Zwischen Diversion und Jugendknast. Eine kritische Betrachtung der staatlichen Sanktionen des Jugendgerichtsgesetzes für jugendliche und heranwachsende Straftäter


Bachelorarbeit, 2018

83 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das Phänomen Jugendkriminalität
2.1. Lebensphase Jugend
2.2. Abweichendes Verhalten, Delinquenz und Kriminalität im Jugendalter
2.3. Empirische Befunde in Deutschland
2.3.1. Ergebnisse der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS)
2.3.2. Ergebnisse der Strafverfolgungsstatistik (SVS)
2.3.3. Zusammenfassung der Befunde

3. Einführung in das Jugendgerichtsgesetz
3.1. Historische Entwicklung
3.2. Anwendungsbereich
3.3. Zielsetzungen und Unterschiede zum Erwachsenenstrafrecht
3.4. Inhalte

4. Die Sanktionierungsmaßnahmen des Jugendgerichtsgesetzes
4.1. Diversion
4.1.1. Diversion durch die Staatsanwaltschaft
4.1.2. Diversion durch den Jugendrichter
4.2. Erziehungsmaßregeln
4.2.1. Erteilung von Weisungen
4.2.2. Anordnung Hilfe zur Erziehung in Anspruch zu nehmen
4.3. Zuchtmittel
4.3.1. Verwarnung
4.3.2. Erteilung von Auflagen
4.3.3. Jugendarrest
4.4. Jugendstrafe

5. Erkenntnisse der empirischen Sanktionsforschung
5.1. Was ist empirische Sanktionsforschung?
5.2. Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen
5.3. Experimentelle und Quasi-experimentelle Studien
5.3.1. Evaluation informeller Sanktionen
5.3.2. Evaluation formeller Sanktionen
5.4. Internationale Forschungsergebnisse
5.4.1. Evaluation informeller Sanktionen
5.4.2. Evaluation formeller Sanktionen

6. Alternative Möglichkeiten,
6.1. Entkriminalisierung bestimmter Straftatbestände
6.2. Anwendung des § 171 StGB
6.3. Täter-Opfer-Ausgleich
6.4. „Teen Courts“ - Schülergerichte
6.5. Projekt „Gelbe Karte“ und Diversionstage
6.6. Häuser des Jugendrechts
6.7. Jugendstrafvollzug in freien Formen

7. Bedeutung für die Soziale Arbeit

8. Fazit

9. Literaturverzeichnis

Abstract

Das Ziel der vorliegenden Bachelorarbeit war es, herauszufinden, wie geeignet die unterschiedli­chen Sanktionierungsmaßnahmen des Jugendgerichtsgesetzes sind, um eine erneute Straffälligkeit von jugendlichen und heranwachsenden Straftätern zu vermeiden. Dazu wurden im Kernteil der Ar­beit verschiedene nationale und internationale Erkenntnisse der empirischen Sanktionsforschung exemplarisch zusammengetragen. Dabei hat sich gezeigt, dass der Forschungsstand große Defizite aufweist, wobei die Forschungsfrage auf Grund einer Forschungsdesign-Problematik nicht beant­wortet werden konnte, da hierzu Experimente notwendig wären, diejuristisch und ethisch nicht ver­tretbar sind. So war nur eine Annäherung an die Fragestellung möglich. Die vorliegenden Ergebnis­se deuten jedoch daraufhin, dass bei leichter und mittelschwerer Kriminalität von einer Austausch­barkeit der Sanktionen ausgegangen werden kann und keine bessere Wirkung von eingriffsintensi­veren gegenüber weniger drastischen Sanktionen nachgewiesen werden konnte. Deshalb sollten die­se unter dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei Erst- und Gelegenheits­tätern vorrangig genutzt werden. Für die vergleichsweise kleine Gruppe der Intensivtäter erfahren jedoch auch die „härteren“ Sanktionierungsmaßnahmen des Jugendgerichtsgesetzes ihre Begrün­dung. Die Bachelorarbeit ist sowohl für Studierende der Sozialen Arbeit und der Rechtswissen­schaften als auch für alle Praktiker interessant, die in ihrer Arbeit Berührungspunkte mit Jugendkri­minalität und Jugendstrafrecht haben, vor allem solche, die selbst an der Urteilsfindung in Jugend­strafprozessen beteiligt sind.

Keywords

Jugendkriminalität, Jugendstrafrecht, Jugendgerichtsgesetz, empirische Sanktionsforschung, Legal­bewährung, Soziale Arbeit

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

"Ich wollte, es gäbe gar kein Alter zwischen zehn und dreiundzwanzig, oder die jungen Leute ver­schliefen die ganze Zeit: Denn dazwischen ist nichts, als den Dirnen Kinder schaffen, die Alten är­gern, stehlen, balgen" (Shakespeare 1610). Dieses über 400 Jahre alte Zitat aus William Shakespea­res Wintermärchen zeigt, dass über kriminelle Jugendliche zu allen Zeiten geklagt wurde und wird. Wie der Staat auf Kriminalität von jungen Menschen reagiert, ist dabei einem stetigen historischen Wandel unterworfen. Die vorliegende Bachelorarbeit beschäftigt sich dabei mit der Frage, wie ge­eignet die unterschiedlichen Sanktionierungsmaßnahmen des gegenwärtigen Jugendgerichtsgesetzes (JGG) sind, um eine erneute Straffälligkeit von jugendlichen und Heranwachsenden Straftätern im Sinne des § 2 Abs. 1 S. 1 JGG zu vermeiden? Im Kemteil der Arbeit wird also die spezialpräventive Wirkung der einzelnen Sanktionierungsmaßnahmen untersucht. Die Beantwortung der Fragestel­lung ist dabei wichtig, weil juristische Entscheidungen sich nicht alleine auf Praxiserfahrungen und somit das Alltagswissen derjenigen beziehen dürfen, die am Prozess der Urteilsfindung beteiligt sind. Praktikerlnnen müssen sich vielmehr auf die Erkenntnisse empirischer Studien stützen. Im Ju­gendstrafrecht ist dabei der Einfluss der Sozialen Arbeit auf die richterliche Entscheidungsfindung nicht zu unterschätzen, sodass auch deren Fachkräfte über dieses Wissen zwingend verfügen müs­sen. Nur so können qualitativ hochwertige Urteile gefällt werden, welche die Ziele des JGG auch erreichen. Dafür ist empirische Sanktionsforschung notwendig. Die im öffentlichen Diskurs in den letzten Jahren wieder verstärkt aufkommende Debatte um Kriminalität von Migrantlnnen ist sicher­lich politisch hoch brisant, aber eine eigenständige Fragestellung, die in der vorliegenden Arbeit deshalb ausgeklammert wird. So bleibt in den empirischen Analysen, die in der Bachelorarbeit zu­sammengetragen werden, die Herkunft der Täterinnen unberücksichtigt. Es ist ohnehin davon aus­zugehen, dass sich eventuelle Veränderungen in der Kriminalitätsentwicklung durch den Zuzug vie­ler junger Migrantlnnen in den vergangenen Jahren, wenn überhaupt erst in den nächsten Jahren aussagekräftig in den Zahlen der amtlichen Statistiken widerspiegeln würden. Um die entwickelte Forschungsfrage zu beantworten, wird zunächst in das Phänomen Jugendkriminalität allgemein ein­geleitet. Im zweiten Schritt wird dann eine kurze Einführung in das JGG gegeben. Hierauf aufbau­end werden schließlich dessen Sanktionierungsmaßnahmen genauer vorgestellt. Im Kernteil der Ar­beit werden dann nationale und internationale Erkenntnisse der empirischen Sanktionsforschung beispielhaft zusammengetragen und auf die Forschungsfrage bezogen. Nachfolgend werden einige alternative Ansätze zur gängigen Sanktionspraxis diskutiert. Nachdem schließlich durch eigene Überlegungen ein Bezug zur Sozialen Arbeit hergestellt wurde, wird abschließend ein Fazit gezo­gen, das sowohl die gesammelten Erkenntnisse zusammenfasst als auch einen Ausblick gibt. In der vorliegenden Arbeit wurde dabei auf eine gendergerechte Sprache geachtet. Es sei daraufhingewie­sen, dass eine gendergerechte Schreibweise in der deutschen Sprache nicht einfach ist und trotz vie­ler verschiedener Ansätze keine wirklich zufriedenstellende Lösung vorhanden ist. An den Stellen, wo aus Gründen der besseren Lesbarkeit nur die männliche Form gewählt wurde, sind ausdrücklich beiderlei Geschlechter gemeint.

