln durchleuchten und mitteilbar machen.

2.2 Der Habitus

Als Vermittlungskategorie zwischen Theorie (bzw. Struktur) und Praxis ist der Begriff des Habitus das Kernstück der Soziologie Bourdieu`s. Das Habituskonzept verkörpert die Notwendigkeit, zu einer Erklärung von sozialen Phänomenen nur unter der Vorraussetzung zu gelangen, dieser eine Betrachtung der Entstehung oder der Entstehungsmechanismen dieser sozialen Phänomene voranzustellen, um nicht nur eine bloße, vermeintlich statische Oberflächenstruktur zu erforschen. Ebenso bedeutet dies eine Abkehr von der Vorstellung von sozialem Handeln lediglich als Ergebnis bewusster Entscheidungen oder als das schiere Befolgen von Regeln.

Bourdieu formuliert in seinen Arbeiten immer wieder verschiedene, sich ähnelnde Beschreibungen des Habitus aus. Eine explizite Definition gibt Bourdieu aber nie. Hier soll der Begriff kurz mit einer komplexen aber zentralen Beschreibung näher gebracht werden: „Die für einen spezifischen Typus von Umgebung konstitutiven Strukturen (etwa die eine Klasse charakterisierenden materiellen Existenzbedingungen), die empirisch unter der Form von mit einer sozial strukturierten Umgebung verbundenen Regelmäßigkeiten gefasst werden können, erzeugen Habitusformen, d.h. Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken...“ (Bourdieu 1979: S. 164f.).

Diese Formulierung beinhaltet sowohl die vermittelnde Instanz zwischen Struktur und Praxis sowie die damit zusammenhängende Doppelfunktion des Habitus. In den Habitus gehen Denkmuster, Sichtweisen, Beurteilungs- und Wahrnehmungsschemata mit ein, die eben in einer bestimmten Umgebung auf diesen einwirken können; er wird also durch die gegebene Struktur konstituiert.

Bourdieu bezeichnet Habitus als „modus operandi“, als generierendes Prinzip im Sinne eines Operators, der soziales Handeln bzw. gesellschaftliche Praxis hervorbringt. Diese Praxis ist nun sowohl regelhaft wie auch improvisiert; der Habitus wirkt als „ars inveniendi“, die Kunst im Sinne der praktischen Meisterschaft, die sich auf Kreativität und Erfindungsreichtum bezieht, d.h. der Habitus kann innerhalb der Grenzen der durch ihn angeleiteten Fähigkeiten und Möglichkeiten vollkommen freies und variantenreiches Handeln erzeugen und in neuen Situationen neue Verhaltensweisen hervorbringen. Der Habitus als Operator unterliegt aber immer auch der akkumulierten Erfahrung des spezifischen Akteurs; er ist zugleich auch „opus operatum“ (ein Werk, etwas Hergestelltes), das heißt ein Produkt der Geschichte, in welchem die Vergangenheit wirkt, welche ihn hervorgebracht hat. Dies setzt sich in Form von „inkorporierter“ Geschichte in der Gegenwart fort, in welcher allerdings der Entstehungszusammenhang des Habitus bzw. das Bewusstsein der damit zusammenhängenden wirkenden sozialen Bedingungen aufgrund des Empfindens einer Selbstverständlichkeit bezüglich der erzeugten Praxisformen untergegangen sind.

Dem Habitus sind von vornherein durch strukturelle Bedingungen Grenzen gesetzt, die Wahrnehmung, Sichtweise, Denkmuster, Bewertung und Beurteilung betreffen. Die sozialen Bedingungen der Primärsozialisation eines Akteurs bestimmen den Habitus, jedoch bezüglich der dort vermittelten Realität stellt der Habitus spezifische Mittel bereit, um unendlich viele Situationen zu bewältigen. Mit anderen Worten: Die Struktur bedingt den Habitus; der Habitus stellt die Mittel zur Gestaltung der Praxis.

Bourdieu versteht den Habitus als generatives Prinzip. Um dieses zu erklären zieht er den Vergleich mit Noam Chomskys generativer Grammatik heran. Chomsky geht allerdings aus von einer Universalgrammatik, als spezieller Grammatik einer Sprache, welche dem Einzelnen angeboren ist. Diese Position teilt Bourdieu jedoch nicht. Er beschreibt den Habitus als erfahrungsabhängiges Konstrukt. Worin sich Bourdieu mit Chomsky jedoch einverstanden erklärt, ist ein System der generativen Strukturen, über welches die Akteure verfügen und welches unbegrenzt Äußerungen erzeugen kann. Durch dieses System sind die Akteure in der Lage, auf sämtliche nur denkbare Situationen zu reagieren. Diese Reaktionen sind dann in zweierlei Hinsicht adäquat - zum einen der Situation, zum anderen dem handelnden Akteur - und können insofern auch als typisch für Situation und Akteur betrachtet werden. Dieses Verhältnis und die damit beschriebene Positionierung zwischen Akteur und Gesellschaft setzt die generative Grammatik Chomskys und den Habitus in einen ähnlichen theoretischen Zusammenhang, welcher den beiden Konstrukten aus dieser Perspektive eine äquivalente Funktion zuschreibt.

Chomsky betrachtet die Grammatik als eine im Subjekt veranlagte Struktur, durch welche sprachliche Äußerungen korrekt entsprechend des Regelwerks hervorgebracht sowie die Interaktionspartner verstanden werden können. Diese Struktur entspricht einem inneren System, welches korrekte Sprechhandlungen produziert. Demnach erfolgen Äußerungen, die gemäß dem in der Gesellschaft geltenden grammatischen Regelwerk ausgesprochen werden, nicht äußeren Bedingungen bzw. werden eben nicht (bewusst) absichtlich entsprechend dieses Regelwerks ausgesprochen, sondern obliegen einzig und allein dem inneren Produktionssystem.

Während Chomsky nun an dieser Stelle seine Erklärung abbricht, da er ja davon ausgeht, das System der inneren Grammatik sei angeboren, geht Bourdieu weiter - indem er dadurch logischerweise mit dieser Haltung bricht - um eine Notwendigkeit der sukzessiven Herstellung eines Verhalten regelnden Systems zu behaupten. Ein individuelles Produktionssystem kann schließlich nie von vornherein Träger von sozialen bzw. sozial übereinstimmenden Verhaltensweisen sein. Es kann erst durch Interaktionen mit anderen Akteuren entstehen.

