»Das Ich braucht das WIR«. Soziale Ordnung im Zeichen des Kommunitarismus.


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

25 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


1 Inhaltsverzeichnis und Gliederung

2 Problemstellung

3 Integration und soziale Ordnung
3.1 Systemintegration und Sozialintegration
3.2 Sozialintegration durch Differenzierung
3.3 Substantielle und prozedurale Staatsbegründungen

4 Menschen und Gesellschaften: Soziologische Imaginationen
4.1 Menschenbilder in der Soziologie
4.2 Gesellschaftsbilder in der Soziologie

5 Kommunitarismus bei Amitai Etzioni
5.1 Kurzbiographie Etzionis
5.2 Kommunitarismus als Theorieströmung und Bewegung

6 Anthropologie und Soziologie des KTR
6.1 Anthropologie
6.2 Gesellschaftslehre

7 Kommunitarismus und soziale Ordnung
7.1 Sozialer Wandel
7.2 Gesellschaftsdiagnose und Therapie
7.2.1 Diagnose
7.2.2 Therapie

8 Fazit

9 Literaturverzeichnis

2 Problemstellung

DV sihst, wohin du sihst nur Eitelkeit auff Erden.
Was diser heute baut, reist jener morgen ein:
Wo itzund Städte stehn, wird eine Wisen sein
Auf der ein Schäfers-Kind wird spilen mit den Herden:

Was itzund prächtig blüht, sol bald zutretten werden.
Was itzt so pocht und trotzt ist Morgen Asch und Bein
Nichts ist, das ewig sei, kein Ertz, kein Marmorstein.
Itzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.

Der hohen Thaten Ruhm muß wie ein Traum vergehn.
Soll denn das Spil der Zeit, der leichte Mensch bestehn?
Ach! was ist alles diß, was wir vor köstlich achten,

Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind;
Als eine Wisen-Blum’, die man nicht wider find't.
Noch wil was ewig ist kein einig Mensch betrachten
!

(Andreas Gryphius: Es ist alles Eitel, 17. Jh.)

Gryphius beschreibt den Niedergang einer Zivilisation, die an ihrer eigenen Üppigkeit irre wird, sich in falschen Ansprüchen verliert – und schließlich untergeht. Den irdischen Errungenschaften stellt er die Vergänglichkeit des einzelnen Menschen gegenüber, der in seinem Materialismus taub geworden ist gegen die eigentlichen Nöte seiner Existenz. Selbst zu Gryphius Zeit ist seine Klage keineswegs originell, bedient er sich doch einer biblischen Vorlage aus dem Alten Testament[1]. Diese Arbeit will eine moderne Prophetie vorstellen, die in ihrer Gesellschaftskritik sich durchaus in die dargestellte Linie einreiht: den Kommunitarismus (KTR[2]) von Amitai Etzioni. Dabei sollen die soziologischen Gehalte dieses KTR anhand zweier zentraler sozialwissenschaftlicher Problembereiche erarbeitet werden. Nach einer kurzen Einführung in die Natur des Kommunitarismus, wie Etzioni ihn vertritt, möchte ich zunächst dem Menschen- und Gesellschaftsbild des KTR nachgehen, um anschließend seine Haltung zu Fragen der Integration, der sozialen Ordnung und des sozialen Wandels zu erörtern. Für diese beiden großen Blöcke werde ich im folgenden einige Vorüberlegungen anstellen in dem Versuch, sie in die sozialwissenschaftliche Theorielandschaft einzubetten. Diese Vorreden verstehen sich durchaus als Propädeutika, allerdings weniger fachlicher Art als vielmehr, um meine eigene Lesart zweier gesellschaftswissenschaftlicher Kernprobleme plausibel zu machen.

Abschließend möchte ich mich den Fragen zuwenden: worin besteht die Kritik des KTR an der Modernität ?, inwiefern basiert der KTR vielleicht selbst auf modernisierungstheoretischen Annahmen ? und sind Kritiken von Modernität selbst Kinder der Moderne als zeitgeschichtlichem Abschnitt oder vielmehr, umfassender, eine Art literarischer Topos oder Genre ?