2. Das Phänomen Jugendkriminalität

Nachfolgend wird kurz in das Phänomen der Jugendkriminalität eingeleitet. Dafür wird zunächst die Lebensphase Jugend aus soziologischer Perspektive vorgestellt. Anschließend werden die Be­griffe „Abweichendes Verhalten“, „Delinquenz“ und „Kriminalität“ im Jugendalter definiert und voneinander abgegrenzt. Das Kapitel endet mit einer übersichtlichen Darstellung der empirischen Befunde zur Jugendkriminalität in Deutschland.

2.1. Lebensphase Jugend

Erst seit den 1970er Jahren werden Lebensläufe in der Soziologie als Forschungsfeld systematisch untersucht. Dabei können verschiedene Phasen des Lebenslaufs voneinander unterschieden werden. Die vier typischen Hauptphasen sind dabei in westlichen Industrieländern die Kindheit, die Jugend, das Erwachsenenalter und das Alter, wobei dem in modernen Gesellschaften verlängerten Übergang vom Jugend- in das Erwachsenenalter als eine Art fünfte Zwischenphase eine immer wichtigere Be­deutung zukommt (vgl. Heinz 2007, S. 160). Hier wird nun die Lebensphase Jugend genauer be­leuchtet, indem deren Entstehung angerissen, eine Abgrenzung zu der vorherigen und der nachfol­genden Lebensphase (Kindheit bzw. Erwachsenenalter) vorgenommen wird und die wesentlichen Entwicklungsaufgaben des Jugendalters kurz skizziert werden. Die Lebensphase Jugend ist dabei weitreichend erforscht. So gibt es eine gut entwickelte eigenständige Jugendsoziologie, die mit der Lebenslaufsoziologie kooperiert und die auf viele regelmäßig durchgeführte Studien zurückgreifen kann (vgl. Sackmann 2013, S. 89ff,). Hier lässt sich bspw. die aktuelle Shell-Jugendstudie nennen, die zuletzt 2015 veröffentlicht wurde.

Die Jugend als eigene Lebensphase ist dabei eine moderne kulturelle Erfindung (vgl. Heinz 2007, S. 172). In vormodernen Gesellschaften folgte auf die Kindheit unmittelbar das Erwachsenenalter. Aus Kindern wurden mit der eintretenden Geschlechtsreife zeugungs- und arbeitsfähige Erwachsene (vgl. Schmid 2014, S. 175). Erst ungefähr an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert begannen Psychologinnen die Zeit zwischen Kindheit und Erwachsenenalter erstmals als eine besonders ge­fährdete und verletzliche Stufe der menschlichen Entwicklung zu sehen. Die Jugendphase wurde nun beschrieben als eine Phase des „Sturm und Drangs“, gleichzeitig aber auch als ein Lebensab­schnitt voller Möglichkeiten und Zukunftsoptimismus. Eine Zeit, in der junge Menschen mit sozia­len Rollen experimentieren müssten, bevor erwartet wird, dass sie schließlich erwachsen werden (vgl. Heinz 2007, S. 172f,). Jugend war also im Bürgertum nun ein Moratorium, ein Schonraum zum Lernen, um sich auf die zukünftige Stellung in der Gesellschaft vorbereiten zu können (vgl. Böhnisch 2012, S. 90ff,). Dieses Umdenken hängt eng zusammen mit den Veränderungen der wirt­schaftlichen und sozialen Bedingungen, die mit der Industrialisierung, Urbanisierung und der Ver­längerung des Schulbesuchs einhergingen. Die Jugend als eigenständige Lebensphase hat sich schließlich in der Zeit vor und nach dem zweiten Weltkrieg herausgebildet. Jugendliche waren nun eine durch den gemeinsamen Schulbesuch sozial und kulturell abgegrenzte gesellschaftliche Grup­pierung (vgl. Heinz 2007, S. 172f,). Die Statuspassage Jugend entstand also erst durch die funktio­nale Ausdifferenzierung der Gesellschaft und dem damit verbundenen steigenden Bedarf an schuli­scher und beruflicher Qualifikation (vgl. Schmid 2014, S. 175f,). Der Übergangsprozess vom Kind- heits- zu einem Erwachsenenstatus lässt sich dabei nicht mit Zahlen beziffern, indem z.B. von einer bestimmten Altersspanne ausgegangen wird (vgl. Sackmann 2013, S. 94). Hier ist eine differenzier­tere Betrachtung notwendig.

Der Übergang von der Kindheit ins Jugendalter ist nicht eindeutig. Häufig wird der Beginn der Ju­gendphase mit dem Einsetzen der Pubertät angesetzt. Da Jungen und Mädchen in allen modernen Gesellschaften heutzutage früher in die Pubertät kommen, beginnt also auch die Jugendphase im­mer früher, wobei die Lebensphase Kindheit gleichzeitig verkürzt wird (vgl. Schmid 2014, S. 175). Auch andere Anhaltspunkte deuten darauf hin, dass sich in modernen Gesellschaften das Alter, in dem aus Kindern Jugendliche werden, nach unten verschiebt. Ein Hinweis hierauf ist bspw. die frü­her einsetzende selbstständige Beteiligung am Konsumsektor. Auch die emotionale und soziale Ab­lösung von den Eltern als primären Bezugspersonen sowie damit verbunden der Erweiterung von sozialen Beziehungen und Freundschaften auf außerfamiliäre Handlungsfelder (vor allem der Be­deutungszuwachs der „Peers“) vollzieht sich heutzutage schon in jüngeren Jahren. Weiterhin weisen auf diese Tendenz der frühere Einstieg in jugendkulturelle Aktivitäten oder der vorgelagerte Zeit­punkt der ersten gegengeschlechtlichen Kontakte und Erfahrungen hin (vgl. Heinz 2007, S. 173). Manche Autorinnen erkennen im Übergang von der Kindheit ins Jugendalter in modernen Gesell- schäften eine weitere Zwischenphase. Böhnisch bspw. spricht von den „Kids“, die durch ihr wider­sprüchliches Verhalten nicht mehr Kinder, aber auch noch keine wirklichen Jugendlichen seien (vgl. Böhnisch 2012, S. 126ff,).

In der Jugendphase selbst gilt es dabei wesentliche Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Dies sind nach Hurrelmann und Quenzel vor allem die Qualifizierung für den Arbeitsmarkt und der Aufbau intellektueller und sozialer Kompetenzen, der Aufbau einer eigenen Geschlechterrolle und der Fä­higkeit zur Partnerbindung, die Entwicklung von Kompetenzen zur Nutzung des Geld- und Waren­marktes sowie die Entwicklung von Wertorientierung und politischer Beteiligung (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 41). Eine ganz zentrale Aufgabe der Lebensphase Jugend ist auch die Herausbildung einer eigenen stabilen Identität. Jugendliche bewegen sich dabei im Spannungsfeld von Individuation und Integration. Sie müssen eine individuelle Persönlichkeitsstruktur mit unver­wechselbaren Merkmalen und Kompetenzen ausbilden und sich gleichzeitig an Werte, Normen und Rollenerwartungen anpassen (vgl. ebd., S. 93f,). Sie sollen also sein wie alle anderen, aber auch wie kein anderer. Ein Großteil individueller und sozialer Probleme, die für die Lebensphase Jugend ty­pisch sind, können dabei als Probleme bei der Bewältigung der vielfältigen Entwicklungsaufgaben interpretiert werden (vgl. ebd., S. 222ff). Da in modernen Gesellschaften im Zuge der Individuali­sierung immer weniger Lösungen gesellschaftlich vorgegeben werden, müssen die Jugendlichen ei­gene Wege finden, die einzelnen Entwicklungsaufgaben für sich zu lösen und die damit zusammen­hängenden Risiken zu meistern (vgl. Schmid 2014, S. 176). Dabei reichen auch immer mehr soziale Probleme und Lebensschwierigkeiten in das Jugendalter hinein, vor denen dieses eigentlich ver­schont bleiben sollte. Es kommt also mehr und mehr zu einer Erosion des Moratoriums Jugendpha­se (vgl. Böhnisch 2012, S. 139ff,).

