Geschlechtersensibler Unterricht an Waldorfschulen als Beispiel für geschlechtergerechtes Handeln in der Waldorfpädagogik


Hausarbeit (Hauptseminar), 2017

24 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Geschlechterspezifische Ansichten in der Waldorfpädagogik
2.1 Die Behandlung der Geschlechterfrage in den Veröffentlichungen Rudolf Steiners
2.2 Die Entwicklung von Mädchen und Jungen aus der Sicht der Waldorfpädagogik

3 Geschlechtersensibler Unterricht
3.1 Die Waldorfschule als Vorbild der Koedukation
3.2 Geschlechtersensibler Unterricht im erziehungswissenschaftlichen Diskurs

4 Die Umsetzung geschlechtersensibler Konzepte im Unterricht an Waldorfschulen
4.1 Rahmenbedingungen und Voraussetzungen
4.2 Geschlechtersspezifische Beobachtungen
4.3 Handlungsempfehlungen für den Schulalltag an Waldorfschulen

5 Fazit

ANHANG

Quellenverzeichnis

1 Einleitung

Ein Blick auf aktuelle Veröffentlichungen zeigt, dass sich auch die Waldorfpädagogik aktiv mit dem Thema Gendergerechtigkeit und Geschlechterrollen beschäftigt.1 Da Waldorf­schulen allgemein für ein besonders auf die individuelle und ganzheitliche menschliche Entwicklung bezogenes Schulkonzept stehen, sollte (gerade auch aufgrund der Fortführung vieler vor fast hundert Jahren entstandener Unterrichtstraditionen) der Blick auf aktuelle gesellschaftliche Tendenzen gerichtet sein.

Die Waldorfschule galt zum Zeitpunkt ihrer Gründung als Vorbild der koedukativen Erziehung. Das Thema Geschlechtersensibilität ist im Laufe des letzten Jahrhunderts immer wieder von verschiedenen Standpunkten (Emanzipation, Ko­edukation, Jungen­erziehung, Geschlechterrollen, Homosexualität, Transidentitäten…) aus betrachtet worden. Fast hundert Jahre nach der Gründung der ersten Waldorfschule gibt es neue wissenschaftliche Erkenntnisse, eine andere Ansicht von Geschlechterrollen und die öffentliche Akzeptanz und Toleranz von jenseits des klassischen Ideals von Mann und Frau liegenden Identitäts- und Beziehungskonzepten. Haben die damit einhergehenden Entwicklungen auch einen Einfluss auf die Waldorfpädagogik? In die Lehrpläne und Schulkonzepte allgemeinbildender staatlicher Schulen in Deutschland haben diese sozialen Veränderungen teilweise schon Eingang gefunden. Wie stark die Umsetzung eines geschlechter­sensiblen Unterrichts dort dann in der Praxis tatsächlich ausfällt, ist oftmals vom Stellenwert der Thematik in der Aus- und Weiterbildung von Lehrenden, lokalen (bundesland- und schulformspezifischen) Besonderheiten sowie Personal­konstellationen und finanziellen Zuwendungen für die Aufklärungsarbeit abhängig.

Waldorfschulen verfolgen ihren eigenen, teilweise weltweit identischen, teilweise sehr individuellen, aber dennoch veränderbaren Lehrplan, der nicht in regelmäßigen Abständen „von oben“ geprüft und verändert, sondern vielmehr von persönlicher Entwicklung und fachlichem Engagement der an einer Schule unterrichtenden Lehr­kräfte beeinflusst wird. Wie sieht es dort mit der Aktualität von z.B. gendergerechten Inhalten, sprachlichen Formulierungen und vor allem der methodischen Umsetzung aus?

Obwohl die menschenkundlichen Ansichten und Erkenntnisse der Anthroposophie üblicherweise nicht direkt als schulische Inhalte vermittelt werden, spielen sie doch für didaktisch-methodische Überlegung von Lehrenden in der Waldorfpädagogik eine wichtige Rolle. Daher soll zu Beginn dieser Arbeit ein kurzer Überblick über das den Ursprüngen der Waldorfpädagogik zugrunde liegende Geschlechterbewusstsein gegeben werden, auch wenn dieses Weltverständnis in manchen Ansichten sicherlich nicht den aktuellsten Stand der Wissenschaft repräsentiert und schon in der Vergangenheit bereits kritisch hinterfragt wurde. Sich ausschließlich auf biologische und psychologische Fakten des 21. Jahrhunderts zu beziehen, wäre gerade aufgrund der steigenden Anzahl an Untersuchungen auf dem Gebiet der Genderforschung im Schulkontext sicherlich lohnenswert, würde jedoch das Ziel einer gemeinsamen Betrachtung der waldorf­pädagogischen Ursprungs­gedanken und der Erkenntnisse der aktuellen Forschung im begrenzten Rahmen dieser Arbeit ein wenig verfehlen. Vielmehr soll deswegen ein zusammenfassender Überblick über die Ansichten geschlechter­spezifischer Entwicklung in der Waldorfpädagogik gegeben, die Forschungs­inhalte der allgemeinen Erziehungswissenschaft betrachtet und mit den Tendenzen in waldorf­pädagogischen Veröffentlichungen verglichen werden.

