Zeitdarstellung in "Momo" von Michael Ende


Hausarbeit, 2018

17 Seiten, Note: 1,0

Tim Lerner (Autor:in)


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Zeitdarstellung in „Momo“
2.1 Zeiterleben ausgewählter Figuren
2.2 Zeitverständnis
2.3 Zeitliche Rahmen

3. Fazit

Literatur

1. Einleitung

Es gibt Diebe, die nicht bestraft werden und dem Menschen doch das Kostbarste stehlen: die Zeit!“

(Napoleon Bonaparte)[1]

Denken wir heute an Zeitdiebe, so wird vielen die Geschichte von „Momo“ einfallen, welche diese sogar mit im Titel trägt. Doch was stehlen diese Diebe eigentlich genau? Zahlreiche Autoren und Wissenschaftler haben versucht diese bereits von Augustinus aufgeworfene Frage zu beantworten. Beteiligt an der Zeitalter und Kulturen übergreifenden Debatte waren u.a. so unterschiedliche Disziplinen wie die Philosophie (Augustinus und Platon), die Physik (Einstein und Hawking) und die Psychologie (Piaget). Trotz all dieser Anstrengungen muss der ontologische Status der Zeit jedoch ungeklärt bleiben. Ist sie nun „objektiv, meßbar und folglich unabhängig, oder existiert sie schlichtweg gar nicht?“ - wir wissen es nicht. Diese Hausarbeit widmet sich der Beantwortung dieser Frage anhand einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung der Zeitdarstellung in „Momo“.

Als methodisches Vorgehen wurde ein induktives Verfahren gewählt. Es wird davon ausgegangen, dass dem Leser oder der Leserin die Geschichte von Momo bekannt ist, weshalb eine Wiedergabe des Inhalts unterbleibt und allein diejenigen Aspekte der Geschichte untersucht werden, welche mit Bezug auf die Zeitdarstellung zentral sind.

Das subjektive Erleben der Figuren in dem Roman ist zutiefst geprägt von ihrem individuellen Erleben von Zeit. Daher wird zunächst anhand von ausgewählten Figuren untersucht, wie diese Zeit im Verlauf des Romans erleben (Kapitel 2.1). Anschließend wird herausgearbeitet, welches Zeitverständnis dem Buch insgesamt zugrunde liegt (Kapitel 2.2) und der zeitliche Rahmen des Buches betrachtet (Kapitel 2.3). Zum Schluss werden die Ergebnisse in einem Fazit zusammengefasst und eingeordnet.

2. Zeitdarstellung in „Momo“

2.1 Zeiterleben ausgewählter Figuren

Momo besitzt nicht viele Güter, doch sie ist reich an Zeit[2], etwas das in Momos Erleben gerade kein knappes Gut ist, mit welchem rational gewirtschaftet werden müsste um es möglichst effizient und ressourcenschonend zu nutzen. Vielmehr ist Zeit für sie schlicht stets verfügbar. Sie hat „so viel Zeit […], wie [sie] nur will“[3]. Trotz diesem Zustand kommt für sie im Alltag keine Langeweile auf. So weiß sie lange etwa gar nicht, wie sich diese überhaupt anfühlt[4]. Einzig als ihr von den grauen Herren eine Puppe zum Spielen zugespielt wird, das sogenannte „Bibigirl“, entsteht bei ihr Langeweile[5]. Der Vorschlag man könne das unangenehme Gefühl vertreiben, indem man der Puppe weitere Kleidung und anderes Zubehör kaufe, will Momo nicht recht überzeugen. Als Grund für ihr Desinteresse benennt sie: „man kann sie nicht lieb haben“[6]. Hiermit deutet sie auf einen entscheidenden Punkt hin, nämlich ihre Zeitverwendung.

