Das kollektive Gedächtnis laut Maurice Halbwachs anhand des Romans von Élie Wiesel "L'oublié"


Seminararbeit, 2004

12 Seiten, Note: Sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

Einleitung

I. Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis
I. 1. Biographie
I. 2. Der Begriff des kollektiven Gedächtnisses
I. 3. Erinnern und Vergessen
I. 5. Kollektives Gedächtnis und Geschichte
I. 6. Gedächtnisrahmen: soziale Zeit und sozialer Raum

II. Élie Wiesel: L´oublié
II.1. Biographie
II. 2. Der Inhalt des Romans
II. 3. Das kollektive Gedächtnis im Roman

Resümee

Bibliographie

Einleitung:

Die Diskussion über „Vergangenheitsbewältigung“ und politische bzw. gesellschaftliche Auseinandersetzung mit traumatischen Erlebnissen der Vergangenheit ist eine aktuelle und brisante Diskussion, die nicht nur von verschiedenen Wissenschaftszweigen, sondern auch von Politik und Gesellschaft geführt wird und, man denke nur an die erst vor Kurzem geführten Debatten im österreichischen Nationalrat über „das Nachtrauern des Nationalsozialismus“ und „Pogromstimmung“, nicht selten zu Kontroversen und heftigen Auseinandersetzungen führen kann. Besonders im deutschsprachigen Raum bleibt dieser Diskurs voll von Emotionen. Seit dem Ende des Nationalsozialismus gewann die sogenannte „Vergangenheitsbewältigung“ an Wichtigkeit und wird seither nicht nur in Deutschland und Österreich als Aufarbeitung betrieben, sondern erfährt in der jüngeren Geschichte international immer mehr Beachtung in demokratischen Ländern, in denen während der vorhergehenden Diktaturen (oder wie im Falle Südafrikas oder Peru auch Demokratien) Menschenrechtsverletzungen begangen wurden.

Der wissenschaftliche Diskurs über Geschichte, Gedächtnis und Erinnerung ist jedoch älter als die Frage der „Vergangenheitsbewältigung“, und Maurice Halbwachs lieferte durch sein Konzept des kollektiven Gedächtnisses einen wichtigen theoretischen Beitrag dazu.

Für mich war dieses Thema aus folgenden Gründen besonders interessant: Ich gehöre der zweiten Generation nach dem Nationalsozialismus an, wurde aber im Laufe meines Lebens immer wieder mit dem Thema dieser menschenverachteten Vergangenheit, die die Nazis hinterlassen haben, konfrontiert, sei es in der Familie, der Schule, der Universität, im Freundeskreis und, obwohl ich keinerlei persönliche Erinnerungen mit der Zeit des Dritten Reiches besitze, scheint es Teil meines Gedächtnisses zu sein. Ist dies die Idee des kollektiven Gedächtnisses, wie es sich Halbwachs vorstellte? Diese Frage erweckte meine Neugier, mich näher mit seiner Theorie auseinander zu setzen, und im Folgenden soll versucht werden, seine Gedankengänge kurz darzustellen.

Im zweiten Teil der Arbeit stelle ich kurz das Werk Élie Wiesels „L´oublié“ vor und versuche anhand diesen Romans, der sich mit dem Holocaust auseinandersetzt und in dem die Erinnerung und das Gedächtnis eine große Rolle spielen, das theoretische Konzept von Halbwachs anhand von konkreten Beispielen des Buches zu verdeutlichen.

I. Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis

I. 1. Biographie:

Der französische Soziologe Maurice Halbwachs wurde am 11. März 1877 in Reims geboren. Nach Studien in Paris, wo er sowohl Schüler Henri Bergsons und Emile Durkheims war, wurde er 1918 auf einen Lehrstuhl für Soziologie und Pädagogik der Universität von Straßburg berufen. Dort machte er Bekanntschaft mit den beiden Historikern Lucien Febvre und Marc Bloch, den Gründungsvätern der Schule der Annales.

1930 besuchte er die USA im Rahmen seiner Gastprofessur an der Universität von Chicago und wurde 1935 als Professor der Soziologie an der Sorbonne nominiert, wo er seine soziologischen Forschungen bis zu seiner Deportation im Jahre 1944 weiterführte. Halbwachs starb am 16. März 1945 in Buchenwald.