Sobald ein Mensch am gesellschaftlichen Leben teil nimmt - d.h. von frühester Kindheit an - sammelt er Erfahrungen im Alltag und entwickelt so ein intrapersonales Produktionssystem, das in der Lage ist, gesellschaftliche Verhaltensweisen hervorzubringen, welche der gängigen „Grammatik“ angepasst sind. Im gesamten bedeutet dies, dass die Verhaltensweisen, die in einer geregelten Gesellschaft stattfinden, zu einem inneren Verarbeitungssystem des Akteurs führen und dieses so dessen soziale Verhaltensweisen herausbringt. Dieser Prozess ist nach Bourdieu nun als spiralförmiger Kreislauf zu betrachten, in welchem die Entstehungsweisen des Produktionssystems durch das Wechselspiel zwischen Bestätigung und Korrektur immer wieder durch aufbauende Veränderungen geprägt sind. Durch diesen dreidimensionalen Kreislauf lässt sich die Grammatik als dynamischer Vorgang beschreiben, welcher den Aktivitäten der Akteure selbst obliegt, da diese durch ihr ständiges soziales Handeln die Grammatik immer wieder neu hervorbringen. Es ist also nicht das bestehende Regelwerk, sondern das Handeln der Akteure, durch welches aufgrund ständiger Produktion und Reproduktion von diesem das Entstehen und Weiterentwickeln der Grammatik garantiert wird. Das Zentrum einer bestehenden Grammatik stellt also nicht eine dirigierende Struktur dar, sondern die Akteure die durch ihr Handeln Strukturen produzieren, beeinflussen und verändern können.

Das generative Prinzip der Grammatik gilt nun ebenso für den Habitus. Die kreative Kapazität des Habitus ist dabei nicht nur als geistige Instanz zu betrachten, sondern betrifft vielmehr den gesamten Körper, in welchem Intention, Wille, Erwartung, Haltung und Disposition verinnerlicht sind. Der Körper dabei ist der Gegenstand des sozialen Handelns, er wirkt aktiv bei der Erzeugung von kreativem, immer wieder verändertem oder neu erfundenem Verhalten, was die gesellschaftliche Praxis ausmacht. Dies bezieht sich auf automatische körperliche Reaktionen, Handlungsschemata, welche den sozialen Sinn prägen. Bourdieu bezeichnet dies als „zur Natur gewordene (...) gesellschaftliche Notwendigkeiten“ (Bourdieu 1987, S.127).

Um die Funktionsweise des Habitus vollständig verstehen zu können, bedarf es jedoch noch deren Darstellung im gesellschaftlichen Kontext. Dazu benutzt Bourdieu die theoretischen Konstrukte Kapital, Feld, Raum und Klasse. Im nächsten Abschnitt werden nun zuerst die verschiedenen Kapitalformen erklärt, da diese situationsbeschreibenden Charakter aufweisen, was in Bezug auf den Habitus und die damit zusammenhängende Reproduktion der Gesellschaft von großer Bedeutung ist, auch bezüglich der sozialen Genese in Verbindung mit den Konzepten Raum, Feld und Klasse.

2.3 Kapitalformen

Bourdieu führt den Kapitalbegriff in Anlehnung an Marx wieder ein, wendet ihn jedoch allgemeiner auf alle Bereiche der Gesellschaft an. Die Notwendigkeit der Wiedereinführung der Begriffe Kapital und Akkumulation beruht nach Bourdieu auf der Dynamik der Gesellschaft und der Akteure, die diese Dynamik ausmachen. Dies schließt die Vorstellung einer statischen Gesellschaft aus, welche sich aus mehreren aufeinander folgenden Gleichgewichtszuständen zusammensetzen würde. In einer Welt, in der Akteure mit spezifischen Interessen auftreten, können diese nicht mehr als einfach austauschbar betrachtet werden. Sie nehmen an der sozialen Welt teil und gestalten diese durch ihr aktives soziales Handeln mit. Die Kapitalakkumulation und allgemein das Verfügen über Kapital ist, wie in den nachfolgenden Abschnitten noch beschrieben wird, auf diesen Umstand zu beziehen und wird sich so in Bourdieus Theorie als notwendig zur Erklärung der sozialen Welt bestätigen.

Unter Kapitalakkumulation ist nun das Streben des Einzelnen zu verstehen, die durch gesellschaftlichen Konkurrenzkampf zu erwerbenden, strategisch wichtigen, machtverleihenden Ressourcen anzuhäufen.[2] Diese bezeichnet Bourdieu als Kapital. Dieses entscheidet über die Gewinn- oder Erfolgschancen des Einzelnen in der sozialen Praxis.

Je mehr Kapital sich ein Akteur nun aneignen kann bzw. angeeignet hat, über desto mehr Macht verfügt er.[3] Die Kapitalakkumulation erfolgt durch den Einzelnen oder auch durch soziale Gruppen selbst und ist somit individuell und spezifisch. Es kann dabei Kapital in materiellen und verinnerlichten Formen aufgenommen werden.

Um Kapital nun zu erwerben, bedarf es je nach Kapitalart eines gewissen Aufwandes, der den Verschleiß von z.B. Energie oder Zeit impliziert, was auch eine Betrachtung des Kapitals als akkumulierte Arbeit zulässt. Es wird dabei zwischen verschiedenartigen Wirkungen des Kapitals unterschieden, welche Bourdieu als „vis insita“ und „lex insita“ bezeichnet. Als vis insita versteht man die Auswirkung der objektiven und subjektiven Strukturen auf den Einzelnen bzw. wie das Kapital, das durch diesen angeeignet oder aneigenbar ist, den Einzelnen bezüglich dessen Stellung in der Gesellschaft und bezüglich seiner wahrgenommenen Möglichkeiten in einer strukturierten Gesellschaft bemächtigt. Lex insita hingegen bezeichnet die Auffassung des Kapitals als Grundlage des Funktionierens der sozialen Wirklichkeit, indem es gewisse Regelmäßigkeiten hervorruft, die die soziale Welt konstituieren. In der Gesamtheit sind die Akteure mit spezifisch verschiedenem und unterschiedlich viel Kapital versehen, was dem Einzelnen wie auch seiner Umwelt seine Lage signalisiert oder symbolisiert und dieser dieses Kapital entsprechend seiner Auffassung der sozialen Welt gemäß seiner Situation nutzen kann. Dies lässt Regelmäßigkeiten entstehen in dem Sinne, dass Akteure aus verschiedenen sozialen Situationen - die durch das Kapital bedingt sind - sich auch durch unterschiedliche Verhaltensweisen, Lebenshaltungen und schließlich verschiedene Habitus und Lebensstile unterscheiden.