Die Abgrenzung der Jugendphase zum Erwachsenenalter ist noch deutlich schwieriger als jene zur Kindheit. So verzögert sich seit den 1960er Jahren der Übergang von Jugendlichen gerade aus mitt­leren und höheren Schichten in den Erwachsenenstatus immer mehr. Dies hängt vor allem mit der Verlängerung der Bildungs- und Ausbildungsdauer zusammen (vgl. Heinz 2007, S. 173). Erst wenn alle aufgeführten Entwicklungsaufgaben gemeistert wurden, kann wirklich davon gesprochen wer­den, dass die Statuspassage ins Erwachsenenalter vollzogen ist. Die Konsumentenrolle und auch die politische und gesellschaftliche Rolle werden dabei in der Regel recht früh übernommen, auch Er­fahrungen mit Partnerschaft und Liebe werden heutzutage schon früh gemacht, wogegen sich je­doch Elternschaft, Familiengründung und Berufseinstieg stetig weiter nach hinten verschieben (vgl. Schmid 2014, S. 176). Für die ausgedehnte Phase des Jugendalters hat sich in der Pädagogik und auch bei manchen Soziologinnen der Begriff der „Post-Adoleszenz“ eingebürgert, nach dem sich die Jugendphase bei manchen sogar bis in das dritte Lebensjahrzehnt verlängert (vgl. Heinz 2007, S. 173f,). Die Post-Adoleszenz ist gekennzeichnet durch eine frühe soziokulturelle Selbstständigkeit bei gleichzeitig durchschnittlich länger andauernder ökonomischer Abhängigkeit (vgl. Böhnisch 2012, S. 138), z.B. indem junge Erwachsene länger auf finanzielle Unterstützung durch die Eltern oder Sozialleistungen wie BAföG angewiesen sind bzw. noch zuhause wohnen oder wieder dort einziehen. Dabei gibt es eine große Variation im Zeitpunkt und Ablauf des Übergangs ins Erwachse­nenalter. Die individuellen Unterschiede in Bezug auf die zentralen Statuspassagen wie Auszug, se­xuelle Erfahrungen und feste Paarbeziehungen, berufliche und materielle Selbstständigkeit sowie Familiengründung sind groß. Das Ende der Jugendphase ist also weitestgehend offen geworden (vgl. Heinz 2007, S. 173f,). Dies zeigt sich bspw. auch daran, dass das deutsche Kinder- und Ju­gendhilfegesetz (KJHG) inzwischen einen Teil seiner Leistungen auf die Altersgruppe der 18-27 Jährigen ausgedehnt hat (vgl. Böhnisch 2012, S. 192) oder das JGG auch bei Heranwachsenden zwischen 18 und 21 Jahren noch die Möglichkeit vorsieht, diese unter den Voraussetzungen des § 105 JGG nach diesem Gesetz zu sanktionieren.

Neben der Post-Adoleszenz gibt es eine Fülle weiterer Ansätze, um diese besondere Lebensphase zu beschreiben. Eine interessante Theorie für die Entwicklung vom Jugendlichen zum Erwachsenen stammt vom amerikanischen Psychologen Jeffrey Amett, welcher für diese Phase des Übergangs den Begriff „Emerging Adulthood“ (dt. „entstehendes Erwachsensein“) einführt. Hierunter versteht er eine Phase im Lebenslauf, die sich sowohl vom Jugendalter („Adolescence“) als auch vomjun­gen Erwachsenenalter („young Adulthood“) theoretisch und empirisch abgrenzen lässt und auch von den jungen Menschen subjektiv als eigene Phase wahrgenommen wird. Der Fokus in seiner Theorie liegt dabei bei der Altersspanne zwischen 18 und 25 Jahren. Das „Emerging Adulthood“ ist dabei im Kern geprägt von ständigen Veränderungen und verschiedensten Möglichkeiten in Bezug auf Liebe, Arbeitsleben und Sicht auf die Welt. Die jungen Menschen müssen sich noch nicht end­gültig festlegen, sondern probieren verschiedenste Lebensrichtungen aus und wachsen langsam so­wie individuell unterschiedlich schnell in die Rolle eines Erwachsenen hinein. Die Phase ist dabei insgesamt durch eine große Heterogenität charakterisiert. Ob eine solche Phase im Lebenslauf exis­tiert, ist für Amettjedoch abhängig von der Kultur und vor allem ein Phänomen in industrialisierten Gesellschaften, wobei auch hier durch verschiedene Gründe nicht jeder junge Mensch diese Phase erlebt bzw. erleben kann. Trotzdem wird aus Sicht des Autors das „Emerging Adulthood“ in den nächsten Jahrzehnten an Bedeutung gewinnen, weil viele Länder auf der Welt nach und nach einen Punkt in ihrer ökonomischen Entwicklung erreichen, der es jungen Menschen erlaubt, diese Phase zu durchleben (vgl. Arnett 2000).

Es lässt sich zusammenfassen, dass es sich bei der Lebensphase Jugend um eine moderne kulturelle Erfindung handelt. Der Beginn und das Ende des Jugendalters sind dabei in heutigen Gesellschaften offener geworden und die Lebensphase dehnt sich zunehmend aus. In dieser Übergangszeit vom Kindheits- in den Erwachsenenstatus müssen dabei eine Vielzahl an Entwicklungsaufgaben indivi­duell bewältigt werden, wobei Probleme bei der Bewältigung die Entstehung von individuellen und sozialen Problemen begünstigen. Der Grat zwischen jugendkulturellem Experimentier- und Risiko­verhalten und Kriminalität ist dabei schmal (vgl. Böhnisch 2012, S. 139). Auch wenn Heranwach­sende zwischen 18 und 21 Jahren nach dem JGG sanktioniert werden können, scheint zumindest die Alterspanne, die in § 1 Abs. 2 JGG als „Jugendliche“ definiert werden (14-18 Jahre), aus soziologi­scher Sicht in modernen Gesellschaften zu kurz gegriffen zu sein.

2.2. Abweichendes Verhalten, Delinquenz und Kriminalität im Jugendalter

Unter „Abweichendem Verhalten“ bzw. „Devianz“ (franz. dévier = abweichen) versteht man jede Handlung, „von der angenommen wird, dass sie eine allgemein geltende Norm einer Gesellschaft oder einer bestimmten Gruppe dieser Gesellschaft verletzt“ (Sack 2007, S. 184). Damit ein Verhal­ten als abweichend gilt, muss es nicht nur untypisch oder ungewöhnlich sein, sondern als ein Ver­halten bewertet werden, welches ein Verstoß gegen verbindliche, sozial definierte Standards dar­stellt (vgl. ebd., S. 184). Abweichendes Verhalten beschränkt sich dabei nicht allein auf Handlun­gen, sondern bezieht sich auch auf das äußere Erscheinungsbild, die Meinungsäußerung und die Ge­samtheit aller wahrnehmbaren Äußerungen einer Person oder Gruppe (vgl. Häßler o.J.). Weil eine Reihe der sozial definierten Standards auch in Gesetzen verankert ist und andere wiederum nicht, umfasst Abweichendes Verhalten damit sowohl Kriminalität als auch legales Verhalten, das aber von der Gesellschaft dennoch als unethisch, unmoralisch, unanständig oder sogar als „krank“ wahr­genommen wird (vgl. Sack 2007, S. 184). Abweichendes Verhalten lässt sich dabei als Vorstufe zur Kriminalität ansehen, da ein Individuum, das sich non-konform verhält, eher strafrechtlich in Er­scheinung tritt, als ein angepasstes Gesellschaftsmitglied. Diese Vorform von Kriminalität wird in der Kriminologie auch als „Prädelinquenz“ oder „Dissozialität“ bezeichnet (vgl. Häßler o.J.). Wel­che sozialen Normen gelten ist dabei abhängig von Ort, Zeit, Gruppe (z.B. unterschiedliche Ethni­en, soziale Schichten oder Berufsgruppen), Geschlecht und Situation. Es gibt also per Definition kein absolutes Abweichendes Verhalten, sondern Abweichung existiert in den Augen des jeweiligen Betrachters und ist eine soziale Definition. Da sich gesellschaftliche Normen und Gruppierungen im Zeitverlauf ändern, ändert sich somit auch die Definition von Abweichendem Verhalten (vgl. Sack 2007, S. 184ff,). Abweichendes Verhalten kann dabei nicht nur - wie dies zumeist mit dem Begriff assoziiert wird - Delinquenz und Kriminalität umfassen, sondern ist auch ein Sammelbegriff für In­novationen und die Etablierung von neuen Verhaltensmustem. Für die Weiterentwicklung einer Ge­sellschaft ist Abweichendes Verhalten somit zwingend notwendig. Bei einer absoluten Regelkonfor­mität wären wissenschaftliche Entdeckungen sowie künstlerische und soziale Innovationen nicht möglich. Innovationen und Etablierungen neuer Verhaltensmuster lösen jedoch häufig Widerstand aus, da das als normal definierte in der Regel als naturgegeben angesehen und nicht weiter kritisch reflektiert wird (vgl. Häßler o.J.). Abweichendes Verhalten kann also auch als Katalysator für sozia­len Wandel dienen. Durch die Bestimmung von Verhalten als abweichend wird durch eine Gruppe oder das Gemeinwesen zudem definiert, welche Verhaltensweisen akzeptiert werden. Eine weitere soziale Funktion von Abweichendem Verhalten ist, dass die soziale Solidarität der normtreuen Ge­sellschaftsmitgliedergestärkt wird(vgl. Sack 2007, S. 186f,).