3 Integration und soziale Ordnung

3.1 Systemintegration und Sozialintegration

Noch bevor Emile Durkheim sich über das soziale Band in arbeitsteiligen Gesellschaften verwunderte, waren Integration und soziale Ordnung Themen einer sich entwickelnden Soziologie. Sie sind in dem organizistischen Gesellschaftsbild eines Spencer oder Comte ebenso bedeutsam wie in den Kooperationsmodellen von Adam Smith. Mit Lockwood lernte die Soziologie rund 100 Jahre später, zwischen Systemintegration (“The orderly or conflictful relationship between the parts of a social system”) und Sozialintegration (“The orderly or conflictful relationship between the actors of a social system”)[3] zu unterscheiden. Schließlich unterteilt Esser die Sozialintegration in Kulturation, Platzierung, Interaktion und Identifikation.

Platzierung meint dabei die Inklusion des Akteurs in bestimmte rechtliche (Staatsbürgerschaft) oder sozio-ökonomische (Berufseinmündung) Systeme. Implizit scheint Esser hier auch eine Vorstellung von sozialem Kapital gleichsam als Produktionsmittel individueller Positionierung im Kopf zu haben[4].

Kulturation meint die Aneignung jenes Wissens und jener Kompetenzen, die den Akteur zur Teilhabe an einem größtmöglichen Set sozialer Situationen befähigt. Kulturation als Kenntnis der „Programme des sozialen Handelns“ ist somit eine Voraussetzung für gelungene Interaktion. Sie ist aber als „eine Art von (Human-)Kapital“ auch Voraussetzung für gelungene Platzierung[5]. Die bourdieusche Vorstellung eines (ungleich verteilten) kulturellen Kapitals wird hier von Esser aus ihrem konflitktheoretischen Zusammenhang gleichsam „entbettet“ und in ein Integrationskonzept implementiert.

Interaktionen unterscheidet Esser als Spezialfall des Sozialen Handelns von sozialen Beziehungen auf der einen und Transaktionen auf der anderen Seite. Als Spezialfälle von Interaktion ließen sich wiederum gedankliche Koordinierung, symbolische Interaktion und Kommunikation ausmachen. Wenngleich Esser hier etwas vage bleibt, ist doch zu vermuten, dass seine Unterteilung der Interaktion auf verschiedene Stufen von Unmittelbarkeit abstellt. So kann Interaktion u.U. bereits in der Antizipation eines bestimmtes Verhaltens des Anderen bestehen oder aber in dem faktischen Austausch nonverbaler oder verbaler Zeichen bis hin zur physischen Gewaltanwendung[6]. Insgesamt hat Esser hier soziale Netzwerke im Blick, wie ein längerer Exkurs in die Netzwerkanalyse belegt[7].

Identifikation meint schließlich im weitesten Sinne das »Sich-Eins-Fühlen« des Akteurs mit dem System als ganzem. Esser unterscheidet hier Wertintegration, Verkettungsintegration und Deferenzintegration. Wertintegration bezieht sich etwas emphatisch auf bewusste, emotional begründete Loyalität der Akteure zu dem System (etwa Nationalstolz). Dahinter steht freilich auch die Vorstellung einer Wertegemeinschaft, eines moralischen Konsensus als Born eines universellen Zusammengehörigkeitsgefühls[8]. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass sich soziologische Integrationsdebatten inmitten eines hochgradig politisierten Diskurses bewegen und diesen aktiv mitgestalten: der Frage nach einer substantiellen oder einer prozeduralen Begründung von Gemeinwesen, die im Anschluss erörtert werden soll. Eine weitere Politisierung erfolgt durch die Kennzeichnung der Lebenswelt als Ort moralischer Rekonvaleszenz, wie sie die Theorie des kommunikativen Handelns vornimmt. Hier wird die Lebenswelt als prekäres moralisches Biotop (im wahrsten Sinne des Wortes) der zersetzenden Kraft systemischer Logiken wie Macht und Geld gegenübergestellt.