Das Kapital dient einer Untermalung der Betrachtung der gesellschaftlichen Welt als akkumulierte Geschichte. Eine Kapitalakkumulation benötigt Zeit: Kapital kann anwachsen, sich selbst reproduzieren oder anderes materielles oder verinnerlichtes Kapital produzieren. Die Situation eines Akteurs hängt davon ab wieviel Kapital - in welcher Form auch immer - er bislang ansammeln konnte. Der erlebte Augenblick eines Akteurs wird also immer durch die vorangegangenen Augenblicke bedingt, geprägt und beeinflusst. Der Akteur steht auch in dieser Beziehung in einem bestimmten Abhängigkeitsverhältnis zu seiner Vergangenheit. Das Kapital steht somit für Konkurrenz und Chancenungleichheit sowie für die selektive Weitergabe von Besitz und Möglichkeiten.

Die Verteilungsstruktur des Kapitals in seinen verschiedenen Formen spiegelt nun die Struktur der gesellschaftlichen Welt mit den darin gebotenen Möglichkeiten, Einschränkungen und Zwängen wieder. Auf diese Weise bestimmt das Kapital das Funktionieren der gesellschaftlichen Wirklichkeit und diktiert damit zusammenhängend gleichzeitig die Chancen des Einzelnen in der sozialen Praxis (Vgl. dazu Bourdieu 1992a: S. 49ff.).

Bourdieu führt mit dem ökonomischen Kapital, dem kulturellen Kapital und dem sozialen Kapital drei Arten von Kapital auf, dazu kommt noch das symbolische Kapital, welches als Wahrnehmungs-, Anerkennungs-, Legitimations- und Bewertungskriterium bezüglich der drei anderen Kapitalarten dient.

2.3.1 Ökonomisches Kapital

Das ökonomische Kapital setzt sich aus allen materiellen Reichtümern zusammen wie Sachwerte, Geldvermögen, Erbansprüche usw., über die der Einzelne verfügen kann. Es ist daher „unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar“ (Bourdieu 1992a, S. 52), da sämtliche Verfügungsgewalt dieser Art generell in finanzielle Werte übertragen werden kann.

Bourdieu widerspricht einer Erklärung der sozialen Situation des Menschen allein durch den wirtschaftlichen Aspekt des ökonomischen Kapitals, da diese Kapitalform die Struktur der Gesellschaft in einer solchen als komplex und dynamisch erklärten Welt unmöglich alleine bedingen kann. Akteuren müsste dann unterstellt werden, dass sie nur in wirtschaftlichen Dingen eigennützig und zielgerichtet handeln. So betrachtet er eine Erweiterung des rein wirtschaftlichen Paradigmas durch die anderen Kapitalformen als notwendig (Vgl. dazu auch Fußnote 3).

Das ökonomische Kapital liegt allen anderen Kapitalarten zugrunde; d.h. alle anderen Kapitalarten sind unter bestimmten Bedingungen in ökonomisches Kapital und somit in Geld konvertierbar und so kann dieses, wenn auch nur in allerletzter Instanz, deren Wirkung bestimmen. Alle anderen Kapitalien können durch höhere oder niedrigere Transformationskosten durch dieses erworben werden. So kann dem ökonomischen Kapital nach wie vor die primäre Bedeutung bezüglich der gesellschaftlichen Stellung von Akteuren zugesprochen werden.

2.3.2 Kulturelles Kapital

Das kulturelle Kapital benutzte Bourdieu zunächst als Instrument, um die Ungleichheit unter den Kindern verschiedener Herkunft entsprechend Klassen oder Klassenfraktionen bezüglich schulischer Leistungen zu erklären. Die einzelnen Herkunftsgruppen unterschieden sich deutlich voneinander bezüglich ihres kulturellen Daseins, wobei in den verschiedenen Kulturkreisen verschiedenes kulturelles Kapital auch verschiedenen Bedeutungen und Wertigkeiten unterliegt. Das Entscheidende dabei sind nun gewisse Startvorteile, welche Kindern aus privilegierten Schichten gegeben sind, da sie im Gegensatz zu Kindern aus den unteren Schichten über die Sozialisation durch das Elternhaus bzw. durch das direkte Umfeld kulturelle Fähigkeiten und Fertigkeiten schon frühzeitig erlernen, die sie in der Schule weiterbringen und sie so auch bei der Besetzung von sozialen Positionen davon profitieren können. Die spezifischen Fertigkeiten, über die der Einzelne verfügt, bzw. die objektivierte oder die institutionalisierte Form davon, bezeichnet Bourdieu als kulturelles Kapital. Dementsprechend führt er auch drei Formen auf, in welchen das kulturelle Kapital anzutreffen ist.

In inkorporiertem Zustand ist kulturelles Kapital als die individuell angeeignete und verinnerlichte kulturelle Kompetenz zu verstehen. Diese spezielle Form wird meist durch entsprechende Bildungsarbeit persönlich erworben. In objektiviertem Zustand liegt es in Form von Büchern, Kunstwerken oder anderen anwendbaren Kulturgütern vor. In institutionalisiertem Zustand liegt kulturelles Kapital gesellschaftlicher Legitimation zugrunde; es manifestiert sich in Form von Bildungstiteln, Schulabschlüssen usw..

2.3.2.1 Inkorporiertes kulturelles Kapital

Das inkorporierte kulturelle Kapital beschreibt den verinnerlichten Bestandteil des kulturellen Kapitals. Ihm liegt ein Verinnerlichungsprozess (Inkorporation) zugrunde, der durch zeitaufwendige Akkumulation gekennzeichnet ist. Diese Form des kulturellen Kapitals ist fester Bestandteil eines Akteurs, es ist korporiert und gehört so zu dem Habitus eines Akteurs. Es ist daher auf vielfältige Weise mit dem Träger verbunden und vergeht und stirbt mit diesem auch.

Man bezeichnet diese Art des Kapitals auch mit Bildung, was jedoch nicht als deckungsgleich mit Schulbildung zu sehen ist. Der Verinnerlichungsprozess erfordert Unterricht oder Lernzeit, er kann sich jedoch auch unbewusst vollziehen.