Davon ausgehend kann anschließend die Frage beantwortet werden, ob und inwiefern an Waldorfschulen den Anforderungen eines geschlechtersensiblen Unterrichts begegnet werden kann und welche geschlechtersensiblen Handlungsweisen mit den Grund­sätzen dieser besonderen Reformpädagogik vereinbar sind.

2 Geschlechterspezifische Ansichten in der Waldorfpädagogik

2.1 Die Behandlung der Geschlechterfrage in den Veröffentlichungen Rudolf Steiners

Rudolf Steiner beschreibt in seinen Vorträgen neben dem allgemeinen Menschenbild von Frau und Mann besonders die unterschiedlichen seelischen Entwicklungen von Schülerinnen und Schülern während der Pubertät. Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass diese Gedanken in einer Zeit entstanden, in der das Thema Gleich­berechtigung der Frau gerade erst an gesellschaftlicher Bedeutung zu gewinnen begann. Außerdem war die Ansicht einer bipolaren Geschlechtlichkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts die einzig öffentlich akzeptierte und muss im Kontext der damaligen Zeit gesehen werden. Im Gegensatz jedoch zu vielen Zeit­genossen war es für Rudolf Steiner ein wichtiges Anliegen, nicht nur das „Sinnlich-Sichtbare“, sondern auch das „Seelisch-Geistige“2 zu betrachten. Grundsätzlich entsteht das Menschenbild der Anthroposophie aus einer Viergliedrigkeit mit einer Differenzierung zwischen physischem, ätherischem, astralischem Leib und dem Ich-Bewusstsein.3 Nach Steiners Ansicht geht die Wissen­schaft nicht weit genug, wenn sie Mann und Frau nur als geschlechtliche Gegensätze betrachtet, „sondern man muss sprechen von männlichen und weiblichen Eigenschaften“.4 Bei diesem Konzept verfügen Mann und Frau über gleiche charakterliche Anlagen, die jedoch auf unter­schiedliche Art und Weise in Erscheinung treten: während beim Mann die Tapferkeit ganz klar ein äußeres Merkmal darstellt, zeigt sie sich bei der Frau eher in der inneren Handlung:

Unzählige Erscheinungen des Lebens werden uns klar, wenn wir die menschliche Wesenheit aus zwei Polen zusammenwirkend denken, den männlichen Pol nach außen, den weiblichen nach innen beim Mann, bei der Frau den weiblichen Pol nach außen, den männlichen nach innen.5

Steiner (1908) geht davon aus, dass der Mensch in den verschiedenen Reinkarnations­abschnitten in einer männlichen als auch in einer weiblichen Verkörperung geboren werden kann und deshalb beide Wesensmerkmale in sich trägt.6 Üblicherweise folgt die nächste Inkarnation im Gegengeschlecht, sodass aus diesem Erleben beider Polaritäten ein Mensch entsteht, der beide Prinzipien (das Männliche und das Weibliche) verwirklichen kann.7 Außerdem zog Steiner eine Verbindung zu einer biografischen Verinnerlichung in der weiblichen und einer Auseinandersetzung mit der Außenwelt in der männlichen Konstitution.8 Zudem trennt sich der Mensch nach anthroposophischer Sichtweise im Schlaf täglich von physischem und ätherischem Leib und „verweilt in einer geistigen Welt als ein Wesen, das nichts Männliches und Weibliches mehr an sich trägt, als geschlechtlich undifferenziertes Wesen“.9 Dieser Zustand der Geschlechts­losigkeit hat für Steiner seinen Ursprung in einem früheren, viele Jahrtausende zurück­liegenden Zeitalter der Menschheitsgeschichte, in dem alle Menschen auch vom Charakter her sehr gleich waren. Die geschlechtliche als auch charakterliche Individualisierung im irdischen Leben erfolgte nach Ansicht Rudolf Steiners mit dem Ende der lemurischen10 Zeit und stellt einen wichtigen Fortschritt in der menschlichen Entwicklung dar:

Dem Zusammenwirken der Geschlechter ist es zu verdanken, dass die heutige Art der Verschiedenheit des Menschen eingetreten ist […] Individualisierung geschieht durch die Einwirkung des männlichen Geschlechts auf das Weibliche.11

Diese Gedanken beziehen sich keinesfalls nur auf den Vorgang der Fortpflanzung, sondern vor allem auch auf die charakterliche Entwicklung. Durch das gemeinsame Miteinander der Eigenschaften beider Geschlechter verlagerte sich die zuvor vor­herrschende Wahrnehmung der göttlich-geistigen immer mehr in die physische Welt hinein. In diesem Zusammenhang warnte Rudolf Steiner vor einer Geschlechter­zuordnung nur anhand von äußerlichen (biologischen) Merkmalen:

Nun begreift man auch, wie so viele Beurteiler, die Mann und Weib äußerlich anschauen, in die Irre gehen; es kommt eben ganz darauf an, ob man auf das Innere oder auf das Äußere blickt.12

Der physische Körper kann als Vorgabe für eine mögliche Identität verstanden werden, die jedoch mit den sozialen und seelischen Persönlichkeitsbereichen „lange noch nicht als stimmig erlebt werden“ muss.13

Am Ende seines Vortrags „Mann und Weib im Lichte der Geisteswissenschaft“ vom 18.März 190814 erklärt Steiner, dass eine Betrachtung der Geschlechterkomponente nicht nur auf der physischen, sondern auch auf der geistigen Ebene eine Lösung der Geschlechter­frage bedeuten würde, indem „das Übergeschlechtliche im praktischen Leben“15 zugelassen wird.

Wir müssen den ganzen Menschen betrachten, den Menschen nach der Seite der Sinne, den Menschen nach der Seite des Geistes, wenn wir die Rätsel des Lebens lösen wollen. Über dem Sinnengegensatz zeigt sich, dass Mann und Weib nur Kleid sind, Hüllen, die die eigentliche Wesenheit des Menschen verbergen. Suchen müssen wir hinter dem Kleide. Da steht der Geist. Wir dürfen also nicht bloß auf die äußere Seite des Geistes eingehen, wir müssen eingehen auf den Geist selber.16

Generell wird die Betrachtung Rudolf Steiners im Zusammenhang mit Geschlecht­lichkeit und Sexualität in nicht-anthroposophischen Veröffentlichungen sehr kritisch gesehen. Ein großes Streitpotenzial bieten dabei der „Aspekt der ausgeblendeten Sexualität“17 und die Distanzierung vom Körperlichen durch großflächige Verhüllung in der Eurythmie.18

2.2 Die Entwicklung von Mädchen und Jungen aus der Sicht der Waldorfpädagogik

Schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts gab es eindeutige wissenschaftliche Beweise dafür, dass im Handeln, Fühlen und Denken von Mädchen und Jungen unabhängig von Sozialisations- und Umwelteinflüssen entscheidende Unterschiede bestehen. Neben den ausführlichen Erläuterungen Rudolf Steiners zu dieser Thematik spielen in der Waldorfpädagogik z.B. auch die Werke zur biografischen Entwicklung von Bernard Lievegoed (1905-1992) eine Rolle.

Die Entwicklung des Kindes wird in der Waldorfpädagogik stets als Zusammenspiel von Körper, Seele und Geist betrachtet. Erst durch den gemeinsamen Blick auf diese drei unterschiedlichen Aspekte kann der menschliche Lebenslauf als „individuelles Kunstwerk […] voll erfasst werden“.19

Rudolf Steiner benennt in einem Großteil seiner Vorträge das Objekt der Erziehung genderneutral als „das Kind“. Dennoch gibt es auch einige Verschriftlichungen, in denen genauer auf die geschlechtsspezifische Erziehung eingegangen und auch sprachlich deutlich zwischen Mädchen und „Knaben“ unterschieden wird.20 Anlass für diese Auseinander­setzung boten damals der Aufbau einer Oberstufe und die damit für die Lehrkräfte einhergehende Konfrontation mit den Besonderheiten der Pubertät. Hier gilt es zu bedenken, dass Steiners Altersangaben für die heutige Zeit um zwei bis drei Jahre reduziert gedacht werden müssen.