Momo nutzt ihre Zeit, um sie anderen Menschen zu schenken[7]. Als besonders herausragende Eigenschaft wird ihr zugeschrieben, dass sie anderen Menschen außerordentlich gut zuhören kann. Sie redet dabei nicht selbst, sondern „hört […] einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und Anteilnahme“[8], ist selbst in dem Moment präsent und ermöglicht so den Personen, welchen sie zuhört, Zugang zu ihren eigenen, ganz individuellen, Gefühlen zu erhalten[9]. Sogar Streit kann sie damit lösen, etwa den zwischen dem Maurer Nicola und dem Lokalinhaber Nino. Der Schlüssel in Momos Verhalten bei der Mittlerrolle in dem Disput wird dabei so beschrieben: „Sie wartete einfach ab, was geschehen würde. Manche Dinge brauchen ihre Zeit – und Zeit war ja das Einzige, woran Momo reich war“[10]. In der Folge werden Nicola und Nino dazu gezwungen selbst über die Gründe ihres Streits nachzudenken und finden selbst zu einer Lösung. Dadurch also, dass sich Momo Zeit für ihre Mitmenschen nimmt, ermöglicht und erfährt sie soziales Zusammenleben, Empathie, Individualität und Kreativität.

Ihre subjektive Erfahrung der Zeit steht dabei im Verlauf des Romans auffällig häufig in direktem Widerspruch zu einer objektiv messbaren Zeit. So wie Momo sie erfährt, ist sie gerade nicht einfach „das, was man an der Uhr abliest“[11], wie Einstein einmal sagte. An vier Stellen zeigt sich dieser Widerspruch zwischen subjektiv erlebter und objektiv messbarer Zeit besonders deutlich, wobei die Diskrepanz jeweils unterschiedliche Gründe hat. Erstens wird sie deutlich nachdem Momo aus dem einjährigen Schlaf erwacht, in welchen sie Meister Hora geschickt hat: „Sie konnte nicht wissen, dass sie vergeblich auf ihre Freunde wartete, dass sie sehr lange fort gewesen war und dass die Welt sich inzwischen verändert hatte“[12]. Später wird diese Darstellung noch so ergänzt: „Sie hatte nicht bedacht, wie viel Zeit das sein mochte, als sie zugestimmt hatte. Aber nun begann sie es zu ahnen“[13]. Erst durch ihre subjektive Erfahrung erhält die messbare Zeit also für Momo Bedeutung und Sinnhaftigkeit. Zweitens wird der genannte Widerspruch deutlich, als Momo, ebenfalls nach ihrem einjährigen Schlaf, einen Brief von Gigi Fremdenführer im Amphitheater findet und liest. „Momo, die beim Lesen des Briefes Gigi ganz deutlich vor sich gesehen hatte, kam nicht auf den Gedanken, dass dieser Brief schon fast ein Jahr hier lag“[14]. In Momos Erleben ist der Briefinhalt gelöst von zeitlicher und räumlicher Bindung und statt Vergangenheit lebendige Gegenwart. Das geschriebene Wort kann für sie Vergangenheit zu Gegenwart werden lassen. Auch an der dritten Stelle findet für Momo ein Erleben von Vergangenheit in der Gegenwart statt, diesmal jedoch in der Form einer Erinnerung an und mit Musik: „Eines verließ sie nicht in all dieser Zeit: die lebendige Erinnerung an das Erlebnis bei Meister Hora, an die Blumen und die Musik. Sie brauchte nur die Augen zu schließen und in sich hineinzuhorchen, so sah sie die glühende Farbenpracht der Blüten und hörte die Musik der Stimmen. Und wie am ersten Tag konnte sie die Worte nachsprechen und die Melodien mitsingen, obgleich diese sich immerfort neu bildeten und niemals die gleichen waren[15] “. Die Vergangenheit erscheint in diesem Fall keineswegs abgeschlossen und dem Zugang in der Gegenwart versiegelt. Momo kann sie durch die Erinnerung stets auf das Neue erleben, wobei die Erinnerung niemals die gleiche zu sein scheint. Die vierte Stelle, an welcher der Widerspruch deutlich wird, findet sich, als Momo im dritten Teil des Buchs von ihren Freunden isoliert, stets auf der Suche nach ihnen, Einsamkeit erfährt. „Es waren nur einige Monate, die so vergingen – und doch war es die längste Zeit, die Momo je durchlebte“[16]. Entscheidend für die erlebte Länge der Zeit ist hier nicht die Quantität der vergangenen Tage, sondern die Qualität der erlebten Zeit, nämlich die Einsamkeit, welche die Tage für Momo länger zu machen scheint.

Die Vorstellung einer messbaren Zeit ist Momo derartig fremd, dass sie nach ihrem eigenen Alter gefragt zunächst „Hundert“ und anschließend „Hundertzwei“ antwortet, was damit erklärt wird, „dass das Kind nur ein paar Zahlwörter kannte, die es aufgeschnappt hatte, sich aber nichts Bestimmtes darunter vorstellen konnte“[17]. Für sie von Bedeutung ist allein, „was subjektiv erlebt, erlitten, erfahren und verarbeitet wird“[18].

Mit Blick auf das Zeiterleben der Kinder in Momos Umfeld ist besonders auffällig, dass ihr Spiel durch die Teilnahme von Momo an Qualität gewinnt. So wird im ersten Kapitel beschrieben wie sie ein Zukunftsschiff spielen wollen, doch „sie konnten sich nicht recht einig werden, und das Spiel kam nicht in Fluss“[19]. Mit der Ankunft Momos jedoch kann das Spiel beginnen und wird in den folgenden zehn Seiten, also unter Aufwendung von enorm viel Erzählzeit, detailliert beschrieben, wobei eine Form des zeitdeckenden Erzählens[20] genutzt wird, die Spielhandlungen szenisch wiedergeben werden. Dies ist besonders zu erwähnen, da diese Erzählgeschwindigkeit im Vergleich zum Rest des Romans hochgradig aus dem Rahmen fällt. Eine mögliche Interpretation dieser Textstelle besteht darin, dass das Spiel der Kinder, auch wenn es in der Zukunft spielen soll, doch erst dadurch möglich wird, dass sie es in der Gegenwart, in „Echtzeit“ erfahren und gedanklich nicht zu weit in die Zukunft abschweifen. So stellt auch Kaminski in Bezug auf die Darstellung des Zeiterlebens der Kinder fest, dass die „Kinder [...], bergen noch alle Möglichkeiten in sich, sind auf Zukunft gerichtet, zugleich dem Ursprung nahe, [...] ihr (Er-)Leben ist auf den Augenblick gerichtet“[21].

Ein ganz eigenes Zeitempfinden und -philosophie, welche an diesen Gedanken anschlussfähig sind, weist Beppo Straßenkehrer auf. Er antwortet auf Fragen, welche ihm gestellt werden, nicht direkt, sondern nimmt sich viel Zeit „um niemals etwas Unwahres zu sagen“[22] - auch auf die Gefahr hin, dass der Gesprächspartner schon wieder vergessen hat, was seine Frage war, wenn er schließlich antwortet. Ein objektives Zeitverständnis ist ihm damit ebenso fremd wie es Momo ist, vielmehr kann er sich in der Tätigkeit des Nachdenkens so sehr vertiefen, dass er das Verstreichen der Zeit darüber vergisst.

Einen Eindruck seines Blicks auf den Zusammenhang von Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit bietet folgendes Zitat, in welchem er über seine Arbeit spricht:

„'Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang; das kann man niemals schaffen, denkt man.'

Er blickte schweigend vor sich hin, dann führ er fort: 'Und dann fängt man an, sich zu eilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedes Mal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst, und zum Schluss ist man ganz außer Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf man es nicht machen.'

Er dachte einige Zeit nach. Dann sprach er weiter: 'Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten.

Wieder hielt er inne und überlegte, ehe er hinzufügte: 'Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.'

Und abermals nach einer langen Pause fuhr er fort: 'Auf einmal merkt man, dass man Schritt für Schritt die ganze Straße gemacht hat.''[23]

Für Beppo Straßenkehrer ist es bei seiner Tätigkeit wichtig, gedanklich nicht zu sehr in die Zukunft zu schweifen. Seinen mentalen Fokus legt er auf den nächsten Schritt, also genau den Übergang, in welchem Zukunft zu Gegenwart wird. Die ferne Zukunft birgt für ihn hingegen die Quelle von Sorge und Krankheit, wenn man sich ihr zu sehr hingibt. Die Vergangenheit schließlich existiert in seiner Erzählung als Erlebnis innerhalb der Gegenwart – in Form der staunenden Erinnerung an eine gefegte Straße.

[...]


[1] Schwake, Anne/Schwake, Timotheus: Einfach Deutsch. Michael Ende. Momo. Paderborn Schöningh Verlag. 2013, S. 123.

[2] Ende, Michael: Momo oder Die Seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Ein Märchen Roman. 9. Auflage. Stuttgart: Thienemann. 2017, S. 18.

[3] Ende, Michael: Momo oder Die Seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Ein Märchen Roman. 9. Auflage. Stuttgart: Thienemann. 2017, S. 159.

[4] Vgl. ebd., S. 99.

[5] Vgl. ebd., S. 99.

[6] Vgl. ebd., S. 104.

[7] Vgl. ebd., S. 159.

[8] Vgl. ebd., S. 16.

[9] Vgl. ebd., S. 17.

[10] Vgl. ebd., S. 18.

[11] Schwake, Anne/Schwake, Timotheus: Einfach Deutsch. Michael Ende. Momo. Paderborn: Schöningh Verlag. 2013, S. 123.

[12] Ende, Michael: Momo oder Die Seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Ein Märchen Roman. 9. Auflage. Stuttgart: Thienemann. 2017, S. 192.

[13] Vgl. ebd., S. 211.

[14] Vgl. ebd., S. 213.

[15] Vgl. ebd., S. 239.

[16] Vgl. ebd., S. 240.

[17] Ende, Michael: Momo oder Die Seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Ein Märchen Roman. 9. Auflage. Stuttgart: Thienemann. 2017, S. 12.

[18] Jung, Werner: Zeitschichten und Zeitgeschichten. Essays über Literatur und Zeit. Bielefeld: Aisthesis Verlag. 2008, S. 23.

[19] Vgl. ebd., S. 26.

[20] Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 8. Auflage. München:C.H. Beck. 2009, S. 40.

[21] Kaminski, Winfred: Das Innenbild der Außenwelt. Annotationen zu den Kindergestalten im Werk Michael Endes. In: Freundeskreis des Instituts für Jugendbuchforschung Frankfurt (Hrsg.): Kinderwelten. Weinheim u.a.: Beltz. 1984. S. 72.

[22] Ende, Michael: Momo oder Die Seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Ein Märchen Roman. 9. Auflage. Stuttgart: Thienemann. 2017, S. 39.

[23] Ende, Michael: Momo oder Die Seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Ein Märchen Roman. 9. Auflage. Stuttgart Thienemann. 2017, S. 40-41.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Zeitdarstellung in "Momo" von Michael Ende
Hochschule
Universität Duisburg-Essen
Note
1,0
Autor
Jahr
2018
Seiten
17
Katalognummer
V420537
ISBN (eBook)
9783668684553
ISBN (Buch)
9783668684560
Dateigröße
527 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Momo, Zeit, Zeitdarstellung
Arbeit zitieren
Tim Lerner (Autor:in), 2018, Zeitdarstellung in "Momo" von Michael Ende, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/420537

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