Bei der Aneignung von inkorporiertem kulturellem Kapital bzw. Bildung wird nach und nach auf die vorangegangenen Aneignungen aufgebaut. Dabei werden erste kulturelle Verinnerlichungen wie z.B. der zuerst erlernte Dialekt den fortwährenden Verinnerlichungsprozess ständig prägen.

Das Aneignen von Bildungskapital obliegt jedoch auch zusätzlich individuellen Eigenschaften; es kann nicht mehr Kapital akkumuliert werden als der betreffende Akteur in der Lage ist aufzunehmen. Zudem muss er sämtliche Investitionen wie Zeit und Energie persönlich aufbringen, da schließlich nur er selbst bzw. sein Körper das zu verinnerlichende Kapital aufnehmen kann. Es ist also notwendig, eigene persönliche Leistung oder Arbeit zu erbringen um sich zu bilden. Die diesbezüglich anfallenden Kosten trägt der einzelne Akteur selbst in Form von der aufzubringenden Zeit bzw. durch Opfer und Entbehrungen, die mit dieser zu investierenden Zeit zusammenhängen. In dieser Hinsicht bietet sich eine Betrachtung der Dauer des Bildungserwerbs als das geeignetste Maß zur Bestimmung des kulturellen Kapitals an, welches Bourdieu in seinen empirischen Studien zur Analyse auch verwendet.

Durch die Primärerziehung im Elternhaus wird der Grundstein des kulturellen Kapitals gelegt, welches dann in der später folgenden Schullaufbahn verwendet werden kann. Ist die familiäre Erziehung bzw. das primäre kulturelle Umfeld durch an Bildung orientierten Mustern geprägt, wie dies generell in den oberen Schichten der Gesellschaft der Fall ist, werden einem dort geborenen Akteur die im Bildungssystem Erfolg versprechenden kulturellen Dispositionen schon sehr früh erlernt und er kann mit einem Vorsprung ins Bildungssystem einsteigen. Ein in der Unterschicht aufwachsender Akteur hingegen muss dies alles im Laufe seiner Bildungskarriere versuchen nachzuholen; er erlernt dann erst die notwendigen kulturellen Fähigkeiten um im Bildungssystem zu bestehen, welche jener aus der Oberschicht schon anwenden kann.

Auf diese Weise kann das zuerst erworbene inkorporierte kulturelle Kapital von vornherein das Leben eines Menschen bestimmen. Dieses stellt generell die Sprache dar, die dem Akteur von klein an zum Teil auf latente Weise angelernt wird, so ist der Prozess der Sozialisation als der Anfang der Akkumulation kulturellen Kapitals zu betrachten. Das Elternhaus und damit die soziale Herkunft ist somit das wichtigste Übertragungsmedium, durch welches das in der Familie vorhandene kulturelle Kapital dem Einzelnen durch soziale Vererbung zuerst und daher bedingungslos angeeignet wird. Es stellt so die Ausgangssituation eines Akteurs dar. Je mehr inkorporiertes kulturelles Kapital nun in der Familie vorhanden ist, desto schneller und problemloser kann die Aneignung im weiterführenden Prozess erfolgen.

Durch die im Verborgenen stattfindende Übertragung nimmt das inkorporierte kulturelle Kapital einen zusätzlichen besonderen Stellenwert ein. Während die Akkumulation von anderem Kapital eher sichtbar geschieht, passiert die Akkumulation von inkorporiertem Kulturkapital auf verschleierte Weise.[4]

Abschließend und zusammenfassend lässt sich bezüglich des inkorporierten kulturellen Kapitals nun sagen, dass die Akkumulation dessen die am besten verschleierte Form der Kapitalübertragung darstellt und damit auch die effektivste. So kann der Besitz von inkorporiertem kulturellem Kapital als von besonderem Wert betrachtet werden. Es stellt die Basis bezüglich ökonomischer und sozialer Profite in der Hinsicht dar, dass nicht alle Akteure über gleiche Mengen an inkorporiertem Kapital verfügen können und so jene, die vieles besitzen, dies auch entsprechend profitabel nutzen können, vor allem dann, wenn dies mit einem gewissen Seltenheitswert ausgestattet ist.

2.3.2.2 Objektiviertes kulturelles Kapital

Das objektivierte kulturelle Kapital ist jene Form kulturellen Kapitals die vorzeigbar bzw. sichtbar ist, wie Bilder, Bibliotheken, Denkmäler oder andere Kulturgüter. Das inkorporierte kulturelle Kapital steht mit dem objektivierten kulturellen Kapital eng in Verbindung. Um verinnerlichtes kulturelles Kapital weiterzugeben, bedarf es meist der objektivierten kulturellen Träger in Gestalt von Kulturgütern, die kulturelles Kapital greifbar machen und sozusagen als Übertragungsmedium dienen, und umgekehrt, denn für eine Übertragung des verinnerlichten Kapitals über die objektivierten materiellen Träger ist auch immer der Besitz von spezifischem inkorporierten Kapital notwendig, da nur die damit gemeinten kulturellen Fähigkeiten die Anwendung von kulturellen Gütern ermöglichen. Das Anwenden des objektivierten Kulturkapitals garantiert nun sein Fortbestehen. Wie gewinnbringend dies sein kann hängt davon ab, wie gut der Einzelne mit inkorporierten kulturellen Fähigkeiten ausgestattet ist, um mit dem objektivierten Kapital umzugehen.[5]

Da ein Akteur nun nur jenes objektivierte kulturelle Kapital nutzen kann, welches er aufgrund des verinnerlichten kulturellen Kapitals zu greifen befähigt ist, wird bei ihm auch in erster Linie dieses zur Anwendung kommen; d.h. er wird dann auch aufgrund der kulturellen Verinnerlichungen jenes objektivierte Kulturkapital, welches mit diesen durch die soziale Herkunft geprägten Verinnerlichungen übereinstimmt, eher in sein Leben bzw. seinen Lebensstil integrieren als solches, welches ihm nicht vertraut ist. Die soziale Herkunft wirkt sich somit auf diese Weise auf die Wahl der Kultur und des Kulturkapitals aus.

