Musik unserer Zeit. "Fratres" von Arvo Pärt. Eine Werkanalyse


Bachelorarbeit, 2017

40 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Arvo Pärt – Leben und Werk

3. Der Tintinnabuli-Stil
3.1. Die Begriffe der Skala und des Dreiklanges
3.2. Die Melodiestimme
3.3. Die Tintinnabuli-Stimme
3.4. Von der Zwei- zur Mehrstimmigkeit
3.4.1. Zweistimmigkeit
3.4.2. Dreistimmigkeit
3.4.3. Vier- und weitere Mehrstimmigkeiten
3.5. Organisation der Melodiestimme
3.5.1. Frei erfundene Melodie
3.5.2. Addition, Subtraktion oder Permutation
3.5.3. Bezug zum Text
3.6. „1+1=1“ – Wie die Stimmen verwoben werden
3.7. Tintinnabuli

4. Werkanalyse: Fratres

5. Interpretation

6. Konklusion

Anhang

Werkliste (Auswahl)

Abbildungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

An der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg nahm ich an einem Studienseminar über die Musik von Arvo Pärt teil. Durch das dortige Erforschen und Hören seiner Musik wurde in mir ein großes persönliches Interesse geweckt, woraufhin ich mich auch privat mit Pärts Musik zu beschäftigen begann. Dies mündete darin, dass ich im Rahmen von Pärts 81. Geburtstag im Herbst 2016 nach Estland reiste, um das dort organisierte zehntägige Pärt-Festival „nargenfestival – paerdi-paevad“ zu besuchen. Dieses erstreckte sich vom 2.- 11. September 2016 und beinhaltete Podiumsdiskussionen und Konzerte in den Städten Tallin, Tartu, Paide und Rakvere. Hier wurden sowohl Pärts bekannteste, als auch unbekannte Stücke aufgeführt. Auch eine Uraufführung eines neuen Werkes war zu hören. Zu manchen Konzerten ist Arvo Pärt auch persönlich erschienen. Neben den Konzerten war es mir möglich, das Arvo-Pärt-Center in Harjumaa zu besuchen. Es befindet sich im Gebäude „Alina“, mitten in einem idyllischen Waldstück am Meer. Dort durfte ich das „zweite Wohnzimmer“ Pärts betreten, in welches er sich gerne mit seiner Familie zurückzieht, um dort private Konzerte seiner neuen Stücke zu geben oder um zurückgezogen Schubert oder Mozart auf dem Klavier zu spielen. Neben interessanten Gesprächen mit seinen Archivistinnen, bot sich mir die Möglichkeit, private Skizzen und handschriftlich kommentierte Notenblätter seiner bekannten Stücke Für Alina und dies irae zu begutachten. Durch das hautnahe Erleben der Musik von Arvo Pärt in seiner vertrauten heimischen Umgebung und der Idylle seines Heimatlandes, ist meine Motivation für diese Arbeit entstanden. Jedes seiner Stücke ist zeitlos und hat einen klaren Wiedererkennungswert, ganz gleich für welche Besetzung es verfasst wurde. Dem gegenüber steht, dass obwohl er sich einer sehr reduzierten Palette an Werkzeugen und Material bedient, jedes Stück einen anderen Klangcharakter besitzt und sich die dahinterliegende komplizierte Systematik nicht im Hören äußert.

Das Ziel meiner Arbeit ist es zu erforschen, welchen Systematiken sich Arvo Pärt bedient, um seinen individuellen und unverwechselbaren Klangcharakter zu erzeugen. Dafür wird die Arbeit in drei Teile untergliedert: Eine kurze Biographie Pärts mit den wichtigsten Lebensereignissen und der Findung seines Selbst; einer Vorstellung seines berühmten Tintinnabuli-Stils unter besonderer Berücksichtigung der meist verwendeten Werkzeuge und Systematiken; und der eigentlichen Analyse des Stückes Fratres, in welcher die für den Stil charakteristischen Stilmittel angewendet werden.