Unter „sekundärer Abweichung“ bzw. „sekundärer Devianz“ wird ein normabweichendes Verhalten verstanden, das erst durch strafrechtliche Verurteilung oder bereits die strafrechtliche Verfolgung hervorgerufen wird, da die soziale Teilhabe der Kontrollierten eingeschränkt wird und sich z.B. Freunde von den Täterinnen abwenden, der Arbeitsplatz oder die Wohnung gekündigt wird etc. Hier kann bei den Betroffenen der Anreiz zu weiteren Rechtsbrüchen steigen, weil ohnehin nichts mehr zu verlieren ist. Das Urteil, ein „Krimineller“ zu sein, wird nach diesem Ansatz von den Etikettier­ten in letzter Konsequenz übernommen, prägt deren neue Identität und führt zu weiteren Gesetzes- verstoßen (vgl. Walter/Neubacher 2011, S. 83f,).

Doch wann ist ein Verhalten nur abweichend und wann ist es schon „kriminell“? Kriminalität leitet sich vom lateinischen Wort „crimen“ ab, das mit „Verbrechen“, „Vergehen“, „Beschuldigung“, „An­klagepunkt“ oder „Vorwurf“ übersetzt werden kann (vgl. Hermann 2014, S. 30). Kriminalität wird also durch das Recht hergestellt bzw. konstituiert. Schließlich geben erst die strafrechtlichen Tatbe­stände Auskunft darüber, welche Voraussetzungen ein menschliches Verhalten erfüllen muss, um als Strafrechtsverstoß angesehen zu werden. Ob ein Verhalten kriminell ist, hängt also von den gesetzli­chen Regelungen und deren Interpretation durch juristische Fachkräfte ab. Dabei unterliegt die De­finition - so wie auch beim Abweichenden Verhalten - einem ständigen Wandel, z.B. indem neue Gesetze diskutiert und eingeführt werden, andere wegfallen oder die Rechtsprechung geltendes Recht deutet und auslegt (vgl. Walter/Neubacher 2011, S. 19). In der Kriminologie stellt sich dabei jedoch die Frage, ob nur ein Verstoß gegen eine Strafvorschrift als kriminell gilt, der auffällt und zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden Polizei und Staatsanwaltschaft gelangt (sog. „Hellfeld­kriminalität“) oder ob jeder Verstoß gegen eine Strafvorschrift als kriminell gilt, auch wenn er nicht entdeckt wird (sog. „Dunkelfeldkriminalität“) (vgl. Oberlies 2013, S. 13). Die vorliegende Bache­lorarbeit orientiert sich dabei an der pragmatischen Definition von Dagmar Oberlies, die Kriminali­tät als die Summe der Handlungen, die das Strafgesetzbuch (StGB) und die Nebengesetze unter Strafe stellen, charakterisiert. Diese Definition umfasst dabei sowohl Hell- und Dunkelfeldkrimina­lität, da letztere für die Soziale Arbeit, die in Alltags- und Beratungssituation auch mit Täterinnen und Opfern zu tun habe, die mit strafbaren Handlungen konfrontiert seien, die bisher nicht ans Licht der Öffentlichkeit gelangten, auch eine erhebliche Bedeutung habe (vgl. ebd., S. 13f,). Das Beson­dere der Jugendkriminalität als einem separaten Teil der Gesamtkriminalität sind dabei bspw. ihre spezifischen Erscheinungsformen, z.B. spontane, unüberlegt-emotionale Aggressionen gegenüber Gleichaltrigen oder eine gemeinschaftliche Begehungsweise in Gruppen. Auch der Umgang mit die­sem Klientel, den das junge Alter nahelegen kann, weist Unterschiede auf, z.B. da Kriminalpräven­tion vergleichsweise bessere Chancen ergeben kann als im Erwachsenenalter (vgl. Walter/Neuba­cher 2011, S. 21ff).

Vom Begriff der Kriminalität lässt sich jener der „Delinquenz“ (lat. delinquere = sich vergehen) ab­grenzen. Dieser wird jedoch nicht einheitlich verwendet und kann somit unterschiedliche Bedeutun­gen haben. Im angloamerikanischen Sprachraum bezieht sich der Begriff schlichtweg auf abwei­chendes oder kriminelles Verhalten von Kindern und Jugendlichen (vgl. Hermann 2014, S. 31). Häufig wird auch spezifisch von „Kinderdelinquenz“ oder „Jugenddelinquenz“ gesprochen. Kin­derdelinquenz dient als weniger stigmatisierender Begriff für Gesetzesverstöße, die von strafun­mündigen Kindern bis zum vollendeten 14. Lebensjahr begangen werden (vgl. Häßer, o.J). Das Konzept der Jugenddelinquenz wurde im 19. Jahrhundert entwickelt und fand vor allem gegenüber sozial benachteiligten Jugendlichen Anwendung. Delinquenz sollte dabei ein gegenüber der straf­rechtsgebundenen Kriminalität sehr viel umfassenderer Begriff sein. So wurden unter diesem Kon­zept auch leichtere Ordnungsstörungen wie das Rauchen in der Öffentlichkeit, unerlaubtes Schul- schwänzen oder auch Ruhestörungen erfasst. Sowohl Delinquenz als auch Kriminalität wurden da­bei auf eine persönliche Dissozialität der Betroffenen zurückgeführt, wobei es vom Zufall abhing, ob sich diese Entwicklungsmängel nun nur in Delinquenz oder gar in kriminellem Verhalten äußer­ten (vgl. Walter/Neubacher 2011, S. 24f,). Diese Bereiche der Verwahrlosung und des Verstoßes ge­gen nicht-strafrechtliche Normen werden im deutschsprachigen Raum jedoch nicht unter dem De­linquenzbegriff erfasst, sondern dem Jugendschutz und dem Jugendrecht zugeordnet (vgl. Häßler o.J.).

Zu den Entstehungsursachen für Kriminalität im Allgemeinen und Jugendkriminalität im Besonde­ren gibt es zahlreiche verschiedene Ansätze und Theorien. Die meisten entstammen dabei aus dem 19. und 20. Jahrhundert, wobei in den letzten Jahrzehnten wenig neue Erkenntnisse zur Ätiologie von kriminellem Verhalten hinzugekommen sind. Auch sei angemerkt, dass alle Ansätze das Phäno­men (Jugend-)Kriminalität nicht wirklich erklären können, sondern lediglich unterschiedliche Aspekte des Phänomens beleuchten, wobei die Autorinnen zumeist die Beobachtungen der jeweili­gen historischen Epoche, in der sie lebten und wirkten, analysieren. Da die vorliegende Bachelorar­beit ihren Fokus nicht auf den Ursachen, sondern den staatlichen Reaktionen auf Jugendkriminalität hat, also quasi das entgegengesetzte Ende des Prozesses beleuchtet wird, werden die ätiologischen Theorien in der Folge ausgeklammert und an die entsprechende Fachliteratur (z.B. Lamnek 2017a/ 2017b) verwiesen.

2.3. Empirische Befunde in Deutschland

Kriminalität wird seit etwa einem Jahrhundert statistisch erfasst (vgl. Hetger 2014, S. 13). Um Er­scheinungsbilder und Entwicklungen von (Jugend-)Kriminalität zu untersuchen, lassen sich dabei verschiedene amtliche Statistiken nutzen. Diese sind zum Beispiel die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS), die Fallstatistik der Staatsanwaltschaft (StA-Statistik), die Strafverfolgungsstatistik (SVS), das Bundeszentralregister (BZR) oder der Periodische Sicherheitsbericht (PSB) (vgl. Riekenbrauk 2011, S. 33ff,). Die vorliegende Bachelorarbeit beschränkt sich dabei auf die aktuelle PKS des Be­richtsjahres 2016 und die neueste SVS mit Bezug auf das Jahr 2015. Die Daten werden dabei zu­nächst sachlich zusammengetragen und erst im Anschluss interpretiert. Prozentangaben sind auf die erste Stelle nach dem Komma gerundet und zum großen Teil eigenständig aus den vorliegenden Ta­bellen berechnet.