2.3.2.3 Institutionalisiertes kulturelles Kapital

Die Institutionalisierung von kulturellem Kapital dient dazu, dieses gesellschaftlich zu legitimieren. Dieses geschieht generell durch Titelvergabe und stellt sich entsprechend dann in Form von Bildungstiteln oder Schulabschlüssen dar. Über dieses Kapital verfügt ein Akteur dann ausschließlich durch den Erwerb eines Titels, welcher dann relativ unabhängig von der Person sowie den tatsächlichen Fähigkeiten des Titelträgers gilt. Das Kapital eines Titelinhabers unterscheidet sich von dem eines Akteurs mit identischen Fähigkeiten durch die gesellschaftliche Legitimation, die dem Titelträger in der gesellschaftlichen Konkurrenz Vorteile gegenüber jenem ohne Titel verschafft. Durch diese Kapitalform werden latente Eigenschaften und Fähigkeiten (inkorporiertes Kulturkapital) objektiviert und dadurch messbar und unterscheidbar gemacht. Der Titel schafft einen rechtlich gewährleisteten, dauerhaft garantierten Unterschied; er steht für den „offiziellen“ Besitz von Kulturkapital und dadurch für gesellschaftlich anerkannte Kompetenz. Der Erwerb eines Titels obliegt geltenden Normen und spezifischen Prüfungen, welche auf sehr harte Art und Weise zwischen Haben und nicht Haben differenzieren können. Der Titel übt in modernen Gesellschaften den größten Einfluss auf die Übertragung von Macht und Privilegien aus, da die Regelung des Zugangs zu Positionen in erster Linie auf schulischen Leistungen beruht.

Die Institutionalisierung des kulturellen Kapitals ermöglicht ein Wahrnehmen von Unterschieden, die trotz der Verborgenheit des wahren Wertes des kulturellen Kapitals in der Gesellschaft anerkannt werden. So können Besitzer von kulturellen Eigenschaften anhand ihrer Titel verglichen oder im Falle eines Ausstiegs besser ausgetauscht werden.

Bei dieser Form des kulturellen Kapitals gilt ebenfalls der Seltenheitswert als ausschlaggebend für den Nutzen, den ein Akteur durch einen Titel erhalten kann. Allerdings war durch die Bildungsexpansion und die damit zusammenhängende Titelinflation diese Kapitalart vor allem in Anbetracht des Profits, auch bezüglich der Umwandlung in ökonomisches Kapital einem prägnanten gesellschaftlichen Wandel in manchen Bereichen unterlegen.[6]

2.3.3 Soziales Kapital

„Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.“ (Bourdieu, 1992a, S. 63)

Durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe verfügt der Einzelne also über Beziehungen, durch welche er diverse Nutzen ziehen kann. Seine gesamte Situation stellt ein Netzwerk verschiedenartiger Beziehungen dar. Das soziale Kapital eines Akteurs besteht nun aus den gesamten tatsächlich oder potentiell Nutzen stiftenden Mitteln, über die er durch sein Beziehungsnetz verfügt. Die Gruppe profitiert insofern vom Gesamtkapital ihrer einzelnen Mitglieder, als dass es ihnen allen relative Sicherheit verleiht, daher den Einzelnen und seinen Status, aber auch die Gruppe, in sich festigt.

Bourdieu spricht in diesem Sinne von Sozialkapitalbeziehungen, die über die soziale Praxis in Form von materiellen und symbolischen Austauschbeziehungen bestehen oder auch durch Namen, Familien-, Schul-, Parteizugehörigkeit oder sonstiges institutionalisiert sind. Sozialkapitalbeziehungen sind erbbar oder erwerbbar. Sie prägen den Akteur und wirken gleichzeitig informierend in Hinsicht auf das mit der Beziehung verbundene Sozialkapital. Grundlage des Sozialkapitals sind die Austauschbeziehungen, die aufrecht erhalten werden müssen, damit Sozialkapitalbeziehungen bestehen können. In diesen wirken immer untrennbar verbundene materielle wie symbolische Elemente. Sie sind niemals allein auf physische, objektive Dinge oder allein auf die soziale Ebene zu beziehen.

Die Größe des Besitzes des Sozialkapitals des Einzelnen hängt von der Ausdehnung seines Beziehungsnetzes sowie vom ökonomischen, kulturellen und symbolischen Kapitalbesitz derjenigen ab, mit welchen er in Beziehung steht. Ebenfalls von Bedeutung ist der eigene Besitz an ökonomischem, kulturellem und symbolischem Kapital, da dies objektive Werte angibt und diese eine Beziehungswürdigkeit in den Augen der Beziehungs- oder Austauschpartner rechtfertigen. Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von einem Multiplikatoreffekt, den das soziale Kapital auf die anderen Kapitalien ausübt, insofern dass der tatsächliche Wert natürlich nicht steigt, aber dennoch die Bedeutung dieser mit zunehmendem Wert des Beziehungsnetzes größer wird.

Das Beziehungsnetz eines Akteurs ist nicht selbstverständlich, d.h. es muss erschaffen und gepflegt werden. Es ist das Resultat individueller und kollektiver Investition, die strategisch oder nicht strategisch, bewusst oder unbewusst darauf abzielt, Beziehungen zu erhalten oder zu errichten, von welchen die Akteure schließlich profitieren können. Dies beinhaltet Verpflichtungen, die sowohl auf subjektiven Gefühlen wie Anerkennung oder Respekt als auch auf institutionellen Garantien wie Rechtsansprüchen beruhen. Je höher nun der Wert des Beziehungsnetzwerks bzw. das soziale Kapital eines Akteurs ist, desto größer wird der Ertrag sein, den er durch die zu erbringende Arbeit für die Erhaltung und Akkumulation von sozialem Kapital bekommt, d.h. ein Adliger, mit gutem Namen, den jeder kennt und kennen will und es sich lohnt ihn zu kennen, muss weniger Beziehungsarbeit erbringen als ein gewöhnlicher Arbeiter ohne besondere Funktion, aber der Ertrag seiner Arbeit wird höher sein.

Die Reproduktion von Sozialkapital geschieht über fortlaufende, zeitintensive Beziehungsarbeit in Form von ständigen Austauschakten, welche Kosten auch im Bereich des ökonomischen Kapitals erfordern. Voraussetzung und Ergebnis von Austauschakten sind gegenseitiges Kennen und Anerkennen. Das so bestehende institutionalisierte Beziehungsgeflecht stellt eine symbolische Wirklichkeit dar, deren Reproduktion diesem ständigen Austausch obliegt. Die Reproduktion der symbolischen Wirklichkeit bezeichnet gleichzeitig auch eine Reproduktion der Gruppe, wodurch diese ihre Grenzen zu bewahren und zu bestätigen in der Lage ist, da über diese hinweg in der Regel kein symbolischer Austausch stattfindet. Das Bewahren der Grenze einer Gruppe ist von besonderer Bedeutung, da jede Erweiterung der Grenzen durch Mitgliederzuwachs - aufgrund der Gefahr inadäquater Eigenschaften neuer Mitglieder - eine Bedrohung der Exklusivität der Gruppe bedeuten kann und so deren Bestand gefährdet wird, da das durch die Gruppenzugehörigkeit verliehene soziale Kapital an Wert verlieren kann.