2. Arvo Pärt – Leben und Werk

Am 11. September 1935 wurde Arvo Pärt im estnischen Paide geboren. Nachdem sich seine Eltern trennten, zog er mit seiner Mutter nach Rakvere, wo er in einer sehr musikalischen Umgebung aufwuchs. Bereits mit sieben Jahren genoss er Klavierunterricht, lernte im Laufe der Zeit auch Oboe und Schlagzeug zu spielen und machte erste kompositorische Gehversuche. 1953 zog Arvo Pärt nach Tallinn, um am Konservatorium Komposition zu studieren. Allerdings war er gezwungen das Studium zu pausieren, da er in den Militärdienst zitiert wurde, welchen er aus gesundheitlichen Gründen abbrach. (Restagno, 2010, p. 8 ff.) Zurück am Konservatorium studierte er in der Kompositionsklasse von Heino Eller, welcher einen großen Einfluss auf Arvo Pärt hatte. Da der Unterricht am Konservatorium durch die sowjetestnische Regierung stark kontrolliert wurde, hatte Pärt nur geringfügige Möglichkeiten an zeitgenössische westliche Musik zu gelangen, da diese von der Sowjetunion verboten worden war. Heino Eller unterrichtete seine Studenten allerdings im Schutze der eigenen vier Wände und genoss ein großes öffentliches Ansehen, wodurch er den starken politischen Kontrollen entkam und über private europäische Kontakte die Musik der Zweiten Wiener Schule mit seinen Schülern studieren konnte. So schaffte es Arvo Pärt auch an westliche zeitgenössische Musik wie zum Beispiel Zwölftonmusik zu gelangen und seinen Horizont zu erweitern. (ebenda, p. 15 ff.) Ebenfalls hatte er durch seine Arbeit beim Estnischen Rundfunk und durch den Besuch des Musik-Festivals „Warschauer Westen“ Zugang zur „verbotenen“ Musik des avantgardistischen Westens. (ebenda, p. 27 ff.) Sein erstes Stück im Stile der Zwölftontechnik, Nekrolog (1960), welches gleichsam das Erste aus estnischer Feder war, fand sehr großen Erfolg im Westen, ebenso wie das darauffolgende Perpetuum mobile (1963), das ebenfalls dodekaphonisch ist. Gleichzeitig erhielt er damit den ersten Skandal aus der Politik, da seine Musik als westlich-dekadent tituliert wurde. In den nachfolgenden Jahren experimentierte er mit weiteren Kompositionsmodellen, beispielsweise mit der Collagetechnik, woraus 1964 Collage über B-A-C-H entstand. In Pärts Collagen zitierte er traditionelle Musik und stellte sie avantgardistischen Abschnitten gegenüber, was sich im Laufe der Werke verschärfte. Bei der Entstehung des Credo (1968) maximierten sich die Gegensätze und es ertönte „eine Entwicklung von Gewalt, die wie eine Lawine an ihre eigenen Grenzen stößt” (Universal Edition, 2017). Darin wird das C-Dur Praeludium von Johann Sebastian Bach zitiert, nach welchem eine dodekaphonischen Mittelteil erklingt. Dieser besteht aus übereinandergeschichteten Quinten und verdichtet sich immer weiter zu einem gesättigten Klangerlebnis, bestimmt von Chaos und Verwirrung. Im Publikum fand es einen explosiven Erfolg, weshalb es bei der Uraufführung erneut gespielt wurde. Sowjetestnische Funktionäre vermuteten darin versteckte politische Botschaften; sie sahen dieses Glaubensbekenntnis als Angriff auf das kommunistische System und ließen weitere Aufführungen des Credos verbieten. (Restagno, 2010, p. 34) Pärt war nun zu der Ansicht gekommen, dass sowohl er, als auch das Collagieren mit Credo an seine Grenzen gekommen seien. „Es ist so, als ob man sich in einer Sackgasse befände“ (ebenda, p. 24). Damit markiert der Credo-Skandal sowohl den Höhepunkt, als auch das Ende seiner ersten Schaffensperiode. (Hoping, 2007, p. 667)