In der Pubertät kommt es nach der Ansicht Rudolf Steiners zu einer besonders aus­geprägten inneren Auseinandersetzung mit dem Astralleib.21 Dabei hat dieser Seelenraum „durch das ganze Leben hindurch beim weiblichen Geschlecht eine größere Bedeutung als beim männlichen Geschlecht“.22 Mädchen zeigen in dieser Zeit eine deutliche Neigung zu den kosmischen, Jungen hingegen zu den irdischen Kräften. Die Bewusstseinsverlagerung zugunsten des Astalleibes hat bei Mädchen einen deutlich stärkeren Einfluss auf das Ich und sie bekommen „viel leichter in diesem Lebensalter etwas Freies, etwas, was auf äußeres Auftreten hingeht, als der Knabe“.23 Zudem fällt es ihnen, da „das Ich mehr oder weniger vom Astralischen aufgesogen“24 wird, leichter, die Lebenskräfte im Ätherleib zu entfalten. Merkmale dieses Vorgangs sind in vielen Fällen eine geschicktere „äußere Beweglichkeit“,25 selbstbewusstes Auftreten und ein verstärktes „Sich-Zeigenwollen in der Welt“.26 Bei Mädchen ist die „gefühlshafte Weltbetrachtung“27 in der Zeit der Pubertät besonders ausgeprägt. Außerdem werden die eigene Empfindsamkeit und die seelische Verfassung häufig besser wahrgenommen.

Bei Jungen fällt der astralische Einfluss auf das Ich geringer aus und so bleibt dieses durch die Pubertät hindurch ein wenig stärker im „Nichtselbstständigsein“28 gefangen, was wiederum oftmals ein größeres inneres Rückzugsbedürfnis zur Folge hat. Dass in diesem Alter bei Jungen häufig auch ein auf äußere Handlungen ausgerichtetes „Lümmel- und Flegelwesen“ zum Vorschein kommt, soll dazu keinen Widerspruch darstellen, denn damit wird versucht „das, was man ist, nicht in die Außenwelt [zu] tragen“.29 Vielmehr spielt nun das Prinzip der Nachahmung (wie bereits im ersten Jahrsiebt) wieder eine Rolle, indem versucht wird, Verhaltens- und Ausdrucksweisen von anderen zu übernehmen zu dem Zweck, sein eigenes Wesen aus Unsicherheit vor der Welt noch ein wenig verborgen zu halten.

Der Anthroposoph und Heilpädagoge Lievegoed geht in seiner Fortführung der goetheanistischen Entwicklungsgedanken vom Vorhandensein einer körperlichen und einer geistigen Welt, welche durch die menschliche Seele verbunden werden, aus.30 Diese Dreigliedrigkeit entspricht der Ansicht Friedrich Schillers zur ästhetischen Erziehung des Menschen mit der Verbindung von „Form-“ und „Stoff-“ im „Spieltrieb“.31 Lievegoed (2007) unterteilt die Entwicklungszeit des Kindes gemäß Steiners Jahrsiebte-Einteilung in drei verschiedene Perioden, wobei hauptsächlich die zweite und die dritte Periode (Zahnwechsel bis Pubertät; Pubertät bis zum Erwachsensein) für die schulische Ausbildung von Bedeutung sind. Allerdings beschreibt Lievegoed erst im Zusammenhang mit der Pubertät deutliche Unterschiede in der Entwicklung von Mädchen und Jungen. Er hält die Unterschiede davor für „noch nicht wesentlich“32 genug. Dennoch können seine Ausführungen zur pubertären Entwicklung mit einer Reduktion der Altersangaben um etwa zwei Jahre früher auch für die heutige Pädagogik noch wertvolle Erkenntnisse leisten.

Nach Lievegoed bilden Jungen während der Phase der Präpubertät33 gerne „Klubs und Bünde“34 um ihre körperlichen Kräfte zu messen, Abenteuer zu erleben oder etwas zu bauen. Auch Mädchen finden sich gerne in themen- und interessensorientierten Gruppen zusammen, wobei die Abgrenzung vor allem von der (erwachsenen) Außen­welt dabei eine wesentliche Rolle spielt. Bei Mädchen beginnt die Pubertät ein bis zwei Jahre früher, weshalb diese Phase in der heutigen Zeit durchschnittlich etwa das 10. und 11.Lebensjahr betreffen dürfte.