2.3.4 Symbolisches Kapital

Das symbolische Kapital dient als Indikator bezüglich der drei anderen Kapitalarten. Es beruht auf der legitim anerkannten Form dieser drei Kapitalien, d.h. jede positive Zuschreibung an gesellschaftlich legitimer Anerkennung stellt symbolisches Kapital dar. Zum einen bezeichnet Bourdieu dieses als Ehre oder Prestige und beschreibt damit eine Kapitalform, die sich aus der Zusammensetzung der anderen Kapitalformen bzw. aus dem Wert dieser ergibt. Zum anderen betrachtet er symbolisches Kapital als Kredit, welcher dem Einzelnen nach der Einschätzung bezüglich seines materiellen und symbolischen Besitzes durch die Gruppe von dieser zugeschrieben wird.

Nach Bourdieu ist der Erwerb von symbolischem Kapital Ziel allen sozialen Handelns. Durch den Einsatz oder auch Tausch der anderen Kapitalformen findet dieser Erwerb statt, aber auch umgekehrt kann symbolisches Kapital zum Erwerb von anderem Kapital eingetauscht werden. Zum Beispiel erwirbt man durch den Kauf eines teuren (evtl. zu teuren) Gutes symbolisches Kapital durch das zur Schau stellen, dass man es sich leisten kann. Wird dieses jedoch auf Dauer zu teuer, so wird man es mit Verlust von symbolischem Kapital wieder verkaufen müssen.

Die Regeln des dabei stattfindenden Tausches unterliegen der Logik der jeweiligen sozialen Felder[7]. Diese Felder werden von ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital strukturiert. In einem Feld unterliegen die Akteure den spezifischen äußeren Zwängen desselben, die das Pendant zu den inneren, durch den Habitus bedingten Zwängen bilden. Die äußeren Zwänge beziehen sich nun auf die Strukturierung der Kapitalien und bilden so die Regeln innerhalb des Feldes. Das Feld nun ist von Kämpfen um das symbolische Kapital bestimmt, die nach den spezifischen Regeln des Feldes stattfinden. Die Akteure verfügen innerhalb der einzelnen Felder über spezifische Wahrnehmungs- und Bewertungsvermögen hinsichtlich des symbolischen Kapitals, welche auf den Regeln des betreffenden Feldes beruhen; d.h. das symbolische Kapital wird durch die anderen Akteure nach den habituellen Regeln des Feldes zugewiesen oder verweigert. Es bestimmt die Position des Akteurs innerhalb des sozialen Feldes.

An anderer Stelle setzt Bourdieu symbolisches und soziales Kapital gleich, was er mit den spezifischen Regeln der Felder begründet. Die Definition der Anerkennung von symbolischem Kapital obliegt dem jeweiligen Habitus des Feldes, in dem dieses erworben wird. In einem sozialen Feld, in dem weder materieller Besitz noch kulturelle Fähigkeiten oder Titel gelten, wird folglich die Beziehungsfähigkeit bzw. das soziale Kapital mit Anerkennung und Ansehen gleichzusetzen sein, und nur durch dieses wird man innerhalb des Feldes Kredit durch die Gruppe erlangen.

Die Bedeutung des symbolischen Kapitals wird in den folgenden Abschnitten noch eine große Rolle spielen, vorweg sei jedoch zum Verständnis die Funktion des Kapitals und vor allem des symbolischen Kapitals in Bezug auf das Wirken bezüglich der Konstrukte Habitus und Feld kurz und zusammenfassend erklärt: Das soziale Feld bildet den strukturierenden Rahmen, in welchem die Akteure den Habitus anwenden. Es wird durch das ökonomische, das kulturelle und durch das soziale Kapital strukturiert. Entsprechend dieser Strukturierung stellen sich nun die innerhalb des Feldes zur Verfügung stehenden Ressourcen (Kapitalien) dar. Dies charakterisiert das Feld und macht es überhaupt erst zu einem solchen. Aus dieser Struktur werden nun die verschiedenen Zwänge abgeleitet; d.h. die in einem Feld geltenden Regeln sind durch die Kapitalstruktur bedingt. Sie bestimmen dann auch was möglich ist und was nicht. Diesen Regeln unterliegt aber nun der Anerkennungsmechanismus des symbolischen Kapitals. Man kann so davon ausgehen, dass sich Feld und Kapital wechselseitig bedingen.

Der Akteur versucht symbolisches Kapital anzuhäufen, indem er nach den spezifischen Regeln des Feldes handelt. Daneben folgt er inneren Zwängen, die durch seinen Habitus bedingt sind. Diese bilden das Gegenstück zu den äußeren Zwängen. Durch das Annehmen der äußeren Zwänge, sprich der Regeln des Feldes durch die Akteure kann das symbolische Kapital zur Legitimation der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse beitragen, da innerhalb des sozialen Feldes der Habitus für die unbewusste Anerkennung der dortigen herrschenden Verhältnisse bzw. Regeln sorgt.

2.3.5 Kapitalumwandlungen

Sämtliche Kapitalformen können durch den Einsatz anderer Kapitalformen erworben werden. Den dabei stattfindenden Prozess bezeichnet man als Kapitalumwandlung. Einer Kapitalumwandlung liegt direkt oder indirekt das Ziel zugrunde, symbolisches Kapital zu vermehren, um in dem spezifischen gesellschaftlichen Bereich Ansehen und Macht zu erwerben. Dies gilt nach Bourdieu, wie oben bereits aufgeführt wurde, als Ziel jeglichen sozialen Verhaltens. Eine Kapitalumwandlung ist zwangsläufig mit einem gewissen Aufwand an Transformationsarbeit bzw. Kapitalumwandlungskosten verbunden, welche der Betreiber bestrebt ist möglichst gering zu halten.