2.3.1. Ergebnisse der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS)

Die PKS ist die bekannteste amtliche Statistik zur Erfassung von Kriminalität. Die PKS wird einmal jährlich vom Bundeskriminalamt (BKA) für die gesamte Bundesrepublik Deutschland veröffent­licht. Hinzu kommt eine eigene PKS der Bundesländer und der großstädtischen Polizeipräsidien (vgl. ebd., S. 33). Die PKS bezieht sich dabei immer auf ein Berichtsjahr und stellt zusätzlich die Kriminalitätsentwicklung der letzten 15 Jahre dar. Das Jahrbuch 2016 beginnt folglich mit dem Ba­sisjahr 2002. Die PKS umfasst dabei alle der Polizei bekannt gewordenen Sachverhalte des Bezugs­jahres, welche bei Abgabe an die Staatsanwaltschaft an das BKA weitergeleitet werden und be­schränkt diese auf ihre wesentlichen Inhalte. Ziel ist es - durch ein überschaubares und möglichst verzerrungsfreies Bild der angezeigten Kriminalität - dem Interesse einer wirksamen Kriminalitäts­bekämpfung zu dienen (vgl. BKA 2016 S. 5ff,). Die PKS enthält im Kern Angaben über „Art und Anzahl der erfassten Straftaten, Tatort und Tatzeit, Opfer und Schäden, Aufklärungsergebnisse, Al­ter, Geschlecht, Nationalität und andere Merkmale der Tatverdächtigen“ (ebd., S. 6). Durch die Dif­ferenzierung nach dem Alter der Tatverdächtigen lässt sich diese auch für die empirische Darstel­lung von Jugendkriminalität nutzen. Bei der Beurteilung der Daten einer solchen Statistik müssen jedoch einige Dinge berücksichtigt werden:

Zunächst wird die Aussagekraft der PKS dadurch eingeschränkt, dass nur die polizeilich angezeig­ten Delikte - also die Hellfeldkriminalität - erfasst wird. Diese macht aber nur einenje nach Delikts­art unterschiedlich großen Anteil der tatsächlich verübten Kriminalität aus. Nicht berücksichtigt wird schließlich die Dunkelfeldkriminalität. Weiterhin heißt eine Veränderung der Zahlen in der PKS nicht zwangsläufig, dass die Kriminalität tatsächlich zu- oder abgenommen hat, sondern auf die Entwicklung der Zahlen nehmen auch die Anzeigebereitschaft in der Bevölkerung, die polizeili­che Kontrollintensität, Änderungen der statistischen Erfassungen oder schlichtweg Änderungen im Strafrecht Einfluss (vgl. ebd., S. 7). Dass die erfasste Kriminalität bspw. zunimmt, kann also auch durchaus damit Zusammenhängen, dass die Bevölkerung bestimmten Delikten gegenüber sensibler geworden ist (z.B. sexueller Missbrauch), das die Polizei mehr Personal und eine bessere Aufklä­rungsquote hat oder neue Strafgesetze erlassen wurden. Auch werden die Zahlen durch die Definiti­onsmacht der Polizei beeinflusst, also etwa ob diese eine angezeigte Straftat bspw. als eine einfache oder als schwere bzw. gefährliche Körperverletzung interpretiert. Weiterhin wird die weitere Ent­wicklung der Fälle in der PKS nicht berücksichtigt, also z.B. ob es überhaupt zu einer Anklage ei­nes Beschuldigten kommt oder wie ein mögliches Gerichtsverfahren ausgeht (vgl. Riekenbrauk 2011, S. 37f,). Zudem ist die Aktualität der PKS dadurch gemindert, dass eine Weitergabe der Daten an das BKA erst am Ende der polizeilichen Ermittlungen und somit zum Teil verzögert erfolgt und diese dadurch häufig erst im folgenden Berichtsjahr oder noch später Berücksichtigung finden (vgl. BKA 2016, S. 8). Die PKS „bietet also kein getreues Spiegelbild der Kriminalitätswirklichkeit, son­dern eine je nach Deliktsart mehr oder weniger starke Annäherung an die Realität. Gleichwohl ist sie für Legislative, Exekutive und Wissenschaft ein Hilfsmittel, um Erkenntnisse über Häufigkeit, Formen und Entwicklungstendenzen von Kriminalität für die oben beschriebenen Zielsetzungen zu gewinnen“ (ebd., S. 7). Die PKS differenziert dabei jeweils zwischen den Straftaten insgesamt und den Straftaten ohne ausländerrechtliche Verstöße. Dadurch wird versucht den Migrationsbewegun­gen der Jahre 2015 und 2016 nach Deutschland Rechnung zu tragen. Da die Asyl- und Aufenthalts­delikte (z.B. Passvergehen), die hierunter fallen, für die Frage nach den empirischen Befunden zur Jugendkriminalität keine Relevanz haben und nur die Statistiken verfälschen würden, wird in der Folge jeweils mit den „bereinigten“ Zahlen des BKA ohne ausländerrechtliche Verstöße gearbeitet.

Sollen nun die empirischen Befunde der PKS zur Jugendkriminalität kurz zusammengetragen wer­den, lässt sich einleitend feststellen, dass von den 2.022.414 Tatverdächtigen insgesamt 173.406 Ju­gendliche und 184.092 Heranwachsende waren. Dies bedeutet also, dass die 14-21 Jährigen mit 357.498 Personen circa. 17,7% der insgesamt ermittelten Tatverdächtigen des Jahres 2016 ausmach­ten. Die Zahl der tatverdächtigen Jugendlichen ist dabei im Vergleich zum Vorjahr um 1,3%, die der Heranwachsenden um 2,1% gestiegen (vgl. ebd., S. 13). Bei den Jugendlichen waren 72,5% der Tat­verdächtigen männlichen Geschlechts und 27,5% weiblich, bei den Heranwachsenden ist der Anteil an männlichen Tatverdächtigen mit 79,0% zu 21,0% Frauen noch deutlicher ausgeprägt (vgl. ebd., S. 19). Allein die Zahl an Tatverdächtigen zu betrachten ist jedoch nicht sehr aussagekräftig. Schließlich müssen bei derartigen Statistiken auch demographische Entwicklungen eines Landes berücksichtigt werden, durch die nicht nur die Zahl der Gesamtbevölkerung variiert, sondern auch die Altersverteilung innerhalb der Gesellschaft (z.B. weniger Jugendliche). Deutlich genauer ist es deshalb, die Tatverdächtigenbelastungszahlen der PKS zu vergleichen. Gemeint sind hiermit die Tatverdächtigen pro 100.000 Einwohner der jeweiligen Altersgruppe, sodass also demographische Entwicklungen berücksichtigt sind (vgl. Ostendorf 2015, S. 20). Am Stichtag 01.01.2015 gab es ca. 2,9 Millionen Jugendliche und 2,2 Millionen Heranwachsende in Deutschland (vgl. Statistisches Bundesamt 2017, S. 511). Auch die Tatverdächtigenbelastungszahl weist bei Jugendlichen und Her­anwachsenden die höchsten Werte aller Altersgruppen auf. Bei Jugendlichen betrug diese im Be­zugsjahr 4.503 (-2,2% zum Vorjahr) und bei Heranwachsenden 5.527 (-4,6% zum Vorjahr) (vgl. BKA 2016, S. 13). Insgesamt lässt sich jedoch den Zeitreihen zur Entwicklung Tatverdächtiger ent­nehmen, dass in den letzten 15 Jahren die Zahl der Tatverdächtigen und auch die Tatverdächtigen­belastungszahl der Jugendlichen und Heranwachsenden kontinuierlich und dabei relativ deutlich ge­sunken und keineswegs - wie dies in politischen Debatten und den Medien häufig behauptet wird - gestiegen ist (vgl. ebd., S. 95).