Ein weiterer wesentlicher Unterschied besteht darin, dass sich Jungen auf der Suche nach einem Weltbild in der Zeit der Pubertät eher nach außen wenden (Technik, Kosmos, die Entdeckung der Welt)35, wobei Lievegoed die Interessen von Jungen in zwei Gruppen einteilt: „eine größere Gruppe mit naturwissenschaftlich-technischen und eine kleinere Gruppe mit literatur-humanistischen Interessen“.36 Für Mädchen hingegen spielt das Entdecken ihrer inneren Welt, der menschlichen Seele mit all ihren Gefühlen und Emotionen eine wichtige Rolle.37

Entgegen Lievegoeds Ansicht, dass geschlechtsspezifische Entwicklungsunterschiede vor der Pubertät vernachlässigt werden können, finden sich in neueren Veröffent­lichungen viele Hinweise dazu, dass sich Mädchen und Jungen bereits viel früher voneinander unterscheiden.38 Einen entscheidenden Anteil leisten hier neben den biologischen Voraussetzungen auch Sozialisationsfaktoren, da sich aus dem für das Kind nach und nach entstehenden Rollenverständnis auch unterschiedliche Handlungs­muster ergeben. Mathias Wais (2015) verknüpft die Bedürfnisse der Jungenpädagogik mit dem Menschenbild der Anthroposophie und warnt vor einer Ignoranz der „grundsätzliche[n] Wesensunterschiede zwischen dem weiblichen und männlichen Erleben“.39 Jungen, bzw. Männer erleben vermehrt eine „existenzielle Unsicherheit dem Leben­digen im allgemeinen und dem Weiblichen gegenüber“40 und stehen vor der Aufgabe, einen zusätzlichen Entwicklungs­schritt machen zu müssen, da Mädchen das Rollenbild z.B. der Mutter als primäre Bezugsperson ohne vorherige Loslösung übernehmen können.

Die eigene Identitätsfindung kann für Kinder, die ausschließlich in der Umgebung gegengeschlechtlicher Bezugspersonen aufwachsen, erschwert werden. Daher sollte die Lebenswelt dieser Schülerinnen und Schüler als Ausgangspunkt für geschlechtersensibles Handeln besonders berücksichtigt werden.

3 Geschlechtersensibler Unterricht

3.1 Die Waldorfschule als Vorbild der Koedukation

Eine gemeinsame Erziehung von Mädchen und Jungen, dazu noch aus verschiedenen sozialen Schichten, entsprach zur Zeit der ersten Schulgründung noch nicht den gesellschaftlichen Normen, war aber jedoch für die Initiatoren der ersten Waldorfschule selbstverständlich: „Sie wird eine Einheitsschule sein in dem Sinne, dass sie lediglich darauf Rücksicht nimmt, so zu erziehen und zu unterrichten, wie es der Mensch, wie es die menschliche Gesamtwesenheit erfordert.“41

Diese Tatsache setzte einen wichtigen Meilenstein in der Erziehungs­wissenschaft und im Zusammenhang mit einer durchgängigen Koedukation wird die Waldorfschule häufig als Vorreiter genannt. Neben des gemeinsamen Unterrichts in den üblichen Fächern des humanistischen Bildungskanons war und ist es bis heute eine Besonderheit geblieben, dass traditionell weibliche Bereiche (z.B. Stricken, Häkeln, Nähen) in die männliche Erziehung Eingang gefunden haben.42 Für das staatliche Schulwesen des 20.Jahrhunderts lässt sich in gewissen Zeiten, womöglich auch den historischen Umständen geschuldet, eher das Gegenteil behaupten, da in der eher weniger geschlechter­differenzierten Erziehung häufig schwere körperliche und technisch orientierte Arbeit von Mädchen und Jungen gefordert wurde (z.B. polytechnischer Unterricht in der DDR). Koedukation in der Waldorfpädagogik „bedeutet nicht nur „die Mädchen machen alles mit, was die Jungen machen“, sondern auch umgekehrt „ die Jungen machen alles mit, was die Mädchen machen“.43

3.2 Geschlechtersensibler Unterricht im erziehungswissenschaftlichen Diskurs

In den letzten Jahrzehnten sind in der deutschsprachigen Forschung verschiedene Ansätze entstanden, die sich mit der Umsetzung einer gendergerechten Schulwelt beschäftigt haben. Nachdem die Thematik in der 1970er Jahren besonders im Zusammenhang mit einer Mädchenförderung die Öffentlichkeit erreichte, wurde viel darüber diskutiert, ob die flächendeckende Durchsetzung der Koedukation womöglich zum Nachteil von Schülerinnen geschehe. Mangelndes Interesse und Selbstvertrauen in technischen Fächern sowie in Mathematik, Physik, Chemie und geringe Absolventinnen­zahlen bei den höheren Bildungsabschlüssen waren die wesentlichen Ausgangspunkte einer jahrzehntelangen

[...]