Die Ermöglichung der Kapitalumwandlung bzw. die Konvertierbarkeit der einzelnen Kapitalarten bedingt somit Strategien, durch welche das Kapital und dadurch auch die Position im sozialen Feld reproduziert werden soll. Die verschiedenen Kapitalarten lassen sich nun unterschiedlich leicht bzw. schwer (ein)tauschen, unterliegen also auch unterschiedlich schwieriger Reproduzierbarkeit. Entscheidend diesbezüglich ist zum einen die Schwundquote und zum anderen die damit zusammenhängende Verschleierung. Dabei gilt: Je besser die Form der Verschleierung bei der Kapitalübertragung ist, desto höher ist das Schwundrisiko; d.h. mit zunehmenden Verschleierungskosten sinkt die Verschleierungsquote; der Transformationsprozess wird offensichtlicher, und so sinkt auch die Wahrscheinlichkeit einer hohen Schwundquote. Insbesondere bei intergenerationaler Kapitalübertragung, z.B. durch die elterliche Sozialisierung, wird demzufolge das Schwundrisiko aufgrund der durch den latenten Prozess bedingten idealen Verschleierung relativ hoch liegen. Auch eine tendenzielle Unvereinbarkeit durch die Unterschiedlichkeit von Kapitalarten lässt auf die Übertragung dieser Kapitalien eine bestimmte Unsicherheit wirken.

Bourdieu geht davon aus, dass durch ökonomisches Kapital alle anderen Kapitalformen erstanden werden können. Im einfachsten Fall sind dies gewisse Güter oder Dienstleistungen, die direkt und nur durch das Aufbringen monetärer Mittel zu erwerben sind. Allerdings gibt es auch solche Güter, die nur über bestimmte Voraussetzungen erworben werden können, bei welchen der Akteur z.B. ein bestimmtes Verpflichtungs- oder Beziehungskapital besitzen muss. Dieses Kapital stellt jedoch dann, da auch diesem, wie generell allem anderen Kapital auch, ökonomisches Kapital zugrunde liegt, eine transformierte Erscheinungsform des ökonomischen Kapitals dar. Transformierte Erscheinungsformen von ökonomischem Kapital sind nie ganz auf dieses zurückzuführen, vielmehr hängt deren Wirkung davon ab, wie gut darin das Zugrundeliegen des ökonomischen Kapitals und jegliche mit diesem zusammenhängende Wirkung verborgen wird.[8]

Die Umwandlung von ökonomischem in kulturelles Kapital geschieht über den dafür notwendigen Aufwand an Zeit, der durch den Besitz ökonomischen Kapitals garantiert wird. Dabei wird das in der Familie verfügbare kulturelle Kapital weitergegeben, was sowohl von der Verfügbarkeit über das kulturelle Kapital innerhalb der Familie als auch von der nutzbaren Zeit, die nötig ist um die Akkumulation dieses Kapitals zu ermöglichen, abhängt. Der Eintritt in den Arbeitsmarkt kann also zum Preis der Verausgabung von Zeit verzögert werden, wobei das Entscheidende dabei das in der Familie verfügbare ökonomische Kapital ist. Die Zeit kann als das Bindeglied zwischen ökonomischem und kulturellem Kapital betrachtet werden. Die Aneignung von kulturellem Kapital in Form von Bildung oder Ausbildung kann erfolgen, solange die Familie finanzielle Unabhängigkeit garantieren kann.

Wird nun während der verlängerten Bildungskarriere durch das während dessen inkorporierte Kulturkapital solches in institutionalisiertem Zustand in Form eines Bildungstitels erworben, so lässt sich ein Geldwert ermitteln, der zum Erwerb des Titels notwendig war. Der Titel ist das Ergebnis der Umwandlung von ökonomischem Kapital in Kulturkapital; wobei zunächst inkorporiertes Kulturkapital erworben und dies schließlich mit dem Abschluss der Bildungslaufbahn zu institutionalisiertem Kulturkapital, dem Titel, verarbeitet wird. Da ein Titel zugleich auch immer materielle und symbolische Profite bedeutet, lässt sich auf Seiten des dadurch zu erwartenden ökonomischen Kapitals ebenfalls ein Geldwert bestimmen; d.h. durch den Titel ist ein Wechselkurs zwischen ökonomischem und kulturellem Kapital bestimmbar. Ob sich eine Bildungsinvestition lohnt, zeigt sich durch den aufgrund des erworbenen Titels zu erwartenden ökonomischen Wert. Wobei hier das mit dem Titel erworbene symbolische Kapital in Form von Anerkennung, Macht und Möglichkeiten den Wert eines Titels im gegebenen sozialen Feld unproportional ansteigen lassen kann, so dass das kulturelle zunächst über dem ökonomischen Kapital steht. Die Bildungsexpansion und dadurch die steigende Zahl von Bildungstiteln beeinflussen den Wert eines Titels, der wie alle Kapitalien durch die Struktur des im Feld verfügbaren Kapitals bestimmt wird, aufgrund des sinkenden Seltenheitswertes negativ.[9]

Auch die Umwandlung von ökonomischem in soziales Kapital setzt spezifische Arbeit in Form von Zeit, Aufmerksamkeit und Bemühen voraus. Es wird Beziehungsarbeit betrieben, die aus rein ökonomischer Sicht zunächst nicht rentabel erscheint, allerdings als Investition in die Zukunft betrachtet sich als durchaus profitabel erweisen kann. Diese Beziehungsarbeit muss langfristig angelegt sein; d.h. soziales Kapital gilt nur dann als wirksam, wenn es zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt werden kann; dazu sollte es schon lange aufgebaut und lebendig gehalten worden sein. Die Dauer der in die Beziehung investierten Zeit selbst wird dazu beitragen, dass die Beziehung als solche anerkannt wird.

[...]


[1] In der Kultursoziologie Bourdieus spielt die Betrachtung von Kultur auch als eine alltägliche symbolische Dimension sozialen Lebens und Handelns eine große Rolle. Während in der marxistischen Soziologie Kultur als der Überbau einer ökonomischen Basis der Gesellschaft dargestellt wird oder bei Talcott Parsons Kultur als abgehobener „Werte- und Normenhimmel“, welcher die Gesellschaft ordnet, integriert und zusammenhält, gesehen wird, fügt Bourdieu der Betrachtungsweise von Kultur auf lediglich außeralltäglicher, übergeordneter, abstrakter Ebene noch das Element des alltäglichen Handelns an und gibt ihr so symbolische und zugleich auch konkrete Bedeutung. Er überwindet so mit seinem ethnologischen Kulturbegriff die „magische Barriere“ zwischen legitimer Hochkultur und profaner Alltagskultur.