Die Kreative Schaffenspause

Von nun an befand sich Arvo Pärt in einer persönlichen Krise: Er stellte all sein bisheriges musikalisches Schaffen und dessen Sinnhaftigkeit in Frage und hörte für mehrere Jahre (1968-1976) auf zu komponieren (mit Ausnahme der 3. Sinfonie). Auch seine persönlichen religiösen Ansichten zeigten eine Zäsur auf, denn der lutherisch getaufte Arvo Pärt konvertierte zur russisch-orthodoxen Kirche. Unter vollkommener Isolation suchte er den Kern der Musik; er wollte sein Individuum zurückstellen und nur das Notwendigste finden. Er legte all seine Privilegien und Bedürfnisse ab, um in Abstinenz zu leben, um das „Nichts“, ein Einklang mit Gottes Ehrfurcht, zu erleben.

„Ohne Gottesfurcht gibt es keine Musik – und auch kein wirkliches schöpferisches Tätigsein. Die Notwendigkeit, neues zu finden. Die Suche nach dem Neuen durch die leere. Werde ein ‚Nichts‘ (vor allem anderen)! Doch jede Seite des Nichts ist Etwas. Zu diesem ‚Etwas‘ gilt es die Verbindung herzustellen. Vorher muss man sich aber läutern.“

(Arvo Pärt) (Zit. nach: Danuser, et al., 1990, p. 385 ff.)

Die Stille ist für Pärt die wichtigste Instanz, um auf Gott zu hören - sie gilt als Kanal zur göttlichen Hinwendung. Das hat zur Folge, dass die Unterbrechung der Stille, Musik, den Kontakt zu Gott abbricht. Für Arvo Pärt gilt allerdings der Anspruch, dass seine Musik diesen Kanal zu Gott nicht unterbricht, sondern aufrechterhält, sodass der Kompositionsprozess selbst als musikalisches Gebet fungiert. (Kummer, 2017, p. 24) Da für ihn nun die Maxime besteht, dass seine Musik nicht die Stille unterbricht, sondern sich aus ihr heraus entwickelt und mit ihr interagiert, einigt sich Pärt auf das Suchen der simpelsten Modelle musikalischen Schaffens. Diese dürfen nicht mit Vereinfachung im herkömmlichen Sinne verwechselt werden, sondern als hochkonzentrierter Prozess der meditativen, religiösen Komposition. (ebenda, p. 25)

Während eines willkürlichen Besuchs eines Schallplattenladens hörte er, einige Monate vor seiner Schaffenspause, zufällig Ausschnitte aus gregorianischer Choralmusik. „Ich entdeckte damit eine Welt, die ich nicht kannte: ohne Harmonie, ohne Metrum, ohne Klangfarbe, ohne Orchestrierung, ohne alles. In diesem Augenblick wurde mir klar welche Richtung ich verfolgen musste […].“ (Restagno, 2010, p. 24) Aus diesem vergangenen Eindruck heraus entschied er, sich ausschließlich mit östlicher und westlicher liturgischen Musik und der frühen Polyphonie des Mittelalters und der Renaissance zu befassen, um dort die musikalische Abstinenz, die notwendigsten Bausteine der Musiken und damit Kontakt zu Gott zu finden. Mit einem alten Buch über gregorianische Gesänge „Liber usualis“, welches er von der Tallinner Kirche bekommen hatte, sang und spielte er viele Stunden gregorianische Choralmusik „[…] mit demselben Gefühl, mit dem man sich einer Bluttransfusion unterzieht.“ (ebenda, p. 35) Gleichsam las er einen Psalm und schrieb intuitiv dazu seitenlange Melodien, in der Hoffnung, einen intuitiven Zusammenhang dazwischen zu finden. Hier sei darauf verwiesen, dass Pärts größter Einfluss in der Findung seiner Selbst die westliche Polyphonie, in der alten Tradition des gregorianischen Chorals war und nicht die orthodoxe Kirche, wie es in verschiedenen Quellen behauptet wird. (ebenda, p. 43) Pärt kam zu der Erkenntnis, dass nicht eine Stimme, sondern mindestens zwei, als einzelne, individuelle, aber zum Funktionieren unzertrennliche, horizontal kombinierte Texturen nötig seien. Sein erstes Werk nach dieser Erkenntnis heißt Modus (Sarah Was Ninety Years Old) und zeigt bereits ein fortgeschrittenes Stadium seines Stils. Nach Vollendung seiner Stilentwicklung veröffentlichte er unter anderem Für Alina, welches einen großen Erfolg mit sich brachte.