Zu seinen wichtigsten Werken, die sich mit dem kollektiven Gedächtnis beschäftigen, gehören: Les cadres sociaux de la mémoire (1925), La topographie légendaire des Evangiles en Terre sainte (1941) und La mémoire collective, das 1949 posthum publiziert wurde.[1]

I. 2. Der Begriff des kollektiven Gedächtnisses:

Halbwachs schließt mit seinen Überlegungen an die Theorien seines Lehrers, dem französischen Soziologen Emile Durkheim an. Dieser entwickelte zu seiner Hauptthese, dass alle individuellen Handlungen und Regeln letztlich auf eine überindividuelle soziale Wirklichkeit zurückzuführen seien, die er im Begriff „kollektives Bewusstsein“ ansprach.

Halbwachs führte diese These in das geschichtstheoretische Denken ein und prägte ab den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts den Begriff des kollektiven Gedächtnisses, den er zum ersten Mal in seinem 1925 erschienenen Werk Les cadres sociaux de la mémoire verwendete.[2]

Dabei stellt sich die Frage, wie das Gedächtnis, das im Kopf jedes Einzelnen existiert, kollektiv sein kann:

Halbwachs interpretierte das Gedächtnis als soziales Phänomen, das der Mensch erst im Prozess seiner Sozialisation erwirbt, also nicht als die biologische Basis des Gedächtnisses. Das individuelle Gedächtnis bildet sich hiernach innerhalb von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (cadres sociaux) aus, die es weitgehend bestimmen:

„Gewiß besitzt jeder ein Gedächtnis nach seinem besonderen Temperament und seinen Lebensumständen, das keinem anderen sonst gehört. Darum ist es aber nicht weniger ein ... Aspekt des Gruppengedächtnisses, da man von jedem Eindruck und jeder Tatsache, selbst wenn sie einen offensichtlich ganz ausschließlich betrifft, eine dauerhafte Erinnerung nur in dem Maße behält, wie man ... sie mit den uns aus dem sozialen Milieu zufließenden Gedanken verbindet.“[3]

Seine zentrale These könnte man also so ausdrücken: Die Individuen erinnern ihre eigene Geschichte, aber nicht unter selbstgewählten Umständen. Das Gedächtnis hat also einen sozialen Rahmen (cadres sociaux).

Die einzelnen individuellen Gedächtnisse verschmelzen zu kollektiven Gedächtnissen, wobei sie Ausblickspunkt auf das kollektive Gedächtnis sind. Umgekehrt findet das Gruppengedächtnis seine Verwirklichung in den einzelnen individuellen Gedächtnissen:

„Wenn überdies das kollektive Gedächtnis seine Kraft und seine Beständigkeit daraus herleitet, dass es auf einer Gesamtheit von Menschen beruht, so sind es indessen die Individuen, die sich als Mitglieder der Gruppe erinnern. In dieser Masse gemeinsamer, sich aufeinander stützender Erinnerungen sind es nicht dieselben, die jedem von ihnen am deutlichsten erscheine. Wir würden sagen, jedes individuelle Gedächtnis ist ein „Ausblickspunkt“ auf das kollektive Gedächtnis;...“[4]

[...]


[1] Halbwachs 1994, S. 8-10

[2] WISCHERMANN, Clemens: http://www.uni-konstanz.de/FuF/Philo/Geschichte/Tutorium/Themenkomplexe/ Grundlagen/Was_ist_Geschichte/Kollektivitat/kollektivitat.html; 8.4.2004

[3] Halbwachs 1985, S. 200

[4] Halbwachs 1991, S. 31

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Das kollektive Gedächtnis laut Maurice Halbwachs anhand des Romans von Élie Wiesel "L'oublié"
Hochschule
Universität Wien  (Romanistik)
Veranstaltung
Proseminar Linguistik II, Traumatische Erinnerung, Leiterin Anke Gladischefski
Note
Sehr gut
Autor
Jahr
2004
Seiten
12
Katalognummer
V42482
ISBN (eBook)
9783638405027
ISBN (Buch)
9783640328512
Dateigröße
476 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gedächtnis, Maurice, Halbwachs, Romans, Wiesel, Proseminar, Linguistik, Traumatische, Erinnerung, Leiterin, Anke, Gladischefski
Arbeit zitieren
Birgit Hittenberger (Autor:in), 2004, Das kollektive Gedächtnis laut Maurice Halbwachs anhand des Romans von Élie Wiesel "L'oublié", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/42482

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