[2] Der Begriff der Strategie, wie diese für den Einzelnen entsteht und was dieser damit anfangen kann, wird weiter unten in Bezug auf den Habitus und die damit zusammenhängenden Konstrukte Feld und soziale Klasse eine Rolle spielen.

[3] Eine weitere Anlehnung an die Marxsche Wertlehre bezeichnet hierbei die Betrachtung des Kapitels als Macht. Entscheidend dabei ist die Verfügung über gesellschaftliches Arbeitsvermögen, wobei die Arbeitszeit als die generelle Wertgrundlage des Kapitals gesehen wird. So ist Kapital auch als akkumulierte Arbeit zu verstehen. Aus seiner Marx-Rezeption gewinnt Bourdieu den Ansatzpunkt seiner Kapitaltheorie. Er schließt diesbezüglich, dass die Reproduktion der Gesellschaft über das ökonomische Kapital erfolgt bzw. dadurch, dass Produktionsmittelbesitzer aufgrund ihrer ökonomischen Situation das politische, religiöse und wirtschaftliche Leben kontrollieren und so auch durch ihr bestehendes Bildungsmonopol die Machtstruktur der Gesellschaft erhalten können und auch erhalten. Bourdieu erweitert hier jedoch den wirtschaftlichen Kapitalbegriff, da er allen sozialen Beziehungen eigennützige Motive unterstellt, diese jedoch in einem rein ökonomischen Kapitalbegriff nur dort gegeben wären. Zudem untermalt die in der Pluralität der sozialen Felder beschriebene Komplexität moderner Gesellschaften die Unmöglichkeit, das ökonomische Kapital als den einzigen Grund der Reproduktion der Gesellschaft anzusehen; vielmehr muss es daneben noch weitere relevante verantwortliche Kapitalarten geben.

[4] Die verschleierte Übertragung von inkorporiertem kulturellem Kapital spielt eine große Rolle bezüglich der Reproduktion der Gesellschaft und ihrer Strukturen. Durch die latente soziale Vererbung, die gleichsam automatisch durch die elterliche Erziehung bzw. Sozialisation beginnt und darauf aufbauend fortgeführt wird, wird eine strukturerhaltende Reproduktion impliziert. Die Inkorporation der „famille d`origin“ dominiert das weitere Leben der Akteure entsprechend der darin enthaltenen spezifischen Reproduktionsstrategien. In welcher Weise diese nun ihre Anwendung bzw. Wirkung finden und wie der Zusammenhang von Kulturkapital und Reproduktion zu verstehen ist, darauf wird im Abschnitt 2.7 noch näher eingegangen.

[5] Ist ein Akteur nicht im Besitz von notwendigen verinnerlichten Fähigkeiten, um objektiviertes Kulturkapital verarbeiten zu können, so muss er sich diese mittels Dritter erarbeiten, oder er kann sich auch lediglich den von anderen bearbeiteten Inhalt vorführen lassen. Hierzu bedarf es jedoch der Hilfe anderer Kapitalformen, im speziellen ökonomisches Kapital - direkt in Form von Geld- und/oder indirekt in Form von Zeitmitteln - oder Sozialkapital in Form von Beziehungen (Zur Konvertierbarkeit bzw. Transformierbarkeit von Kapitalformen, was in diesem Beispiel der Fall wäre, siehe auch Abschnitt 2.3.5 Kapitalumwandlungen).

[6] Aufgrund der Investitionen, die notwendig sind um einen Titel zu erwerben, kann dieser als das Resultat einer Umwandlung von ökonomischem in kulturelles Kapital betrachtet werden. Durch den Titel bzw. dessen Bedeutung oder Wertigkeit kann der ökonomische Wert des damit bezeichneten Kulturkapitals ermittelt werden (Ausführlicher siehe ebenfalls Abschnitt 2.3.5).

[7] Zur genaueren Bedeutung und Funktion, die das soziale Feld bei Bourdieu einnimmt, siehe Abschnitt 2.4.

[8] Bourdieu hält, um die Logik des Kapitals und damit der Kapitalumwandlungen sowie das damit inhärente Gesetz der Kapitalerhaltung zu verstehen, die Betrachtung der beiden antagonistischen Lehren des Ökonomismus und des Semiologismus für notwendig. Der Ökonomismus konzentriert sich allein auf das ökonomische Kapital: Alle Kapitalformen können dabei auf das ökonomische reduziert werden. Der Semiologismus findet sich heute im Strukturalismus, dem Interaktionismus oder der Ethnomethodologie wieder. Er reduziert soziale Austauschbeziehungen auf kommunikative Elemente und negiert somit die Reduzierbarkeit der Kapitalformen auf ökonomisches Kapital. Die Einseitigkeit beider Betrachtungsweisen gilt es nun zu betrachten, um so ein adäquates Verständnis des Kapitals und seines Funktionierens zu erlangen.

[9] Die Bildungsexpansion beeinflusst diesbezüglich auch sogenannte Rückumwandlungsstrategien, durch welche wiederum eine Wechselwirkung zwischen Feld und Kapital beschrieben wird. Rückumwandlung ist hier gemeint im Sinne von: in kulturelles Kapital transferiertes ökonomisches Kapital, was nun wieder in ökonomisches Kapital transferierbar ist. Eine Bildungsexpansion, welche eine steigende Anzahl von Titeln im spezifischen Feld bezeichnet, lässt dann entsprechend den zuletzt erwarteten Wert dieser Gleichung sinken.

Ende der Leseprobe aus 132 Seiten

Details

Titel
Die Reproduktion der Gesellschaft. Die Habitustheorie von Pierre Bourdieu und das Modell der soziologischen Erklärung
Hochschule
Universität Mannheim
Note
2
Autor
Jahr
2003
Seiten
132
Katalognummer
V42588
ISBN (eBook)
9783638405867
ISBN (Buch)
9783638706834
Dateigröße
995 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Reproduktion, Gesellschaft, Habitustheorie, Pierre, Bourdieu, Modell, Erklärung
Arbeit zitieren
Oliver Kritzer (Autor:in), 2003, Die Reproduktion der Gesellschaft. Die Habitustheorie von Pierre Bourdieu und das Modell der soziologischen Erklärung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/42588

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