3. Der Tintinnabuli-Stil

„Im Einklang mit dem Dreiklang“
(Arvo Pärt) (Zit. nach: Lesle, 2000, p. 239)

Pärts Suche nach einer neuen klanglichen Verkörperung seiner Vorstellungen mündete in der Entwicklung seines „Tintinnabuli-Stils“ (lat.: tintinnabulum, Glöckchen). In dieser innovativen Methode des Komponierens reduzierte Pärt sein musikalisches Material auf nur wenige wichtige Merkmale, zu denen er im Studium der alten gregorianischen Musik fand. Pärts suchte nach der Essenz der Musik, dem Kern, den die Musik der vergangenen Musikepochen innehat. Er selbst spricht von einem nucleus, vergleichbar mit einem biologischen Zellkern, auf welchem alle lebensnotwendigen Informationen in Form von Chromosomen vorliegen. „In the compositional process, I always have to find the nucleus first from which the work will eventually emerge. First of all I will have to get to this nucleus.“ (Zit. nach: Brauneiss, 2010, p. 103) Er konzentrierte seine Musik von nun an grundsätzlich auf folgende Merkmale:

- Beschränkung auf die grundlegenden musikalischen Elemente: Dreiklang und Skala. (Brauneiss, 2010, p. 100 f.)
- Innovativer Satzbau, bestehend aus sogenannten Melodiestimmen (M-St.), welche Skalenabschnitte beinhalten und Tintinnabuli-Stimmen (T-St), die aus Dreiklangstönen bestehen. (ebenda)
- Ein zugrundeliegendes schematisches System, aus dem die Komposition mündet und sich zusammensetzt. (ebenda)
- „Das Prinzip, die Musik dem ‚Körper‘ eines vorgegebenen Textes mit seinen unterschiedlich langen Wörtern und Sätzen folgen zu lassen.“ (Brauneiss, 2006, p. 160)

3.1. Die Begriffe der Skala und des Dreiklanges

Skalen waren bereits in alter Musik eines der grundlegendsten Bausteine jedmöglicher tonaler Musik. Sie sind ein rein formales Gebilde und definieren das zu benutzende Tonmaterial im engsten Raum, ebenso wie den zugrundeliegenden Gestus und die harmonischen Möglichkeiten. Sie sind die einfachste Form der melodischen Bewegung und damit eine Reduktion melodischer Aktivität auf das Grundlegende. (Brauneiss, 2010, p. 111) Gleichzeitig gibt eine Skala dem Komponisten die Möglichkeit gezielt aus ihr auszubrechen. Durch sie wird das tonale Zentrum markiert, um welches sich die Musik herumbewegt. Pärt verarbeitet verschiedene Skalenausschnitte in einer oder mehreren Melodiestimmen, die sich oft auf- oder absteigend durch das Stück bewegen. In seiner Musik wird das tonale Zentrum meistens durch den zugrundeliegenden Dreiklang, den Tintinnabuli-Dreiklang, bestimmt. Diese Dreiklangstöne, die an das Symbol der Glocke erinnern sollen, finden sich in der sogenannten Tintinnabuli-Stimme wieder und ertönen im Normalfall das ganze Stück über, wobei auf abendländisch-manifestierte Akkordprogressionen mit Bedacht verzichtet wird. (Brauneiss, 2012, p. 54 ff.) Melodiestimme und Tintinnabuli-Stimme sind in Pärts Stil auf sehr vielfältige Art und Weise miteinander verwoben, was nach einem Blick auf beide Stimmen näher beleuchtet wird.