Bei Jugendlichen im Alter von 14-18 Jahren war das am häufigsten begangene Delikt der Diebstahl ohne erschwerende Umstände (Ladendiebstahl) mit 29,0%. An zweiter Stelle folgten die Rausch­giftdelikte nach dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG) mit 17,7% aller insgesamt polizeilich regis­trierten Straftaten der Altersgruppe, wobei der Großteil der Straftaten sich auf Cannabis-Delikte be­zog. Am dritthäufigsten wurden bei Jugendlichen einfache vorsätzliche Körperverletzungen regis­triert (15,3%), gefolgt von Betrug (14,0%) und Sachbeschädigung (12,2%). An sechster Stelle folg- ten die gefährlichen und schweren Körperverletzungen mit 10,5% (vgl. ebd., S. 33). Dabei wurden 69,1% der tatverdächtigen Jugendlichen nur einmal im Bezugsjahr 2016 strafrechtlich auffällig, 26,2% wurden 2-5 Mal registriert, 3,0% 6-10 Mal, 1,2% 11-20 Mal und mehr als 20 Mal lediglich 0,43% (vgl. ebd., S. 113).

Bei den Heranwachsenden im Alter von 18-21 Jahren wurden am häufigsten Rauschgiftdelikte (BtMG) registriert (23,5%), wobei auch hier der Großteil in Zusammenhang mit Cannabis stand. An zweiter Stelle folgten die Betrugsdelikte mit 23,2%. Am dritthäufigsten wurde bei Heranwachsen­den ein Diebstahl ohne erschwerende Umstände (Ladendiebstahl) polizeilich angezeigt (18,2%). Es folgten vorsätzliche einfache Körperverletzungen (15,7%) vor den gefährlichen und schweren Kör­perverletzungen (10,4%) (vgl. ebd., S. 33). Dabei wurden 68,0% der tatverdächtigen Heranwach­senden nur einmal im Bezugsjahr 2016 strafrechtlich auffällig, 26,9% wurden 2-5 Mal registriert, 3,4% 6-10 Mal, 1,3% 11-20 Mal und mehr als 20 Mal nur noch 0,5% (vgl. ebd., S. 113).

2.3.2. Ergebnisse der Strafverfolgungsstatistik (SVS)

In der SVS - auch Verurteiltenstatistik genannt - wird einmal pro Jahr vom Bundesamt und den Lan­desämtern für Statistik über die gerichtlichen Verfahren berichtet. Dabei handelt es sich um eine Ar­beitsstatistik der Gerichte, welcher entnommen werden kann, in wie vielen Fällen ein Gerichtsver­fahren mit einer Einstellung, einer Verurteilung oder einer anderen endgültigen Verfahrenserledi­gung geendet hat (vgl. Riekenbrauk 2011, S. 36). In der vorliegenden Arbeit werden die Daten der SVS ergänzend genutzt, um auch die weitere Entwicklung der zuvor in der PKS erfassten und dort nicht weiter verfolgten Delikte von Jugendlichen und Heranwachsenden zu betrachten. Dabei wird auch ergründet, wie oft die einzelnen Sanktionierungsmaßnahmen, die im Verlauf der Arbeit noch ausführlich dargestellt werden, im Bezugsjahr 2015in der Praxis Anwendung gefunden haben.

Die SVS unterscheidet dabei die Begriffe „Abgeurteilte“ und „Verurteilte“. Verurteilte sind dem­nach Angeklagte, gegen die nach dem allgemeinen Strafrecht Freiheitsstrafe, Strafarrest oder Geld­strafe verhängt worden ist oder in Bezug auf die vorliegende Arbeit Jugendliche und Heranwach­sende, deren Straftat nach dem Jugendstrafrecht mit Jugendstrafe, Zuchtmitteln oder Erziehungs­maßregeln geahndet wurde. Abgeurteilte sind Angeklagte, gegen die Strafbefehle erlassen bzw. Strafverfahren nach Eröffnung des Hauptverfahrens durch Urteil oder Einstellungsbeschluss rechts­kräftig abgeschlossen worden sind. Die Zahl der Abgeurteilten setzt sich also zusammen aus den Verurteilten und zusätzlich den Personen, gegen die andere Entscheidungen (u.a. Einstellungen, Freispruch) getroffen wurden (vgl. Statistisches Bundesamt 2017, S. 13ff,).

Im Bezugsjahr 2015 wurden insgesamt 739.487 Personen vor deutschen Gerichten verurteilt. 31.341 davon waren Jugendliche, wobei 80,0% dieser Altersgruppe männlichen Geschlechts waren. Hinzu kommen 34.001 Heranwachsende, die nach Jugendstrafrecht verurteilt worden sind und 20.534, bei denen ein Urteil nach dem allgemeinen Strafrecht ausgesprochen wurde. Bei diesen bei­den Gruppen betrug der Männeranteil 85,4% bzw. 78,2%. Abgeurteilt wurden insgesamt 910.681 Personen, von denen 54.767 Jugendliche und 77.474 Heranwachsende waren (vgl. ebd., S. 16ff,).

Um diese Zahlen besser einordnen zu können, ist es sinnhaft, die „Verurteilungsziffem“ der SVS zu betrachten. Ähnlich wie bei der PKS werden hier auf Grund der Bevölkerungsschwankungen je­weils die absoluten Verurteiltenzahlen einer bestimmten Personengruppe auf 100.000 Einwohner derselben Bevölkerungsgruppe umgerechnet, um eine bessere Vergleichbarkeit zu ermöglichen. Es zeigt sich, dass Heranwachsende mit 1.837 auf 100.000 insgesamt die höchste Verurteilungsziffer aufweisen. Seit 2005, als der Wert bei 3.120 lag, ist dieser jedoch kontinuierlich und deutlich abge­sunken. Wenn nur die männlichen Heranwachsenden betrachtet werden, liegt die Ziffer im Jahr 2015 gar bei 2.950. An zweiter Stelle folgen Jugendliche mit einer Verurteilungsziffer von 859. Auch hier lässt sich seit 2005 ein kontinuierliches Absinken feststellen, wobei die Verurteilungszif­fer sich seitdem nahezu halbiert hat (2005: 1.662). Werden männliche Jugendliche gesondert be­trachtet, steigt die Ziffer der Verurteilten auf 1341 von 100.000 (vgl. ebd., S. 17.). Interessant ist es, einen Blick auf die Art der Straftaten zu richten, nach denen Jugendliche und Heranwachsende ab­geurteilt bzw. verurteilt worden sind:

Jugendliche wurden im Bezugsjahr 2015 am häufigsten wegen Diebstahl und Unterschlagung abge­urteilt (31,2%), wobei sich dies zu 74,9% auf einen einfachen Diebstahl nach § 242 StGB bezog, gefolgt von Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit (19,6%), wobei etwa 53% dieser Delik­te einfache Körperverletzungen nach § 223 StGB und 45,5% gefährliche Körperverletzungen nach § 224 Abs. 1 StGB ausmachten. An dritter Stelle folgten bei Jugendlichen Straftaten nach dem BtMG (10,3%), gefolgt von Betrug und Untreue mit 9,7%. Heranwachsende wurden 2015 am häu­figsten wegen Betrug und Untreue (20,2%), Diebstahl und Unterschlagung (18,7%) - auch hier do­minierte mit 69,4% der einfache Diebstahl - sowie Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit (15,8%) und Straftaten nach dem BtMG (12,1%) abgeurteilt. Bei den Straftaten gegen die körperli­che Unversehrtheit waren 51,8% einfache Körperverletzungen und 43,6% gefährliche Körperverlet­zungen (vgl. ebd., S. 24).

Verurteilt wurden Jugendliche im Bezugsjahr 2015 ebenfalls am häufigsten wegen Diebstahl und Unterschlagung (31,7%) - davon 70,2% nach § 242 StGB -, gefolgt von Straftaten gegen die kör­perliche Unversehrtheit (20,8%) - davon 53,2% einfache und 45,6% gefährliche Körperverletzun­gen - sowie Straftaten nach dem BtMG (10,9%) und Betrug und Untreue (8,4%). Heranwachsende wurden mehrheitlich wegen Betrug und Untreue (19,8%), Diebstahl und Unterschlagung (19,4%), wobei der einfache Diebstahl wiederum 68,2% ausmachte, Straftaten gegen die körperliche Unver­sehrtheit (14,2%) - 54,7% entfielen auf einfache und 40,7% auf gefährliche Körperverletzungen - sowie Straftaten nach dem BtMG (13,0%) verurteilt (vgl. ebd., S. 25).