1 Als Beispiele können die Schwerpunktthemen der Zeitschrift „Erziehungskunst- Waldorfpädagogik heute“ der Ausgaben 10/2003 (Jungen & Mädchen); 3/2015 (Rollenbilder) oder 6/2017 (Gender) genannt werden.

2 Vgl. Steiner 1908.

3 Für ein ausführliches Verständnis der Vier-Leiber-Lehre siehe z.B. Ullrich 2015, S.104ff.

4 Steiner 1908, S.5.

5 Ebd., S.6.

6 Ebd., a.a.O.

7 Vgl. Maris & Zech 2006. S. 31.

8 Vgl. Zech 2017, S.16.

9 Steiner 1908, S.6.

10 „bevor der Mond sich herausbewegte aus der Erde“ (Steiner 1908, S.7). Die Anthroposophie geht von einer Gliederung der Erdentwicklung in sieben Hauptzeitalter aus. Das lemurische Zeitalter steht an dritter Stelle und entspricht erdgeschichtlich dem Mesozoikum. Quelle: o.V. 2017; Eintrag „Lemurische Zeit“ im Onlinelexikon AnthroWiki.

11 Steiner 1988, S.132ff. Zit in: Peter 2002; Auslassung: L.G.

12 Steiner 1908, S.6.

13 Meier 2017, S.6.

14 Steiner 1908, S.11.

15 Ebd., S.11.

16 Ebd., a.a.O.

17 Geuenich 2009, S.55.

18 Vgl. ebd., S.54.

19 Lievegoed 1991, S.7; Auslassung: L.G.

20 Zum Beispiel im Vortrag am 16.6.1921 zu Menschenkenntnis und Unterrichtsgestaltung, GA 302. Zit in: „Erziehungskunst-Waldorfpädagogik heute“ (im Folgenden abgekürzt mit EWH), 10/2003, S.1109f.

21 Weitere Hinweise zu den verschiedenen Gliederungen des menschlichen Leibes siehe Seite 5 dieser Arbeit.

22 Rudolf Steiner - Vortrag am 16.6.1921 zu Menschenkenntnis und Unterrichtsgestaltung, GA 302. Zit in: EWH 10/2003, S.1109f.

23 Ebd., S.1110.

24 Ebd., S.1110.

25 Vgl. Ebd., a.a.O.

26 Vgl. Ebd., a.a.O.

27 Vgl. Doosry 2003, S.1089.

28 Vgl. EWH 10/2003, S.1110.

29 Ebd., EWH 10/2003, S.1113.

30 Vgl. Lievegoed 2007, S.9.

31 Vgl. Lievegoed 2007, S.10.

32 Ebd., S.66.

33 Nach Lievegoed 2007 erleben Jungen die Präpubertät im 12.-14. Lebensjahr.

34 Lievegoed 2007, S.66.

35 Vgl. ebd., S.72.

36 Ebd., S.73.

37 Vgl. Lievegoed 2007, S.78.

38 Beerman et al. 1992, Neider 2007 oder Guggenbühl 2011 als stellvertretende Beispiel für eine Vielzahl an Veröffentlichungen.

39 Wais 2015, S.8.

40 Ebd., S.9.

41 Steiner 1993, S.13. Ansprache am 20.August 1919.

42 Vgl. Maris & Zech 2006, S.101f.

43 Maris & Zech 2006, S.101.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Geschlechtersensibler Unterricht an Waldorfschulen als Beispiel für geschlechtergerechtes Handeln in der Waldorfpädagogik
Hochschule
Technische Universität Dresden
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
24
Katalognummer
V425401
ISBN (eBook)
9783668703322
ISBN (Buch)
9783668703339
Dateigröße
652 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
geschlechtersensibler, unterricht, waldorfschulen, waldorfpädagogik, Gender
Arbeit zitieren
Luisa Gester (Autor:in), 2017, Geschlechtersensibler Unterricht an Waldorfschulen als Beispiel für geschlechtergerechtes Handeln in der Waldorfpädagogik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/425401

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