3.2. Die Melodiestimme

Pärts Melodiestimme (nachfolgend: Mst.) besteht grundsätzlich aus kurzen oder langen Skalen oder Skalenausschnitten einer Tonleiter. Dabei steht der Zentralton des Stückes, der meist der Grundton der ersten Stufe des Tintinnabuli-Dreiklangs ist, in der Regel am Anfang oder am Ende der Skala. Es lassen sich grundsätzlich vier verschiedene Erscheinungsarten der Mst. finden, die der britische Dirigent und Pärt-Experte Paul Hillier als modes (Modi) bezeichnet. (Hillier, 1997, p. 95 ff.) Steht der Zentralton am Anfang der Figur, so kann die Skala vom ihm ausgehend diatonisch auf- oder absteigend folgen. Steht er am Ende, so kann er Zielton einer auf- oder absteigenden Skala sein. Diese Variationen kommen durch eine Spiegelung des ersten Modus um die horizontale und vertikale Achse zustande und sind in der abendländischen Musiklehre, sowie in Schönbergs Zwölftontechnik bereits als Grundgestalt, Umkehrung, Krebs und Krebsumkehrung bekannt. Leonard Brauneiss hat diesen vier Möglichkeiten Kürzel zugewiesen, welche des Verständnisses halber in der vorliegenden Arbeit verwendet werden. Dabei bezeichnet Z den Zentralton während ein Pfeil die Richtung der Skala angibt. Befindet sich der Pfeil vor dem Z, wird sich zum Zentralton bewegt, steht er dahinter, so verläuft die Melodie von ihm weg. (Brauneiss & Conen, 2006, p. 99 ff.)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Bewegungen der Mst. in Bezug auf Zentralton (Brauneiss & Conen, 2006, p. 100)