Besteht die Wertintegration in aktiver Hingabe der Akteure an ihre Vorstellung von dem systemischen Ganzen, so kann doch auch die passive Hinnahme des Systems, das bloße Unterlassen desintegrierender Aktivitäten integrativ wirken. Die erste Form dieser hinnehmenden Integration ist die Verkettungsintegration. In eben dem Maße, wie sich die sozialen Kreise der Akteure kreuzen und wechselseitig verschränken, wird es auch schwerer, größere interessenhomogene Aggregate zu bilden. diese Vorstellung von Integration und ihre Implikationen für einen Individualisierungsprozess wurden zuerst von Georg Simmel in seinem Aufsatz „Die Kreuzung sozialer Kreise“ thematisiert:

3.2 Sozialintegration durch Differenzierung

In seinem Aufsatz „Die Kreuzung sozialer Kreise“ entwirft Simmel ein Programm der Integration durch (Interessen-) Vielfalt. Soziale Kreise sind im weitesten Sinne geeinte Gruppen. Diese Einung kann aufgrund indisponibler (Geschlecht, Alter) und disponibler Merkmale (Interesse) der Beteiligten bewirkt werden[9]. Die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft wird nun dialektisch in den Zusammenhang des Einzelnen zu seinen sozialen Kreisen aufgelöst:

„Nachdem die Synthese des Subjektiven das Objektive hervorgebracht hat, erzeugt nun die Synthese des Objektiven ein neueres und höheres Subjektives – wie die Persönlichkeit sich an den sozialen Kreis hingibt und sich in ihm verliert, um dann durch die individuelle Kreuzung der sozialen Kreise in ihr wieder ihre Eigenart zurückzugewinnen.“[10]

Soziale Kreise (oder: Strukturen) bestehen also nur in Trägerschaft durch die beteiligten Einzelnen, gleichzeitig aber erfolgt Individuation nur durch die je einzigartige Kombination sozialer Kreise, die der Einzelne aufweist. Je differenzierter eine Gesellschaft, desto mehr soziale Kreise weist sie auf, desto genauer bestimmbar ist der Einzelne (Individualisierung)[11]. Die Gefahr der Dissoziation, wie sie einer Gesellschaft etwa durch zunehmende Arbeitsteilung ankommen mag, wird hier nicht –wie bei Durkheim- durch ein soziales Band aufgefangen, sondern vielmehr in das Individuum hinein verlagert. Der Einzelne, die Schnittstelle sozialer Strukturen wird zum Kampfplatz der dissoziativen Tendenzen[12]. Er reagiert darauf entweder mit psychischer Desintegration („seelischer Dualismus und Zerreißung“) oder aber mit einem gestärkten Ich-Bewusstsein:

„Je mannigfaltigere Gruppeninteressen sich in uns treffen und zum Austrag kommen wollen, um so entschiedener wird das Ich sich seiner Einheit bewusst.“[13]

Integrationstheoretisch gesprochen wird also das desintegrative Potential einer Gesellschaft in den Einzelnen ausgelagert, der aufgrund seiner psychischen Disposition als Einzelwesen gleichsam eine angeborene Integrationsfähigkeit besitzt. Indem der Einzelne erst durch diese inneren Konflikte seiner sozialen Identität[14] (ME) gewahr wird, gewinnt sein Ich-Bewusstsein an Reflexivität. Insoweit entspricht die Verlagerung sozialer Konflikte den Interessen des Einzelnen, so dass er den Handlungsanweisungen der ihn betreffenden sozialen Kreise nicht zuwiderhandeln und dadurch soziale Struktur reproduzieren wird. Die Grenzen der beschriebenen Integrationsleistung des Einzelnen beginnen dort, wo die Distanz sozialer Kreise eine Kreuzung unmöglich oder doch unwahrscheinlich macht[15].

Als zweite Form der Integration durch Hinnahme führt Esser die Deferenzintegration an. Handeln die verkettungsintegrierten Akteure nicht gegen das System, weil sie damit zumindest teilweise auch ihre eigenen Interessen verletzen würden, so entsteht deferenzintegrierende Hinnahme aus der Annahme oder Wahrnehmung der eigenen Ohmacht und Marginalität (»Was kann ich schon ausrichten ?«). Dies ist die schwächste Form von Integration, auf die Essers Oberbegriff der Identifikation kaum noch zutrifft. Integration entsteht hier durch Unterlassen systemfeindlicher Handlungen durch Fatalismus durch geringe wahrgenommene Handlungsmacht[16].

3.3 Substantielle und prozedurale Staatsbegründungen

Wie bei der Wertintegration bereits angesprochen, verlaufen akademische und politische Debatten über soziale Ordnung im Spannungsfeld zwischen substantiellen und prozeduralen Begründungen von Gemeinwesen. Dieser Diskurs soll anhand eines systemtheoretischen Zugangs zur Integrationsleistung von Religion eröffnet werden.