Von den insgesamt 103.720 Jugendlichen und Heranwachsenden, die nach dem Jugendstrafrecht ab­geurteilt wurden, wurden insgesamt 65.342 Personen verurteilt. Dies entspricht 63,0%. Bei den üb­rigen 38.378 Personen wurden andere Entscheidungen getroffen. Hierbei handelt es sich hauptsäch­lich um Verfahrenseinstellungen. So wurden im Bezugsjahr 2015 insgesamt 32.599 Diversionen nach § 47 JGG durch die Jugendrichterinnen durchgeführt. Etwa ein Drittel aller Aburteilungen nach dem JGGwurden also durch diese Einstellungsform beendet. Die zu Grunde liegenden Strafta­ten waren dabei hauptsächlich Diebstahl und Unterschlagung (25,7%), Straftaten gegen die körper­liche Unversehrtheit (16,9%), Betrug und Untreue (16,2%) und Straftaten nach dem BtMG (10,4%). Hinzu kamen außerdem 3.553 Diversionen nach § 45 Abs. 3. Hier handelte es sich häufig um Dieb­stahl und Unterschlagung (22,4%), BtMG Verstöße (19,8%) sowie Verkehrsdelikte (13,6%). Diver­sionen nach § 45 Abs. 1, 2 JGG werden hier nicht aufgeführt, da diese schließlich im Vorfeld eines gerichtlichen Verfahrens erfolgen. Des Weiteren gab es im Bezugsjahr 2015 bei Aburteilungen nach dem JGG 2.331 Freisprüche und 1.987 Aussetzungen der Entscheidungen zur Bewährung nach § 27 JGG. Als marginale andere Entscheidungen lassen sich noch selbständige Maßregeln (43) und Überweisungen an den Vormundschaftsrichter (10) nennen (vgl. ebd., S. 59).

Bei den 65.342 Jugendlichen und Heranwachsenden, die nach Jugendstrafrecht verurteilt wurden, sah die Verteilung der Sanktionen wie folgt aus: Am häufigsten wurden nur Zuchtmittel verhängt (47,3%). An zweiter Stelle folgte eine Kombination aus Zuchtmitteln und Erziehungsmaßregeln (24,7%). Die Jugendstrafe machte 14,5% der Urteile aus. Nur Weisungen wurden in 11,9% der Fäl­le einer Verurteilung angeordnet. Als Marginalitäten seien noch Jugendstrafe in Kombination mit Zuchtmitteln (1,1%), Jugendstrafe und Erziehungsmaßregeln (0,3%) und eine Kombination aller drei Sanktionsarten mit 0,2% erwähnt (vgl. ebd., S. 93).

Bei den Zuchtmitteln dominierte in Bezug auf die Arresttypen der Dauerarrest (51,2%), vor dem Freizeitarrest (35,9%), dem Kurzarrest (7,3%) und dem sog. „Wamschussarrest“ nach § 16a JGG (5,6%). Bei den Auflagen als Zuchtmittel dominierten Arbeitsleistungen (68,2%), gefolgt von der Zahlung eines Geldbetrages (25,9%) und der Wiedergutmachung (5,1%). Es folgten die Arbeitsleis­tungen mit Entschuldigung (0,5%) und die Entschuldigung (0,3%). Die Verwarnung machte 27,4% aller Zuchtmittel aus. Bei den Erziehungsmaßregeln dominierten deutlich die Weisungen (99,3%), gefolgt von der Erziehungsbeistandschaft (0,6%) und der Heimerziehung (0,1%) (vgl. ebd., S. 314f,). Darüber wie sich die Häufigkeitsverteilung innerhalb der Weisungen gestaltete, gibt die SVS leider keine gesonderte Auskunft. Von den 10.550 Jugendstrafen wurden 6.383 mit und 4.167 ohne Bewährung ausgesprochen. Der Zeitraum, den diese Jugendstrafen mit und ohne Bewährung um­fassten, war in 36,5% der Fälle 1-2 Jahre. Es folgten mit 19,9% unbedingte und bedingte Jugend­strafen von 9-12 Monaten, mit 16,3% jene von 6-9 Monaten und schließlich mit 12,4% solche, die auf sechs Monate verhängt wurden. Unbedingte Jugendstrafen von 2-3 Jahren wurden in 9,3%, Ju­gendstrafen von 3-5 Jahren in 4,4% und Jugendstrafen von 5-10 Jahren in 7,9% der Verurteilungen verhängt (vgl. ebd., S. 288f,). Von den 65.342 nach Jugendstrafrecht Verurteilten waren 28.592 Per­sonen bereits zuvor schon verurteilt worden. Davon 42,6% einmal, 24,5% zweimal, 23,5% drei oder viermal und 9,5% fünfmal oder öfter (vgl. ebd., S. 460f,).

2.3.3. Zusammenfassung der Befunde

Sollen die empirischen Befunde von PKS und SVS nun interpretiert werden, fällt auf, dass Jugend­liche und Heranwachsende in Relation zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung Deutschlands verhältnismäßig am häufigsten strafrechtlich in Erscheinung treten und auch abgeurteilt bzw. verur­teilt werden. Das istjedoch nicht verwunderlich, dennjunge Menschen werden injeder Gesellschaft und zu allen Zeiten insgesamt gesehen deutlich häufiger kriminell als Erwachsene (vgl. Heinz 2016). Dies ist eins der ganz wenigen Axiome in der Erforschung von Jugendkriminalität (vgl. Mei­er 2005, S. 5). Trotzdem sinken die Zahlen von tatverdächtigen und abgeurteilten bzw. verurteilten Jugendlichen und Heranwachsenden seit Jahren kontinuierlich. Dies wird häufig in Medien und Politik anders dargestellt. Auch eine „neue Qualität“ der Jugendkriminalität, also eine zunehmende Brutalisierung, von der häufig gesprochen wird, kann durch Befragungen des Hell- und Dunkelfel­des nicht bestätigt werden. Die Kriminalitätsbelastung und Verurteilungsziffer von Frauen ist in al­len Altersgruppen dabei erheblich geringer als die derjeweiligen Männer. Bei den Jugendlichen und Heranwachsenden ist dies besonders ausgeprägt. Jugendkriminalität lässt sich also auch als „Jun­genkriminalität“ bezeichnen. Mit der Schwere des Deliktes wächst der männliche Täteranteil (vgl. Heinz 2016). Bei Männern liegt die kriminelle Höchstbelastung im Alter von 18-21 Jahren und da­mit deutlich später als bei Mädchen, wo diese zwischen 14-16 Jahren liegt (vgl. Ostendorf 2015, S. 29). Es hat sich jedoch gezeigt, dass die begangenen Gesetzesverstöße von Jugendlichen und Her­anwachsenden in der Regel Delikte der Kleinkriminalität sind. Dabei ist Jugendkriminalität zumeist weniger schadenintensiv und sehr viel einfacher zu ermitteln als die der Erwachsenen, da die Delik­te häufig in der Öffentlichkeit und ohne Verschleierungen begangen werden (vgl. Walter/Neubacher 2011, S. 27).

Jedoch dürfen die genannten Statistiken nicht darüber hinwegtäuschen, dass die registrierten Delikte der Gewaltkriminalität in den letzten Jahren in Deutschland insgesamt wieder zunehmen und gerade auch bei Jugendlichen und Heranwachsenden nicht zu unterschätzen sind. Die Kategorie Gewaltkri­minalität umfasst nach der sehr weiten Definition der PKS die Straftaten Mord, Totschlag und Tö­tung auf Verlangen, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung, Raub, räuberische Erpressung und räu­berischer Angriff auf Kraftfahrer, Körperverletzung mit Todesfolge, gefährliche und schwere Kör­perverletzung, Verstümmelung weiblicher Genitalien, erpresserischer Menschenraub, Geiselnahme und Angriffe auf den Luft- und Seeverkehr. Gerade die registrierten Fälle der schweren und gefähr­lichen Körperverletzungen nehmen dabei in den vergangenen Jahren zu. Die Heranwachsenden weisen die höchste Tatverdächtigenbelastungszahl bei Gewaltkriminalität auf, die Jugendlichen fol­gen nach den jungen Erwachsenen zwischen 21-25 Jahren auf Platz drei. Auch wenn die Mehrzahl der registrierten Delikte von Jugendlichen und Heranwachsenden also der Kleinkriminalität zuge­rechnet werden können, darf diese Tendenz nicht vernachlässigt werden. Berücksichtigt werden muss jedoch, dass die gefährliche Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB bspw. auch die gemeinschaftliche Begehung mit anderen Beteiligten umfasst. Dies ist schließlich eine besonders jugendtypische Konstellation. Ein Anstieg an Gewaltdelikten ist also nicht wegzudiskutieren, relati­viert sichjedoch in seinem Ausmaß (vgl. Meyer 2015, S. 10).