3.3. Die Tintinnabuli-Stimme

Die Tintinnabuli-Stimme (nachfolgend: T-St.) besteht ausschließlich aus Tönen eines Dreiklangs, dem sogenannten Tintinnabuli-Dreiklang (nachfolgend: T-Drk.). Dieser markiert im Regelfall die erste Stufe der Skala und durchläuft das ganze Stück. (Brauneiss & Conen, 2006, p. 100) Den Skalentönen der Mst. werden Tintinnabuli-Töne nach einem klar definierten Schema zugeordnet: Hierbei gibt es mehrere Möglichkeiten (Hillier, 1997, p. 93). Das anstehende Beispiel (siehe Abb. 2) ist eine Skala in A-Moll äolisch, wobei die T-Stimme ober- oder unterhalb jedes Melodietons einen der A-Moll Dreiklangstöne spielt. Die sogenannte erste Position (oberhalb, +1) bezeichnet, dass der nächstfolgende Dreiklangston oberhalb des jeweiligen Melodietons gesetzt werden muss. Die zweite Position (oberhalb, +2) beschreibt, dass der zweitnächste Dreiklangston mit dem Melodieton verknüpft wird. Invers dazu funktionieren die erste Position (unterhalb, -1) und die zweite Position (unterhalb, -2) in entgegengesetzte Richtung. Zusätzlich findet man einen Modus, in welchem die Positionen alternierend benutzt werden. (Conen, 2006, p. 48) Dadurch entwickelt sich aus der M-Stimme eine konsistente zweite Stimme, die das tonale Zentrum untermauert. Leonard Brauneiss entwickelte auch für die Bewegung der Tintinnabuli-Stimme eine Nomenklatur: Für die erste Position (oberhalb, +1) gilt die Formel MT+1, wobei für die erste Position (unterhalb, -1) die Formel MT-1 verwendet wird. Alle weiteren Positionen werden äquivalent benannt. Sollen gezielt die gemeinsamen Bewegungen von T-St. und Mst. bezeichnet werden, so findet eine Kombination der Nomenklaturen der beiden Stimmen statt. Für die Bewegungen aus Abbildung 2 wird demnach aus Takt 1 A-Moll M T+1 ↑ und aus Takt 2 A -Moll MT-1 ↑ erhalten, wobei sich das A-Moll sowohl auf den T-Drk., als auch auf die Mst. bezieht, da der Dreiklang auf der ersten Stufe der Skala steht und damit den Zentralton untermauert. (Brauneiss & Conen, 2006, p. 101) Dies ist aber nicht immer die Regel: „Auf der einen Seite kann jeder Ton der Skala zum Zentralton werden, auf der anderen Seite können andere leitereigene Dreiklänge die Funktion des Tintinnabuli-Dreiklangs übernehmen […]“ (ebenda, p. 102). Bedient sich beispielsweise (nach Abbildung 2) die Mst. eines Werkes der Skala von A-Moll, und vollzieht eine einfache Tonbewegung vom Startton H, der zweiten Stufe, nach dem Schema Z↑, so lautet die Formel dazu A-Moll 2 ↑. Liegt über diesen Tönen ein T-Drk. mit den Tönen von E-Dur in der Position (-1/+1), lautet die Formel dazu A-Moll M T E-Dur - 1/+1 2 ↑. (ebenda, p. 102)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Positionen der T-St in Bezug auf die Mst. (Brauneiss & Conen, 2006, p. 101)

3.4. Von der Zwei- zur Mehrstimmigkeit

Der Tintinnabuli-Stil ist, wie jede andere Kompositionstechnik, bestimmt durch Regeln, Systematiken und Varianten. Da mit jedem neu komponierten Stück die Palette an Regelneuschöpfungen und Varianten wächst, werden hier die wichtigsten und meist verwendeten grundlegenden Erscheinungen thematisiert. Es sind ebenso häufig Kombinationen und Abwandlungen dessen auffindbar.

3.4.1. Zweistimmigkeit

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Für Alina (Brauneiss, 2006, p. 109)

Die simpelste Variante des Tintinnabuli-Stils spiegelt sich im zweistimmigen Satz wider. Dabei sind in der Regel die Töne der T-St. denen der Mst. anhand der bereits erläuterten Prinzipien zugeordnet. Hat Pärt sich auf ein bestimmtes Prinzip festgelegt, verändert er es für den Rest des Stückes oder einen Abschnitt nicht mehr, wobei kleine Ausnahmen und Ausbrüche aus dem bestehenden System ebenso charakteristisch für ihn sind. (Brauneiss, 2006, p. 104) Ein anschauliches Beispiel dafür ist das Stück Für Alina, welches im Jahre 1976 entstand und Pärts erstes bekanntes Werk im Tintinnabuli-Stil darstellt:

Die Melodie dieses Stückes entnahm Pärt einem einfachen Übungsbuch, „[…] als sei es eine tote Melodie, die mir nichts bedeute.“ (Restagno, 2010, p. 44) Sie hat für ihn demnach keine subjektive Gewichtung. Es ist ersichtlich, dass die Oberstimme die Mst. und die Unterstimme die T-St. darstellen. Bei der Mst. handelt es sich um eine äolische H-Moll Skala, welche mit den jeweils nächstunteren tiefoktavierten H-Moll Dreiklangstönen im selben Rhythmus als Tintinnabuli-Töne zusammenklingen. Die allgemeine Formel dafür lautet: H -Moll MT-1, 8vab. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass keine Taktvorzeichnung existiert. Es ist anhand des Notenbildes lediglich ersichtlich, in welchem ungefähren relativen Verhältnis die Töne zueinanderstehen. Das Werk beginnt mit einem großen H als Orgelpunkt und die Stimmen werden taktweise um einen Ton erweitert, wobei der letzte Ton einer so entstehenden „Phrase“ immer eine Art langanhaltender Ruhepunkt darstellt. Dieses Verfahren der vertikalen Tonaddition ist in Pärts Musik häufiger anzutreffen und wird in Abschnitt e genauer thematisiert. Nach der Mitte des Stückes (nach 8 Takten) werden die jeweils zuletzt hinzugefügten Töne äquivalent zur ersten Hälfte entfernt, sodass der Eindruck entsteht, dass es zuerst aus sich selbst erwächst und nach einer horizontalen Kulmination wieder in sich zusammenfällt. Obgleich die Mst. um eine Oktave hochoktaviert ist und sich damit räumlich deutlich von der T-St. absetzt, folgt man den Stimmen nicht horizontal, sondern eher vertikal. Durch das langsame Voranschreiten der Mst. in kleinen Intervallen, findet auch in der T-St. wenig Bewegung statt. Das hat die Folge, dass verschiedene Melodietöne demselben Dreiklangston unterliegen, was zu einem Wechsel zwischen Konsonanzen und Dissonanzen führt. „Die herausragende Intervall-Eigenschaft der Sonanz kann im Tintinnabuli-Stil mit aller erdenklichen Klarheit bestimmt werden. Konsonanz bedeutet: Der Melodieton ist Bestandteil des T-Drkls., Dissonanz bedeutet: der Melodieton ist nicht Bestandteil des T-Drkls.“ (Brauneiss, 2006, p. 109). Erst nach den ersten drei Phrasen entfaltet sich die T-St. in voller Pracht und lässt den T-Dreiklang das erste Mal komplett ertönen, was dem Zuhörer eine Art Basis bietet und immer nachklingt, auch wenn es nur in dessen Gedächtnis geschieht. Um die Formel H-Moll MT-1, 8vab an diesem Beispiel zu erläutern, wird die erste Phrase dieses Schlüsselwerkes betrachtet. Phrase eins beginnt in der Mst. mit einem Cis, was der zweiten Stufe von H-Moll (äolisch) entspricht und verläuft zu D (H-Moll 2↑). Die zugrundeliegende Formel gibt an, dass die T-Töne im nächstunteren Dreiklangston tiefoktaviert erklingen sollen. Da dieser von Cis H ist, wurde H notiert. Der T-Ton des nächsten Skalentons D ist ebenfalls H, sodass dieser liegen bleibt und die anfangs entstehende Dissonanz auflöst. Werden die restlichen Takte des Werkes beobachtet, ist festzustellen, dass die T-St. der Mst. zu folgen scheint, wobei gleichsam durch gemeinsame Primen und Liegetöne eine innere Ruhe hervorgeht. (ebenda, p. 104 ff.)

3.4.2. Dreistimmigkeit

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: An den Wasser zu Babel (Brauneiss, 2006, p. 116)