Dieser Ansatz stimmt etwa mit Durkheim darin überein, dass Religion für seine Vertreter durch ihre soziale Funktion (Stiftung eines sozialen Bandes) zum Gegenstand der Betrachtung wird. Dem Vertrauen in die integrative Kraft wie auch immer gearteter religiöser Haltungen und Handlungen begegnen die Systemtheoretiker allerdings mit tiefer Skepsis. Exemplarisch hierfür ist die Haltung von Friedrichs und Jagodsinzki. In ihrem Überblick über Theorien sozialer Integration legen sie in einem knappen Abschnitt zu Religion dar, dass diese nicht nur keine integrative Wirkung mehr besitze, sondern überhaupt nie besessen habe. Versuche, etwa die mittelalterliche oder viktorianische Gesellschaft als religiös unterbaut zu kennzeichnen, seien letztlich nur historische Fiktionen[17]. Da religiöse Institutionen durch unmoralisches Verhalten ihrer Funktionsträger die integrative Potenz von Religion in modernen Gesellschaften häufig korrumpierten, vermöge lediglich eine Zivilreligion die Funktion grundsätzlich zu erfüllen[18]. Allerdings liege weder zu deren Bestand noch zu deren Wirksamkeit empirische Evidenz vor. Integration durch Religion sei also aus theoretischen Erwägungen und empirischen Befunden zu verneinen[19].

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

[...]


[1] (2)„Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel. (3) Was hat der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe, die er hat unter der Sonne ? (4) Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt; die Erde aber währet ewiglich.“ – Prediger 1, 1-4.

[2] Dieses Kürzel meint ausdrücklich den Kommunitarismus Etzionis.

[3] Lockwood 1964, S. 245.

[4] Esser 2000, S. 272f.

[5] Ebenda.

[6] Esser 2000, S. 273.

[7] Derselbe, S. 274.

[8] Vgl. Esser 2002, S. 275. Esser referiert hier auch Parsons Vorstellung von der „gesellschaftlichen Gemeinschaft“ als einem sozialem Subsystem. Dieser Gedanke wird im Hinblick auf Etzionis Konzept der Gesellschaft als Gemeinschaft der Gemeinschaften aufzugreifen sein.

[9] Simmel, S. 461f.

[10] Derselbe, S. 467.

[11] Derselbe, S. 466.

[12] Derselbe, S. 468.

[13] Ebendort.

[14] Derselbe, S. 477.

[15] Derselbe, S. 471.

[16] Esser 2000, S. 276f.

[17] Friedrichs/Jagodsinzki, S. 33.

[18] Derselbe, S. 34. Wie bei Hobbes wird hier ein ideales Religionsverständnis aus einer Kritik religiöser Institutionen entwickelt.

[19] Derselbe, S. 34f.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
»Das Ich braucht das WIR«. Soziale Ordnung im Zeichen des Kommunitarismus.
Hochschule
Universität Bremen  (Institut für Soziologie)
Veranstaltung
'Kritik der Modernität (Beiträge von D.Bell, H.Marcuse, G.Ritzer, P. Bourdieu u.a.)'
Note
1,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
25
Katalognummer
V42508
ISBN (eBook)
9783638405249
ISBN (Buch)
9783638656658
Dateigröße
526 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
In dieser Arbeit wird auf der Grundlage einer ausführlichen Diskussion von soziologischen und politologischen Theorien der Sozial- und Systemintegration das Konzept sozialer Ordnung beleuchtet, wie es der Kommunitarismus propagiert. Dabei wird der K. sowohl als adademische und soziale Bewegung begriffen und sein Menschen- und Gesellschaftsbild ebenso wie seine Diagnose und Therapie der Gegenwartsgesellschaft behandelt.
Schlagworte
WIR«, Soziale, Ordnung, Zeichen, Kommunitarismus, Modernität, Bell, Marcuse, Ritzer, Bourdieu
Arbeit zitieren
Alexander-Kenneth Nagel (Autor:in), 2003, »Das Ich braucht das WIR«. Soziale Ordnung im Zeichen des Kommunitarismus., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/42508

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