Deeskalationsmanagement bei der Bayerischen Polizei

Kritische Analyse der rhetorischen und körperlichen Interventionstechniken zur Vermeidung von Eskalationsspiralen im polizeilichen Einsatz


Diplomarbeit, 2018

37 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Vorwort

Einleitung

1.1 Untersuchungsgegenstand
1.2 Exkurs: Polizei und Gewalt
1.3 Methode, Ansatz und Aufbau der Arbeit Rahmenbedingungen des polizeilichen Einschreitens

2.1 Rechtliche Grundlagen
2.1.1 Gesetzliche Vorgaben
2.1.2 Innerdienstliche Regelungen
2.2 Kommunikationspsychologische Grundlagen
2.2.1 Die fünf Axiome zwischenmenschlicher Kommunikation
2.2.2 Das Nachrichtenquadrat Forschungsfrage Untersuchung

4.1 Datenmaterial
4.2 Untersuchungsergebnisse
4.2.1 'Feindbild' Bürger oder: Die Einstellung ist Ausgangspunkt des Verhaltens
4.2.2 Herausforderung Kontaktphase oder: Erst die Beziehung, dann die Anordnung
4.2.3 Die Gesprächsführung oder: Es geht sicher nicht immer, aber es geht

5 Fazit

5.1 Deeskalation als elementarer Bestandteil der Polizeiarbeit
5.2 Themenwahl und Zugang

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abbildung 1: Nachrichtenquadrat nach Schulz von Thun: Der Sender übermittelt aus vier Mündern vier Teilbotschaften an den Empfänger, der sie mit seinen vier Ohren aufnimmt.

Abbildung 2: Gewalt gegen Polizeibeamte – Entwicklung einzelner Delikte

Abbildung 3: Graphische Gegenüberstellung der Versuche bei Körperverletzungsdelikten allgemein und der Versuche bei Körperverletzungen gegen Polizeibeamte

Vorwort

Im November 2010 suchten zwei Polizeibeamte in einem Mehrfamilienhaus in Schechen im Landkreis Rosenheim nach einem Mann, der zu einer psychiatrischen Untersuchung vorgeführt werden sollte. Von der Tochter des Hauseigentümers erhielten sie die Auskunft, dass der Mann nicht mehr in dem Haus wohne. Damit gaben sich die Beamten nicht zufrieden.

In der Folge eskalierte die Situation, so dass sich die Auskunftgeberin, ihr Mann und ihre Eltern am Ende zehn Einsatzkräften der Polizei gegenübersahen und – so die vier in dem Haus wohnenden Personen – von diesen angegriffen wurden. Der Vorfall machte zumindest bayernweit Schlagzeilen, nicht zuletzt auch deshalb, weil im Fokus der Ermittlungen immer nur die vier Schechener standen. Gegen sie wurde wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte ermittelt. Gegen die Beamten wurde nicht ermittelt.

Nur zehn Monate später ereignete sich im Bereich Rosenheim ein weiterer Fall von erheblicher Polizeigewalt. Der damalige Leiter der Polizeiinspektion Rosenheim brachte im September 2011 einen 15-Jährigen vor sich her schubsend auf dem Rosenheimer Herbstfest zur dortigen Polizeiwache und stieß ihn dort so heftig gegen die Wand, dass dem Jungen u. a. ein Zahn ausbrach[1].

In der Nacht zum 01. Januar 2013 kontrollierten Polizeibeamte in Wasserburg am Inn, wiederum im Landkreis Rosenheim, einen Jugendlichen. Ein vorbeikommender Passant sprach die Polizisten an und fragte sie, warum sie gerade einen Jugendlichen so barsch behandeln würden. Was dann geschah, stellte sich für das AG Rosenheim, vor dem der Fall später verhandelt wurde, wie folgt dar:

Der angeklagte Polizist sei aus dem Dienst-Kfz ausgestiegen, habe den Passanten zurückgeschubst und zusammen mit einem Kollegen versucht, ihn auf der Motorhaube festzuklemmen. Dabei sei der Kopf des Mannes gegen das Autodach geschlagen worden. Als er schon auf dem Boden gelegen habe, die Hände hinter dem Rücken gefesselt, seien ihm von dem Polizisten die Arme schmerzhaft nach oben und die Finger zurückgebogen worden.

Während der Fahrt zur Dienststelle habe der Beamte dem Mann dreimal mit der Faust an den Kopf geschlagen. Beim zweiten Schlag habe eine Augenbraue stark zu bluten begonnen. Dabei habe ihn der Polizist als "Drecksau" und "kleines Stück Scheiße" bezeichnet. In der Zelle sei der Mann weiter misshandelt worden.

Der Richter am Amtsgericht Rosenheim sah es als eindeutig erwiesen an, "dass der Beamte in der Neujahrsnacht 2013 den Passanten […] ohne Grund mit Handschellen gefesselt und festgenommen, blutig geschlagen und beleidigt hat." [2] Dabei ließ das Gericht in seiner Urteilsbegründung durchblicken, "dass es im Verfahren nicht nur massive Gewaltanwendung des Angeklagten festgestellt habe, sondern auch deutliche Bemühungen mehrerer Polizisten, den wahren Sachverhalt zu verschleiern." [3]

Der Fall in Schechen blieb für die beteiligten Beamten folgenlos. Im zweiten Fall, dem Übergriff auf den 15-jährigen Jungen, wurde der Polizeibeamte vor dem LG Traunstein rechtskräftig zu elf Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Im Juli 2017 entfernte ihn der Bayerische Verwaltungsgerichtshof rechtskräftig aus dem Dienst. Im dritten Fall verurteilte das AG Rosenheim den Polizisten zu zehn Monaten Haft auf Bewährung sowie zu € 5.000,-- Geldstrafe. Das Landgericht Traunstein hob das Urteil allerdings auf und stellte das Verfahren nach Zahlung einer Geldbuße ein.

Die Verfasserin dieser Arbeit hat während ihrer Schulzeit am Gymnasium Gars am Inn am Projekt-Seminar zur Studien- und Berufsorientierung teilgenommen. Ihr Schwerpunkt lag dabei auf der näheren Betrachtung des Berufs einer Polizeibeamtin im gehobenen Dienst. Bereits im Vorfeld dieses Seminars hatte sie 2010 ein Berufspraktikum bei der Polizeiinspektion Waldkraiburg absolviert.

2009 hat sie eine mehrstufige Mediatorenausbildung durchlaufen. Dabei wurde sie insbesondere in das Wesen eines Konflikts und in die Möglichkeiten, Konfliktsituationen möglichst zu deeskalieren, eingeführt. Anschließend durfte sie ihr theoretisches Wissen vier Jahre lang als Mediatorin im Dienst der Schulgemeinschaft praktisch erweitern.

Die Vorfälle in Schechen, Rosenheim und Wasserburg ereigneten sich während oder kurz nach der Zeit des Projekt-Seminars mit Schwerpunkt Polizei bzw. der Zeit als Mediatorin am Gymnasium Gars. Sie fanden außerdem in der weiteren Wohnumgebung der Verfasserin statt, die die Geschehnisse in Print- und Onlinemedien mitverfolgte und sich schon damals fragte, ob jeweils alle Register der gewaltfreien Konfliktbewältigung gezogen worden waren bzw., falls nein, welche Gründe dafür vorgelegen haben könnten.

Ihre Fragen blieben weitgehend unbeantwortet, weil Einzelheiten der Interaktion zwischen Beamten und Bürgern vor allem bis hin zu dem Zeitpunkt, ab dem Gewalt angewendet wurde, nicht in Erfahrung gebracht werden konnten. Sie können auch heute nicht in Erfahrung gebracht werden, denn rechtlich besteht keine Möglichkeit der Akteneinsicht und Polizeibeamte dürfen aufgrund ihrer Verpflichtung zur Amtsverschwiegenheit jedenfalls keine fallbezogenen Auskünfte geben. Über ihr taktisches Vorgehen dürfen sie sich gar nicht äußern.

Das damalige Interesse der Verfasserin am Polizeiberuf einerseits und an den Ansätzen für eine im besten Fall einvernehmliche Konfliktklärung in den dargestellten Fällen andererseits ist der Grundstein für diese Diplomarbeit.

1. Einleitung

1.1 Untersuchungsgegenstand

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem Deeskalationsmanagement bei der bayerischen Polizei. Deeskalation meint in diesem Zusammenhang "ein polizeiliches Verhalten, welches Verhalten in Konfliktsituationen nicht in Richtung des Austragens dieses Konfliktes mit Gewalt weiter fördert, sondern diese Entwicklung stagnieren lässt oder mindert." [4] Im Mittelpunkt stehen dabei die rhetorischen und körperlichen Interventionstechniken der Polizei. Denn sie sind die Werkzeuge, mit denen Eskalationsspiralen im polizeilichen Einsatz vermieden oder zumindest eingedämmt werden sollen.

Polizeiliches Handeln ist i. d. R. Eingriffshandeln, das dem Zweck dient, die öffentliche Sicherheit oder Ordnung aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. Hierzu müssen Polizisten bisweilen in die Rechte Dritter eingreifen und die notwendigen Maßnahmen treffen und umsetzen. Es liegt auf der Hand, dass solche Maßnahmen nicht in jedem Fall auf das Verständnis derjenigen treffen, gegen die sie sich richten. Polizeiliches Tätigwerden ist demnach konfliktanfällig.

Die PDV 100 'Führung und Einsatz der Polizei' bestimmt dazu: "Konfliktsituationen sind vorrangig mit den Mitteln der Kommunikation zu bewältigen:" [5] Mit Kommunikation meint die Dienstvorschrift die Sprache an sich sowie die zielgruppenorientierte und situationsgerechte Gesprächsführung. Damit zieht die PDV 100 auch eine Linie, die helfen kann, einen Bewertungsmaßstab für polizeiliches Handeln herauszubilden, nämlich den Übergang von der sprachlichen zur körperlichen Intervention, d. h. zur Anwendung von Gewalt.

Dabei wäre es nicht zielführend, die Umsetzung polizeilicher Maßnahmen mittels polizeilich ausgeübter Gewalt, dem sog. unmittelbaren Zwang[6], per se zu missbilligen. Als Ultima Ratio muss es diesen Weg geben, den der Gesetzgeber auch vorgesehen hat. Aber es darf eben nur der letztmögliche Weg sein, d. h., dass die Mittel der sprachlichen Intervention ausgeschöpft sein müssen oder erkennbar nicht mehr greifen können (z. B. bei einem unvermittelten Angriff mit einem Messer), bevor körperlich interveniert wird.

Festzuhalten ist aber doch, dass die Anwendung körperlicher Gewalt zwar nicht beweisend, aber doch indiziell dafür ist, dass zwischen Polizei und Bürger ein Aufschaukelungsprozess stattgefunden haben kann. Gewaltanwendung im polizeilichen Einsatzgeschehen bildet deshalb den Ausgangspunkt für die weitere Untersuchung. Von diesem Punkt aus sollen das jeweilige 'Vor'-Verhalten und die Kontextbedingungen festgestellt werden, die einen Aufschaukelungsprozess begünstigen können.

1.2 Exkurs: Polizei und Gewalt

Die Polizei kann als letztmögliches Mittel (legal) Gewalt anwenden, um erforderliche Maßnahmen durchzusetzen. Polizeiliche Gewaltanwendung kann also notwendig sein, sie ist aber auch problematisch. Denn wenn die Polizei einschreitet, ist es nicht selten ihre Aufgabe, z. B. bei Einsätzen wegen häuslicher Gewalt, gewaltsame Übergriffe zu beenden und Gewalt zurückzudrängen. Der polizeiliche Appell lautet also sinngemäß : "Hör auf mit der Gewalt! Lass das! Es gibt andere Wege, das zu regeln!" Um diesem Appell Gehör zu verschaffen, müssen Polizisten am Ende jedoch möglicherweise selbst Gewalt anwenden.

Schulz von Thun verdeutlicht die Problematik an einem Witz: "Ein Vater legt aufgebracht seinen Sohn über das Knie, der seinen jüngeren Bruder geknufft hatte. Während er ihn prügelt, ruft er: 'Ich werde dich lehren, Schwächere zu schlagen.'" [7] Damit erklärt Schulz von Thun, dass der Vater durch sein Vorbild seinem Sohn exakt das Gegenteil dessen lehrt, was er ihn eigentlich lehren will: Er lehrt ihn, Schwächere zu schlagen.

Es ginge zu weit, mit Blick auf dieses Beispiel zu behaupten, die Polizei würde durch Anwendung von Gewalt ein Verhaltensmodell für ihr Gegenüber sein und es so animieren, selbst Gewalt anzuwenden. Aber der von Schulz von Thun beschriebene Wirkzusammenhang lässt doch erkennen, dass Gewalt auf der einen Seite Gewalt auf der anderen Seite anstoßen kann. Hücker schreibt dazu bezogen auf das polizeiliche Einsatzgeschehen: "In Interaktionsprozessen zwischen Bürger und Polizei können sich Konflikte gegenseitig – zirkulär – aufschaukeln.“[8] Von dieser Dynamik ist auch die Anwendung legaler Gewalt nicht ausgenommen.

Hücker stellt damit einen Zusammenhang her, der in der massenmedialen, aber auch in der (polizei-)wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen 'Polizei und Gewalt' nach wie vor eher vermieden wird, nämlich den Zusammenhang zwischen der Gewalt durch und der Gewalt gegen Polizeibeamte.

Betrachtet man die Gewalt gegen und die Gewalt durch Polizeibeamte getrennt voneinander, ist die Herangehensweise linear. Auf der einen Seite gibt es den Aggressor, auf der anderen dessen Opfer. Je nach Betrachtungsweise sind Polizeibeamte und Bürger entweder Täter oder Opfer. Die Situation und die in ihr ablaufende Interaktion zwischen den Beteiligten bleiben dabei allerdings weitgehend außer Betracht. Auch Behr fordert hier ein Umdenken:

"Die situativen und strukturellen Kontextbedingungen werden in der Trennung der Diskurse in Gewalt gegen die Polizei […] und Gewalt durch die Polizei unterdrückt. Dabei wäre es klug und lauter, auch die Gewalt zwischen dem Staat und seinen Bürgern als Interaktionszusammenhang zu begreifen und miteinander zu verschränken. Nicht nur phänomenologisch, sondern auch diskursiv wäre es ein großer Gewinn, wenn man Gewaltinteraktionen untersuchen könnte, statt Gewalt isoliert und mit einer künstlich hergestellten Differenz in (nur) Täter und (nur) Opfer zu begreifen." [9]

Er plädiert dafür, den linearen Ansatz mit seiner Unterscheidung zwischen Ursache und Wirkung aufzugeben und stattdessen auf die Kreisförmigkeit der Interaktion zwischen Polizei und Bürger abzustellen. Klug wäre eine zirkuläre Betrachtung vor allem deshalb, weil sie geeignet ist, die Einordnung in einen oder mehrere handelnde Täter einerseits und in (passiv) erleidende Opfer andererseits aufzulösen.

Gerade Polizeibeamte können sich in schwierigen und gewaltbelasteten Einsatzsituationen, in denen sie es sind, die unter Druck geraten, nicht einfach auf eine Opferrolle zurückziehen. Denn die Polizei ist Trägerin des staatlichen Gewaltmonopols. Das bedeutet nicht nur, dass sie im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben Gewalt ausüben darf, sondern verlangt von ihr insgesamt einen professionellen und kompetenten Umgang mit Gewalt, auch mit der, die ihr begegnet. Das Recht, legitime Gewalt auszuüben, bedeutet in einem Rechtsstaat immer auch die Pflicht, Gewalt möglichst zu vermeiden bzw. zu deeskalieren. Dabei ist Deeskalation nach Hücker[10] zwar "nicht als selbständige Polizeiaufgabe zu verstehen. [Sondern] sie ist Bestandteil des bürgerorientierten, situationsgerechten Verhaltens und der rechtlich geforderten Verhältnismäßigkeit und des Grundsatzes des mildesten Mittels."

Lauter wäre es, Eskalation und Gewaltentstehung zwischen Polizei und Bürger vor dem Hintergrund der gegenseitigen Wechselwirkung von Zuständen und Verhaltensweisen der Beteiligten zu betrachten, weil so die öffentliche, aber auch die wissenschaftliche Diskussion lösungsorientierter sein könnte. So scheint sie mitunter interessengesteuert.

Werden die Ergebnisse aus den Untersuchungen zur Gewalt durch Polizeibeamte mit denen aus den Forschungen zur Gewalt gegen Polizeibeamte zusammengebracht, können sich neue Perspektiven ergeben, aus denen wiederum zusätzliche Lösungs- oder zumindest Verbesserungsansätze entwickelt werden können.

1.3 Methode, Ansatz und Aufbau der Arbeit

Die Gewalt zwischen Polizei und Bürger – und dazu zählt auch die legale körperliche Intervention durch Polizeibeamte – kann also ein Indiz dafür sein, ob die Polizei-Bürger-Interaktion eher gelungen oder eher missglückt ist.

Der Anwendung unmittelbaren Zwangs geht in der Regel ein Gespräch mit dem Betroffenen voraus. Das zeigt das Ergebnis einer im Jahr 2010 vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) durchgeführten Polizeibefragung zur Gewalt gegen Polizeibeamte[11]. Die von einem Übergriff unmittelbar betroffenen Beamten hatten dabei angegeben, dass es in durchschnittlich 75,4 % der Fälle vor diesem Übergriff ein Gespräch mit dem Bürger gab. Dieses Ergebnis ergänzt das KFN mit dem Hinweis, dass auch in den übrigen Fällen ein Gespräch stattgefunden haben kann, das von einem ebenfalls anwesenden, aber eben nicht unmittelbar von dem Übergriff betroffenen Beamten geführt worden sein kann[12].

Zwar bezieht sich die Untersuchung des KFN auf das Phänomen der Gewalt gegen Polizeibeamte, auf Fälle also, in denen es der Bürger ist, der Gewalt ausübt. Es gibt aber keinen Grund anzunehmen, dass Polizeibeamte ihrerseits die Gesprächsphase übergehen und direkt unmittelbaren Zwang anwenden.

Wenn also das Gespräch, die rhetorische Intervention, der körperlichen Intervention regelmäßig vorgelagert ist, die Polizei schließlich aber doch Gewalt anwendet, um eine Maßnahme durchzusetzen, konnte sie ihr Gegenüber mit sprachlichen Mitteln offenbar nicht in dem Maße beeinflussen, dass der Anordnung Folge geleistet worden wäre. Das bedeutet allerdings nicht, dass es nicht doch grundsätzlich möglich gewesen wäre, den von der Maßnahme Betroffenen auf dem Gesprächsweg dazu zu bewegen, das von ihm verlangte Verhalten zu zeigen.

Mit der Feststellung, dass eine andere Gesprächsführung möglicherweise zu einer Situationsklärung hätte beitragen können, die die Anwendung unmittelbaren Zwangs entbehrlich gemacht hätte, ist zugleich eine grundlegende Schwierigkeit benannt, die dann besteht, wenn man einzelne Interventionstechniken analysieren will: die Kausalität.

Denn wenn eine Interventionstechnik in einem Fall erfolgreich war, heißt das nicht, dass eine andere Technik in dem Fall nicht auch hätte erfolgreich sein können. Und wenn durch ein bestimmtes Einschreitverhalten eine Eskalation vermieden oder eingedämmt werden konnte, bedeutet das nicht, dass es in einer vergleichbaren Situation nicht doch zu einer Eskalation kommt. Selbst ein Verhalten, das sich einmal als wenig tauglich erwiesen hat, kann ein andermal der Schlüssel zu einer gewaltfreien Einsatzbewältigung sein.

Menschliches Verhalten und damit auch zwischenmenschliches Kommunikationsverhalten lässt also kein Kausalitätsurteil zu. Ein bestimmtes Verhalten (a) kann zwar – wie beabsichtigt – zum gewünschten Verhalten (b) führen, aber eben auch zu einem anderen Verhalten (c). Darüber hinaus kann das Verhalten (d) ebenfalls zum Verhalten (b) oder (c) führen. Ausgehend von der Kreisförmigkeit des Polizei-Bürger-Kontakts wird hier deshalb eine andere Methode gewählt. Sie stützt sich auf die Daten der polizeilichen Kriminalstatistiken und Ergebnisse der bereits erwähnten Polizeibefragung, die das KFN ausgewertet hat, um Befunde zu den Tätern, zu den betroffenen Polizeibeamten und zu den Übergriffssituationen (z. B. Ort, Tageszeit etc.) zu erhalten. Die einem Übergriff vorausgehenden Interaktionsabläufe zwischen Polizei und Bürger blieben dabei weitgehend außer Betracht. Lediglich einmal greift das KFN das Gespräch zwischen Polizei und Bürger auf und stellt dabei fest: "Möglicherweise ist die Strategie des vorhergehenden Gesprächs […] ein Weg, einen Übergriff zu vermeiden."[13] An diesem Punkt setzt die vorliegende Arbeit an.

Dazu werden nachfolgend zuerst die rechtlichen und dann die kommunikationspsychologischen Rahmenbedingungen des polizeilichen Einschreitens vorgestellt. Es folgt eine Zuordnung relevanter Erkenntnisse aus der Untersuchung des KFN zu den Bedingungen für gelingende Einsatzkommunikation, so dass festgestellt werden kann, wann und in welchen Zusammenhängen diese Bedingungen nicht erfüllt waren und eine gewaltfreie Einsatzbewältigung nicht gelungen ist. Daraus können sich Handlungsempfehlungen ableiten lassen, die eventuell in weiteren Untersuchungen überprüft werden könnten.

2. Rahmenbedingungen des polizeilichen Einschreitens

2.1 Rechtliche Grundlagen

Zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und Ordnung ist der Polizei das Recht übertragen, legitime Gewalt auszuüben. Sie ist also Trägerin des staatlichen Gewaltmonopols.

2.1.1 Gesetzliche Vorgaben

Der Begriff 'Polizei' im hier verwendeten Sinn umfasst nicht alle Polizeibediensteten, sondern nur diejenigen, die im Vollzugsdienst tätig sind[14]. Gemeint sind damit die "einer Laufbahn des Polizeivollzugsdienstes angehörenden Dienstkräfte der Polizei, die - nicht nur im innerdienstlichen Bereich (ohne Außenwirkung) - für Aufgaben im Sinn des Art. 2 [PAG] eingesetzt oder hierfür bereitgehalten werden." [15] Für den polizeilichen Vollzugsdienst dürfen nur Beamte verwendet werden[16],[17] Nicht unter diesen funktionellen Polizeibegriff fallen demnach beispielsweise Polizeiverwaltungsbeamte, Polizeiangestellte, die mit der Verkehrsüberwachung beauftragt sind, Beschäftigte der kommunalen Verkehrsüberwachung oder Angehörige der Sicherheitswachten.

Zu den Aufgaben der Polizei im oben beschriebenen Sinn gehören insbesondere

· die Abwehr von Gefahren, die allgemein oder im Einzelfall für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bestehen (Prävention)[18] und

· die Erfüllung der Aufgaben, die der Polizei durch andere Rechtsvorschriften übertragen sind[19]. Darunter fällt vor allem die Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten (Repression).

Zur Abwendung konkreter oder drohender Gefahren kann die Polizei in Rechte Dritter eingreifen. Sie bedarf hierzu allerdings spezieller Ermächtigungen, die in Art. 11 bis 29 PAG normiert sind. Greift die Polizei in Rechte Dritter ein, hat sie stets den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Maßnahmen dürfen den Einzelnen oder die Allgemeinheit also nicht mehr als unabdingbar notwendig beeinträchtigen, sie dürfen keinen Nachteil nach sich ziehen, der in Relation zum erstrebten Erfolg außer Verhältnis steht und sie dürfen nur solange andauern, bis ihr Zweck erreicht ist oder sich zeigt, dass er nicht erreicht werden kann[20].

Erfüllt die Polizei Aufgaben, die ihr durch andere Rechtsvorschriften zugewiesen sind, dann hat sie grundsätzlich die dort vorgesehenen Befugnisse. Regeln diese anderen Rechtsvorschriften die polizeilichen Befugnisse nicht, greifen die Befugnisnormen des PAG[21]. Auch dann, wenn die Polizei zur Erfüllung der Aufgaben, die ihr durch andere Rechtsvorschriften zugewiesen sind, in Rechte Dritter eingreift, gilt das mit Verfassungsrang ausgestattete Übermaßverbot.

[...]


[1] Merkur.de, Polizeigewalt, Zwei Taten erschüttern Rosenheim, München 2011, online verfügbar unter: https://www.merkur.de/bayern/ex-polizeichef-droht-rauswurf-2988128.html, zuletzt geprüft am 11.01.2018

[2] SZ.de, Bewährungsstrafe für Polizisten, Rosenheim, 2014; online verfügbar unter: http://www.sueddeutsche.de/bayern/polizeigewalt-in-bayern-bewaehrungsstrafe-fuer-polizisten-1.2148165, zuletzt geprüft am 11.01.2018

[3] s. Fn. 2

[4] Lorei C., Kocab K., Ellrich K., Sohnemann J., Kommunikation statt Gewalt, S. 21

[5] BayStMI, PDV 100, Führung und Einsatz der Polizei, S. 13

[6] Art 58 PAG

[7] Schulz von Thun F., Miteinander reden, S. 231

[8] Hücker F., Rhetorische Deeskalation, S. 22

[9] Behr R., Die Gewalt der Anderen oder: Warum es bei der aktuellen Gewaltdebatte nicht (nur) um Gewalt geht; in T. Ohlemacher & Jochen-Thomas Werner (Hrsg.): Empirische Polizeiforschung XIV: Polizei und Gewalt, Interdisziplinäre Analysen zu Gewalt gegen und durch Polizeibeamte, S. 177

[10] Hücker F., Rhetorische Deeskalation, S. 36

[11] An der Untersuchung des KFN haben sich die Bundesländer Berlin, Brandenburg, Bremen, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, Saarland, Schleswig-Holstein und Thüringen beteiligt. Bayern beteiligte sich vor allem auf Druck der Polizeigewerkschaften nicht. Das Ergebnis der Untersuchung ist zwangslos auf die Polizei in Bayern übertragbar

[12] Ellrich K., Baier D., Pfeiffer C., Gewalt gegen Polizeibeamte, Forschungsbericht Nr. 3, S. 26 f.

[13] Ellrich K., Baier D., Pfeiffer C., Gewalt gegen Polizeibeamte, Forschungsbericht Nr. 3, S. 28

[14] Art 1 PAG

[15] Ziffer 1 der Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums des Innern über den Vollzug des Polizeiaufgabengesetzes vom 28. August 1978 (MABl. S. 629), die zuletzt durch Bekanntmachung vom 2. Dezember 2002 (AllMBl. 2003 S. 4) geändert worden ist.

[16] Art 2 Abs 1 POG

[17] vgl. auch Art. 124 Abs. 2 S. 1 BayBG

[18] Art. 2 Abs. 1 PAG

[19] Art 2 Abs. 4 PAG

[20] Art. 4 PAG

[21] Art. 11 Abs. 4 PAG

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
Deeskalationsmanagement bei der Bayerischen Polizei
Untertitel
Kritische Analyse der rhetorischen und körperlichen Interventionstechniken zur Vermeidung von Eskalationsspiralen im polizeilichen Einsatz
Hochschule
Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Rechtspflege in Bayern - Hof
Note
2,0
Autor
Jahr
2018
Seiten
37
Katalognummer
V419021
ISBN (eBook)
9783668690899
ISBN (Buch)
9783668690905
Dateigröße
1153 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rhetorische Deeskalation, polizeilicher Einsatz, Eskalationsspiralen, Konflikt
Arbeit zitieren
Simone Wimmer (Autor:in), 2018, Deeskalationsmanagement bei der Bayerischen Polizei, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/419021

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