Auch ist es bei der Analyse der Befunde wichtig, noch einmal anzumerken, dass durch die Zahlen der PKS und der SVS nur ein einigermaßen zuverlässiges Bild vom wirklichen Umfang der Jugend­kriminalität gewonnen werden kann. Schließlich handelt es sich bei den Statistiken nur um die Hell­feldkriminalität, also nur jene Delikte, die überhaupt angezeigt und polizeilich registriert werden. Die dahinterliegende Dunkelfeldkriminalität ist mit zum Teil erheblichen Unterschiedenje nach Art des Deliktes wesentlich größer. Eine Aufhellung der amtlichen Statistiken hat dabei die neuere deut­sche und ausländische „Dunkelfeldforschung“ zum Ziel, bei der Täterinnen und Opfer (zumeist Schülerinnen) befragt werden. Diese hat im Kern ergeben, dass es bei den bis dato nicht strafrecht­lich auffällig gewordenen Jugendlichen und Heranwachsenden nur wenige gibt, die bei anonymen Befragungen angeben, bisher nicht auch schon eine oder mehrere Straftaten begangen zu haben. Zu­meist handelt es sich dabei - wie es sich auch bei den registrierten Delikten von Jugendlichen und Heranwachsenden gezeigt hat - um relativ leichte Vergehen, an die sich mehr oder weniger jeder aus der eigenen Jugend erinnern wird, z.B. Hausfriedensbruch oder Sachbeschädigung, Fahren ohne Führerschein oder unter Alkoholeinfluss, kleinere Diebstähle, „Schwarzfahren“ und vergleichbare Gesetzesverstöße. Oft wird diese eher harmlose Kriminalität nicht angezeigt, weswegen die Straf­verfolgungsorgane keine Kenntnis hiervon erhalten (vgl. Schaffstein/Beulke/Swoboda 2014, S. 13f,). Von echter Kriminalität kann bei diesen Bagatellstraftaten von Jugendlichen und Heranwach­senden dabei kaum gesprochen werden. Vielmehr wird von vielen Fachleuten aus den empirischen Befunden der Dunkelfeldforschung und der Überrepräsentation von jungen Menschen in den Zah­len des Hellfeldes geschlussfolgert, dass Kriminalität im Jugendalter geradezu ein ubiquitäres Phä­nomen ist, nur einen episodenhaften Charakter aufweist und sich am Ende der Passage Jugendalter in der Regel von selbst „verwächst“, ohne das staatliche Eingriffe hierzu notwendig wären. Baga­tellstraftaten stellen nach diesem Ansatz vorübergehende Entgleisungen dar, die in der Entwicklung bei fast allen jungen Menschen mit der Einordnung in das soziale Leben verbunden sind. Dabei hat auch die Dunkelfeldforschung eine größere Belastung von männlichen Jugendlichen gegenüber weiblichen ergeben, wenn auch die Unterschiede weniger ausgeprägt sind als in den amtlichen Sta­tistiken (vgl. ebd., S. 6ff,). Kriminalität bei jungen Menschen ist - vor allem wenn sie männlichen Geschlechts sind - also eher die Regel als die Ausnahme und statistisch anormal ist eher der Um­stand, dabei erwischt zu werden (vgl. Dollinger/Schabdach 2013, S. 10). Die Trias der Jugendkrimi­nalität lautet also zusammengefasst: bagatellhaft, ubiquitär, passager (vgl. Ostendorf 2015, S. 29).

Folgt man dieser These sind staatliche Sanktionen für die Vielzahl jugendlicher Straftäterinnen überflüssig und schaden meist mehr als sie nützen (z.B. durch stigmatisierende Effekte). Ausge­nommen ist dabei die Gruppe jugendlicher Mehrfach-und Intensivstraftäterinnen, bei denen die kri­minellen Neigungen sich verfestigt haben und ohne staatliche Eingriffe kriminelle Karrieren zu be­fürchten sind. Diese Gruppe ist jedoch vergleichsweise klein (vgl. Walter/Neubacher 2011, S. 28). Dies konnte auch durch die Statistiken angedeutet werden. Eine einheitliche Definition für diese ei­gentliche Problemgruppe gibt es dabei nicht. Überwiegend werden als Mehrfach bzw. Intensivtäte­rinnen solche gesehen, die innerhalb eines Jahres 3-5 Straftaten begangen haben (vgl. Ostendorf 2015, S. 29f,). Obwohl diese Gruppe lediglich 5-10% aller jugendlichen Straftäterinnen ausmacht, werden ihr 50% aller Straftaten der Altersgruppe zugerechnet. Selbst bei den Mehrfachtäterinnen enden die kriminellen Karrieren jedoch überwiegend nach zwei bis drei Jahren, spätestens nach fünf Jahren. Intensivtäterinnen, die ihre im Jugendalter begonnene Kriminalität bis jenseits des 30. Le­bensjahres fortführen, sind also äußerst selten (vgl. Meyer 2015, S. 13).

3. Einführung in das Jugendgerichtsgesetz

Das Jugendstrafrecht ist „ein Sonderstrafrecht für junge Täter, die sich im Übergangsstadium zwi­schen Kindsein und Erwachsenenalter befinden“ (Hetger 2014, S. 18). Die Grundlage des Jugend­strafrechts bildet das JGG. Dieses enthält die Besonderheiten im staatlichen Umgang mit Kriminali­tät von jungen Menschen (vgl. Riekenbrauk 2011, S. 193). Im Folgenden wird eine kurze Einfüh­rung in das JGG gegeben. Dabei wird zunächst die historische Entwicklung und der Anwendungs­bereich dieses Gesetzes kurz skizziert. Anschließend wird eine Abgrenzung zum Erwachsenenstraf­recht vorgenommen, wobei hauptsächlich die unterschiedlichen Zielsetzungen beleuchtet werden. Abschließend wird grob dargestellt, wie das JGG inhaltlich systematisiert ist.

3.1. Historische Entwicklung

Bereits in der Antike, im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit gab es einzelne Aspekte einer Son­derbehandlung junger Straftäterinnen, wenn auch der Umgang mit sozial auffälligen jungen Men­schen noch lange geprägt war durch rigide Disziplinierung und harte körperliche Züchtigung (vgl. Dollinger/Schabdach 2013, S. 21f,). Dem heutigen JGG liegt dabei ebenfalls ein langer historischer Entwicklungsprozess zu Grunde. Die Entwicklung von jugendkriminalrechtlichen Regelungen er­folgte dabei phasenweise, wobei für Deutschland derartige zeitliche Abschnitte seit der Reichsgrün­dung 1871 benannt werden können (vgl. Walter/Neubacher 2011, S. 28).

Im Deutschen Reich trat nach dem Reichsstrafgesetzbuch (RstGB) die Strafmündigkeit mit dem 12. Lebensjahr ein und sah für junge Menschen bereits „geeignete Maßregeln“ jenseits der Schuldver­geltung vor. Darauf aufbauend entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten einejugendstrafrecht­liche Reformbewegung, die weitreichendere Sonderbehandlungen für junge Menschen zum Ziel hatte (vgl. ebd., S. 28). Als historischer Ausgangspunkt für diese Reformbestrebungen im Umgang mit straffälligenjungen Menschen gilt die Analyse der Befunde der damaligen Reichskriminalstatis­tik durch den deutschen Rechtswissenschaftler Franz von Liszt, der als Begründer der „modernen“ deutschen Strafrechtsschule gilt. Seine Kritik richtete sich vor allem an der damals im Wesentlichen auf Freiheitsentzug setzenden Sanktionspraxis.

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Ende der Leseprobe aus 83 Seiten

Details

Titel
Zwischen Diversion und Jugendknast. Eine kritische Betrachtung der staatlichen Sanktionen des Jugendgerichtsgesetzes für jugendliche und heranwachsende Straftäter
Hochschule
Hochschule Koblenz (ehem. FH Koblenz)
Note
1,0
Autor
Jahr
2018
Seiten
83
Katalognummer
V421591
ISBN (eBook)
9783668741409
ISBN (Buch)
9783668741416
Dateigröße
884 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Jugendkriminalität, Jugendstrafrecht, Jugendgerichtsgesetz, empirische Sanktionsforschung, Legalbewährung, Soziale Arbeit
Arbeit zitieren
Marcel Riepegerste (Autor:in), 2018, Zwischen Diversion und Jugendknast. Eine kritische Betrachtung der staatlichen Sanktionen des Jugendgerichtsgesetzes für jugendliche und heranwachsende Straftäter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/421591

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