Viele von Pärts Stücken sind im dreistimmigen Satz notiert. Ist dies der Fall, sollte zunächst geklärt werden, ob es sich bei der dritten Stimme um eine weitere T-St. oder eine Mst. handelt. Falls zwei Mst. existieren, sollte ebenso analysiert werden, auf welche der Mst. sich die T-St. bezieht und/oder in welchem Rahmen beide Stimmen Einfluss auf sie haben. Beispielhaft dafür ist Pärts bekanntes Werk Fratres, welches im Hauptteil dieser Arbeit ausführlich thematisiert und analysiert wird (siehe Abschnitt 4). Invers dazu können auch zwei T-St. neben einer Mst. existieren, was am Exempel An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten ersichtlich wird. Dort gibt es eine vokale Mst., welche durch zwei von einer Orgel gespielten T-St. umrahmt wird, wobei sich diese symmetrisch gegeneinander bewegen. Die Tintinnabuli-Töne werden hier alternierend zwischen der ersten Position unterhalb und oberhalb bzw. oberhalb und unterhalb in dem prädominierenden Material von A-Moll gesetzt. Ebenso ist die Oberstimme von der anderen durch Oktavierung klanglich differenziert worden. Die Formeln für beide T-St. lauten: A-Moll M T+1/-1 und A-Moll M T-1/+1. (ebenda, S. 116)

3.4.3. Vier- und weitere Mehrstimmigkeiten

Sind mehr als drei Stimmen in einer Komposition in Verwendung, was bei Pärt die am häufigsten zu findende Methode ist, können Mst. und T-St. auf verschiedene Art und Weisen kombiniert werden. (Brauneiss, 2006, p. 117 ff.)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 5:pari intervallo (Brauneiss, 2006, p. 117)

Die Melodiestimmen können, wie im beispielhaften Stück Pari intervallo, parallel zueinander in einem bestimmten Intervall geführt werden. Im nachfolgenden Beispiel sind beide Melodiestimmen, welche die Basspedal-Stimme und die Mittelstimme darstellen, um eine oktavierte Terz voneinander entfernt. Dabei hängen allerdings beide T-St. im alternierenden Modus nur von der Mittelstimme ab, was die Formel Es-Moll M T+2/-2 ergibt. In diesem Beispiel tritt das Phänomen auf, dass die Tintinnabuli-Töne nicht gleichzeitig mit der Mst. erklingen, stattdessen schlagen sie in der Oberstimme für die Dauer einer Viertel und in der unteren T-St. für die Dauer einer Halben nach. Dadurch entsteht eine Art Komplementärrhythmus, der einen klingenden Gesamteindruck von Halbe-Viertel-Viertel hinterlässt. Diese rhythmische Verschiebung bewirkt auch eine harmonische Divergenz, da die Mst. konstant in ganzen Noten weiterverläuft und so eine weitere Quelle für dissonante Reibungen gegeben ist.

Melodiestimmen können im Gegenteil dazu auch in Umkehrung zueinander vorliegen. Das angeführte Beispiel hierfür ist Silouans Song, ein weitgehend vierstimmiger Satz mit zwei T-St. (Sopran und Tenor) und zwei Mst. (Alt und Bass), bei dem ein Orgelpunkt als mögliche fünfte Stimme assoziiert werden kann. Jeder Mst. ist eine eigene T-St. zugeordnet, sodass von zwei Stimmpaaren gesprochen werden kann. Die Formel für die Position der T-St. beläuft sich für beide Stimmpaare vorwiegend auf F-Moll M T+1, wobei häufig Ausnahmen dazu festzustellen sind. Die Melodiestimmen befinden sich in der Mitte, umrahmt von den T-St., und verlaufen in symmetrischer Gegenbewegung voneinander weg und zueinander hin.

[...]

Ende der Leseprobe aus 40 Seiten

Details

Titel
Musik unserer Zeit. "Fratres" von Arvo Pärt. Eine Werkanalyse
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg  (Institut für Musik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
40
Katalognummer
V425611
ISBN (eBook)
9783668704619
ISBN (Buch)
9783668704626
Dateigröße
2946 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Arvo Pärt, Tintinnabuli, Fratres, Pärt, Arvo, Tintinnabuli-Stil, Estland, Neue Musik, Analyse
Arbeit zitieren
Thomas Zimfer (Autor:in), 2017, Musik unserer Zeit. "Fratres" von Arvo Pärt. Eine Werkanalyse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/425611

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Musik unserer Zeit. "Fratres" von Arvo Pärt. Eine Werkanalyse



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden